Dies ist keine Einladung, sondern ein Befehl. „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen!“ Die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach beginnt mit einem Imperativ. In der Interpretation durch die Chorgemeinschaft Neubeuern unter Leitung von Enoch zu Guttenberg hat er kategorische Wucht: Die Gestaltung der ersten Phrase gibt das Gesetz für alles, was kommt an diesem Karfreitag im Gasteig.
Guttenberg lässt ein Drama aufführen. Nach dem Höhe- und Endpunkt der Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu Christi nach Matthäus, dem Tod des Helden, trägt der Evangelist nach, was in diesem Moment mit der Welt geschah: „Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stück von oben an bis unten aus.“ Der Riss pflanzte sich fort: „Und die Erde erbebete und die Felsen zerrissen.“ Einen hochbewegten Duktus hat Bach dieser Partie des Evangelistenberichts eingeschrieben. Die Erschütterung erfasst den Chronisten, und zwar im objektiven Sinne existentieller, nicht bloß persönlicher Betroffenheit.
Wie dieser erste Niederschlag des Ereignisses ist die gesamte von Bach komponierte Passion, ist Passionsmusik überhaupt ein Nachbeben und Nachzittern. Und umgekehrt weist in jedem neuen Erzählen der aus der Bibel und dem Gottesdienst bekannten Geschichte der Anfang voraus auf der Ende: Der Riss geht schon durch die Welt, als Jesus noch auf Erden wandelt. Jedes Rezitativ, jeder Choral wird bei Guttenberg zu einem Vorbeben und Vorzittern. Vorhang auf: Das Drama nimmt Gestalt an in der Enthüllung von Gegensätzen.
In der Aufforderung, in die Totenklage einzustimmen, ist es der Gegensatz von laut und leise. Abrupt schwillt der Eingangsruf an und ab, als bediente der Dirigent den Lautstärkeregler einer Klangmaschine. Eine imposante Demonstration des Könnens des von Guttenberg gegründeten Chores, mit dem er nun fast schon ein halbes Jahrhundert lang arbeitet. Aber hat der Wechsel der Tonstärke an dieser Stelle jenseits der Einstimmung auf den Gestus der Kontrastdramaturgie auch etwas zu bedeuten? Die Aufforderung gewinnt an Dringlichkeit, indem sie den Zuhörern zusetzt. Gleichmaß wäre unangemessen.
Außerdem mag man daran denken, dass nicht alle Angesprochenen bereit sind, ihre Stimme zu erheben, da der Retter der Menschheit nicht von allen Menschen erkannt wird. Der Chor spielt in Bachs Passionen eine Doppelrolle: Im Wechsel verkörpert er die Menge der Juden, die Jesus den Henkern ausliefert, und die Gemeinde der Christen, die in der Reflexion über dieses Geschehen ihre eigene Schuld bekennt.

Die Zeichensprache des Dirigenten Guttenberg ist überdeutlich. Wenn er von seinen Solisten eine größere Lautstärke zu verlangen scheint, sehen seine Gesten manchmal geradezu bedrohlich aus. So dreht er sich zu Anke Vondung um, während der ersten Arie der Altistin, um zum Vers „Knirscht das Sündenherz entzwei“ die Faust zu ballen. Knirscht es ihm noch nicht genug? Gelegentlich ist schwer zu sagen, ob die Solisten Guttenbergs Signale der Verstärkung überhaupt sehen. Vielleicht sollte man sie eher seinem Anteil an der energischen Produktion von Intensität zuschlagen und ihre Adressaten jenseits des Podiums suchen: Sie geben dem Publikum Verständnishinweise in der Tradition der mittelalterlichen Armenbibel, der gemalten heiligen Geschichten an den Kirchenwänden. So ahmt Guttenberg in derselben Alt-Arie das „Tropfen meiner Zähren“ mit den Fingern nach.
Nun kann man, wenn man mag, dem Konzert auch mit geschlossenen Augen folgen, wie es einige der Solisten und auch viele der auf zwei Orchester verteilten Instrumentalisten tun, während sie pausieren. Aber auch wenn man über Guttenbergs gebärdensprachliche Unterstreichungen hinwegsieht, wirft sein Ansatz eine ähnliche Frage auf wie die weltweit gefeierten szenischen Fassungen der Passionen, die der Regisseur Peter Sellars mit Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern erarbeitet hat: Verlangt Bachs bildhafte, das heißt lautmalerische oder symbolische Rhetorik nach plastischer Ausgestaltung, oder droht damit die Gefahr der Verdopplung? Ist es auch denkbar, sie für sich sprechen zu lassen?
Als Beispiel eignet sich die Tenor-Arie nach dem Auftritt der falschen Zeugen: „Geduld! Wenn mich falsche Zungen stechen“. Wie weit soll der Sänger mit seiner Zunge einen Dolch nachbilden? Zum Glück ist Tilman Lichdi ein Meister des Legato. Großartig gelingt der Kontrast zwischen der pointierten Eröffnung und der unversehrten Linie der Verse „Ei so mag der liebe Gott / Meines Herzens Unschuld rächen.“ Entsprechend wechseln sich in der Begleitung durch die Gambe von Hille Perl ein attackierender Zugriff und eine gesangliche Tonbehandlung ab.
In Guttenbergs launig benanntem Orchester der KlangVerwaltung finden sich Mitglieder nicht nur von Münchner Orchestern zusammen; manchmal spielen berühmte Solisten mit. Man möchte sich vorstellen, dass die Probenarbeit in einem solchen kontinuierlichen Ad-hoc-Projekt teilweise durch persönliche Vertrautheit und teilweise durch Spontaneität geprägt wird.
Beides begünstigt wohl eine Spielfreude, die Guttenberg in den Dienst am Aufrauen der Oberflächen nimmt. Ein Brausen erhebt sich, als Jesus mit „Wahrlich, ich sage euch“ den Jüngern voraussagt, dass man sich in der ganzen Welt an die Frau erinnern wird, die ihn mit teurem Wasser gewaschen hat. Peitschender Streicherregen füllt den Kelch, dessen Bitterkeit der Bassist im Rezitativ vor seiner Arie „Gerne will ich mich bequemen“ kostet. Diese Arie, das Gelöbnis, „Kreuz und Becher anzunehmen“, kann man dann beinahe ein Trinklied nennen, so ekstatisch wirft sich das Orchester hinein, trittsicher torkelnd.
Aus dem Solistensextett ragt Anke Vondung heraus. Allerdings tut sich in den Alt-Arien ein Kontinent der Kontemplation auf; hier findet Guttenbergs aktivistische Ästhetik der expressiven Modellierung eine natürliche Grenze.
Ihre größte Wirkung entfaltet Guttenbergs Gegensatztechnik in den Chorälen, zumal auf dem Gebiet des Tempos, in der Dehnung und Stauchung der melodischen Verläufe. Wenn Bachs Passionen im gottesdienstlichen Rahmen aufgeführt werden, wird die Gemeinde hier und da auch heute noch eingeladen, den einen oder anderen Choral mitzusingen. Die Imitation des Gemeindegesangs, der Kraft aus der Bekanntheit der Melodien und dem Absingen mehrerer Strophen gewinnt, scheint einen gleichmäßigen Vortrag nahezulegen. Guttenberg durchkreuzt diese Erwartung.
In „Befiehl du deine Wege“ speist sich der Vorwärtsdrang aus dem Innehalten. Nicht der Chor alias die Gemeinde eilt in „Was mein Gott will, das g’scheh allzeit“, denn die Sänger übereilen sich nicht. Das straffe Tempo sagt etwas aus über den im Bewusstsein der Heilsgewissheit bejahten Weltzustand: Die Apokalypse naht – es ist eilig. Breit und klar die Kulturkritik vor dem Auftritt der falschen Zeugen: „Mir hat die Welt trüglich gericht‘ / Mit Lügen und mit falschem G’dicht“. Hier zeigt sich der öffentliche Charakter der Wahrheit.
Einige Valeurs der von Guttenberg forcierten Deutlichkeit wird man ehrlicherweise mit Prädikaten wie schroff, grob und derb belegen. Von anderen Spitzenchören soll die Chorgemeinschaft unterscheiden, dass die Sänger alle aus demselben Dorf kommen. Strebt Guttenbergs professionelle Traditionspflege so etwas wie eine kunstmusikalische Nachahmung des volkskünstlerischen Kirchenschmucks an? Johann Sebastian hat geholfen: Der Neubeuerner Bach kommt mit primitivistischem Lokalkolorit daher. Man verkenne aber die Kunstfertigkeit der Chorsänger nicht. Der Fluch über Judas gerät nicht zum Vehikel der Enthemmung: Das erste „Den falschen Verräter, das mördrische Blut“ ist furchtbar laut, das zweite nicht mehr laut, nur noch furchtbar. Das Repertoire des Chors umfasst wundersame Techniken wie ein lautes Flüstern („Bin ich gleich von dir gewichen“) und ein artikuliertes Summen („Wenn ich einmal soll scheiden“).
Einige der effektvollsten Passagen des Werkes inszenieren die Verinnerlichung des Gehörten als unvermittelten Rollenwechsel. Die Jüngerschar fragt nach der Identität des Verräters: „Herr, bin ich’s?“ Der Gläubige antwortet: „Ich bin’s, ich sollte büßen“. Judas – das bin ich doch selbst: Bei jeder Aufführung der Matthäuspassion ist einem dieser Spiegel vorgehalten worden. Guttenberg will seine Zuhörer den ursprünglichen Schock der Identifikation spüren lassen. Die ersten beiden Silben des ersten Choralverses, das Spiegelbild der letzten beiden Silben der Jüngerfrage, sind ein tonnenschwermütiger Doppelschlag: Ein G’wissenslindwurm legt sich der Melodie in den Weg.
In „O Haupt voll Blut und Wunden“ lässt Guttenberg diese Behandlung dem gesamten Choral angedeihen, so dass man kaum umhin kann, sie ein Malträtieren zu nennen. Jeder Ton der ersten sieben Verse wird abgehackt hervorgestoßen, und jedes Mal fährt der Dirigent die Faust aus und stößt zu. Erst der letzte Vers, „Gegrüßet seist du mir!“, nimmt die Härte heraus, um zur zweiten Strophe, „Du edles Angesichte“, überzuleiten. Der Gesang setzt die Schläge der Kriegsknechte, von denen der Evangelist gesprochen hat, ins unmenschliche Werk. Was kann ein Kritiker dazu sagen? Das radikale Beimwortnehmen der Gattung der Passion legt es darauf an, das Geschmacksurteil zu entwaffnen. Von kultivierter Interpretation soll nicht die Rede sein, wo die Musik einer barbarischen Tatsache Ausdruck gibt.
Erschütternd und lange nachwirkend
Meine Frau und ich haben die erschütternde und lange nachwirkende Aufführung der Matthäus-Passion in der “Interpretation” Enoch zu Guttenbergs im Gasteig erlebt.
Die Kritik von Patrick Bahners ist äußerst kompetent und zutreffend. Nie haben wir dieses Werk inniger, tiefer und gleichzeitig analytischer ausgestaltet gehört. Enoch zu Guttenberg und seine Künstler setzen Maßstäbe.