Bayrisch Creme

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Ein Münchner Kulturtagebuch

Fundamentalismusalarm im Residenztheater

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Das Programmheft zur Neuinszenierung von Arthur Millers „Hexenjagd“ am Münchner Residenztheater lässt eine Übertragung des Geschichtsdramas in die Gegenwart erwarten. Über den Großbuchstaben des Stücktitels flattert unscharf vor nächtlich-finsterem Hintergrund eine Fahne. Wir sehen die deutschen Nationalfarben und bemerken einen Verfremdungseffekt, den Verzicht auf die horizontale Abstraktion der republikanischen Trikolore zugunsten der Restauration eines heraldischen Gottesbezugs: schwarzes Kreuz in goldener Einfassung auf rotem Grund.

So hätte nach dem Entwurf von Josef Wirmer, einem katholischen Rechtsanwalt, die Nationalflagge des Deutschen Reiches aussehen sollen, das durch den Staatsstreich des 20. Juli 1944 an die Stelle der Hitler-Diktatur treten sollte. Wirmer war als Reichsjustizminister vorgesehen. Heute kennt man die nach ihm benannte Flagge, weil Pegida-Demonstranten sie schwenken, die auch in München an jedem Montagabend aufmarschieren. Wenn die Polizei es erlaubt, versammeln sie sich vor der Feldherrnhalle, das heißt neben der Residenz. Theaterbesucher müssen um der Versammlungsfreiheit willen Umwege in Kauf nehmen. Vergessen ist, dass die Unionsfraktion im Parlamentarischen Rat eine von Wirmers Entwurf inspirierte Kreuzflagge durchsetzen wollte. Der CDU diente seit dem Bundesparteitag von 1953 eine Variante der Wirmer-Flagge als Parteizeichen. Ein Aufsatz im jüngsten Band der „Historisch-politischen Mitteilungen“ aus dem Archiv der Konrad-Adenauer-Stiftung stellt dieses Kapitel der Nachgeschichte des Flaggenstreits der Weimarer Republik dar und bietet vexillologische Hintergrundinformationen.

1953 fand auch die Uraufführung von „The Crucible“ am Broadway statt. Das Programmheft erläutert, dass der Titel des Stücks, wörtlich „Der Schmelztiegel“, eine Maxime aufnimmt, die der Autor einem der Richter in den Mund legt, dem Vizegouverneur Danforth: „Wir brennen hier ein heißes Feuer, das jedes Geheimnis zum Schmelzen bringt.“ Wie wohl jeder Theaterbesucher weiß, schrieb Miller sein Stück in der heißen Phase der von Senator Joseph McCarthy betriebenen Untersuchungen vermeintlicher anti-amerikanischer Umtriebe durch Ausschüsse des Kongresses in Washington.

Die von Miller auf der Grundlage von Verhörakten verfasste Darstellung des Hexenverfolgungswahns, der im Sommer 1692 die Gemeinde Salem in Massachusetts heimsuchte, war als Parabel gedacht. Freilich bestritt der Autor diese offenkundige Absicht. Gegenüber einem Reporter der „New York Times“ sagte er vor einer der Probeaufführungen in der Provinz, die der Broadway-Premiere vorausgingen: „Es mag Leute geben, die glauben, das Stück sei mit unserer Gegenwart im Hinterkopf geschrieben worden. Das kümmert mich nicht.“

Was soll man von dieser Leugnung des Offensichtlichen halten? Der Held des Stücks, der Bauer John Proctor, ist ein Mann, der seine Hinrichtung abwenden könnte, wenn er bereit wäre, ein falsches Geständnis zu unterschreiben. Miller ging es wohl ums Prinzip, das dem Dramatiker eine schauspielerische Einlage abverlangte: Er wollte demonstrieren, dass nichts das Geheimnis des Autors zum Schmelzen bringt, auch wo gar kein Geheimnis existiert. Dass er nicht gerne über seine Stücke spreche, verriet er den Lesern der „New York Times“ – in der er im Laufe der Jahrzehnte mehrere Artikel über die Hintergedanken seines erfolgreichsten Stücks unterbringen sollte. „Mein Stück ist ein Stück über Salem, aber das hat nichts zu bedeuten. Es ist ein Stück über Hexenverfolgungen, das stimmt. Aber darum geht es nicht. Ich kann nicht kurz und bündig sagen, worum es geht.“

Die Dramaturgen des Bayerischen Staatsschauspiels machen dem Autor diese Versteckspielerei nicht nach. Sie buchstabieren die Aktualität des Stücks aus – in der ersten Person Plural. „Wir sind seit 9/11 – traumatisiert von der latenten, willkürlich zuschlagenden und ungreifbaren Gefahr terroristischer Islamisten – hysterisch damit beschäftigt, den mühsam erkämpften Rechtsstaat aufzuweichen.“ Das Programmheft wird zur Anklageschrift, wenn die Verlautbarungen des Bundesinnenministers zum abgesagten Fußball-Länderspiel in Hannover und des Bundesjustizministers zur Silvesternacht in Köln einer eingehenden Kritik unterzogen werden.

Miller hat dem Text seines Stücks Erläuterungen zum historischen Kontext beigegeben. Die Übersetzung für die deutsche Erstaufführung verwendete ein damals schon altertümliches Wort: „Man konnte seine Nachbarn als Hexen ausschreien und sich dabei völlig im Recht fühlen.“ Das Grimmsche Wörterbuch erklärt: „Einen ausschreien heißt ihn unter die Leute, ins Geschrei bringen, verleumden, meist in üblem Sinn.“ Der erste Beleg stammt von Luther. Das Wort passt, weil in Salem die Anschuldigungen der Hexerei als Schreie unter die Dorfleute gebracht wurden: Mädchen, die im Wald bei Verbotenem erwischt worden waren, verfielen in ein lautes Gestammel, das ein Lauffeuer der Bezichtigungen entfachte.

Auch wenn sie schweigen, schreien sie: Genet Zegay (Betty Parris), Friederike Ott (Mercy Lewis), Valery Tscheplanowa (Abigail Williams), Valentina Schüler (Tituba), Valerie Pachner (Mary Warren).© Thomas AurinAuch wenn sie schweigen, schreien sie: Genet Zegay (Betty Parris), Friederike Ott (Mercy Lewis), Valery Tscheplanowa (Abigail Williams), Valentina Schüler (Tituba), Valerie Pachner (Mary Warren).

Das Programmheft des Residenztheaters nimmt das heute erst recht archaisch klingende Wort auf, zu dem der Duden die Bedeutung des öffentlichen Bezichtigens nicht mehr verzeichnet. Und wer ein Echo der „den Teufel ausschreienden Mädchen“ hören will, braucht nur vor die Theatertür zu gehen. „In einer Mischung aus konkreten sozialen Nöten, wuchernden Vorurteilen, politisch instrumentalisierten Entsolidarisierungstendenzen und geschürter irrationaler Angst schreit man auf den Straßen gegen den vermeintlichen Untergang eines mythisch umrissenen Abendlandes an. Noch ist nicht abzusehen, wann der Spuk ein Ende findet.“

Angst: Mit diesem Wort charakterisierte Miller das Grundgefühl der Entstehungszeit des Stücks, als er 1996 in einem Artikel im „New Yorker“ darlegte, warum er „The Crucible“ geschrieben hatte. In diesem Jahr kam die Verfilmung mit Winona Ryder und Daniel Day-Lewis unter der Regie von Nicholas Hytner ins Kino, für die Miller selbst das Drehbuch geschrieben hatte.

Das Stück sei eine Verzweiflungstat gewesen: „Zu großen Teilen wurde ich von der Paralyse motiviert, die viele Liberale befallen hatte. Obwohl ihnen die Verletzungen der Bürgerrechte durch die Inquisitoren Unbehagen bereiteten, hatten sie Angst davor, als verdeckte Kommunisten identifiziert zu werden, wenn sie zu laut protestieren sollten. Und das aus gutem Grund.“ Bewegungsunfähigkeit ist das nicht minder unangenehme Pendant zu den Anfällen des Gliederzuckens, das die Mädchen von Salem quälte. Miller machte deutlich, dass auch er im Bann der allgemeinen Stimmung stand, in der Befürchtungen sich verselbständigten und Freunde einander plötzlich das Schlimmste zutrauten.

In diesem Sinne schilderte er in seinem Stück das Phänomen der Massenhysterie aus Erfahrung: Es ist nicht bloß ein Werk der Denunziation. Wenn der Spuk einmal sein Ende gefunden hat, wird es schwer, sich seine Bedingungen zu vergegenwärtigen. Mit der Zeit verschwindet die Angst: Vorher hat sie die Urteilskraft beeinträchtigt, nachher „kann ihre Abwesenheit die Wahrheit der Erinnerung schmälern“.

Tina Lanik lässt in ihrer Inszenierung von „Hexenjagd“ anders als Anne Lenk in ihrer Fassung von Grillparzers „Goldenem Vlies“ keine Pegidisten in Trenchcoat und Spießerhut auftreten. Von der vom Programmheft in Aussicht gestellten Aktualisierung ist auf der Bühne nichts zu sehen. Die Figuren tragen allerdings auch nicht die Tracht des siebzehnten Jahrhunderts beziehungsweise das, was sich der Erinnerungskulturtourismus seit dem neunzehnten Jahrhundert als Anti-Mode der Pilgerväter ausgemalt hat. Das Schwarz der Kostüme ist puritanisch im übertragenen, zeitlosen Sinne.

Puritanische Dorffamilienaufstellung: Norman Hacker (Vizegouverneur Danforth), Arnulf Schumacher (Richter Hathorne), Thomas Lettow (Reverend John Hale), Genet Zegay (Betty Parris), Friederike Ott (Mercy Lewis), Valery Tscheplanowa (Abigail Williams), Valentina Schüler (Tituba), Michele Cuciuffo (Giles Corey), Valerie Pachner (Mary Warren), Thomas Loibl (John Proctor)© Thomas Puritanische Dorffamilienaufstellung: Norman Hacker (Vizegouverneur Danforth), Arnulf Schumacher (Richter Hathorne), Thomas Lettow (Reverend John Hale), Genet Zegay (Betty Parris), Friederike Ott (Mercy Lewis), Valery Tscheplanowa (Abigail Williams), Valentina Schüler (Tituba), Michele Cuciuffo (Giles Corey), Valerie Pachner (Mary Warren), Thomas Loibl (John Proctor)

Einige Kritiker haben daran Anstoß genommen, dass die Regisseurin auf didaktische Eingriffe verzichtet. Man erfahre „leider nicht, was sie an dem Gruselstück reizt, was sie umtreibt und warum wir da mit ihr einsteigen sollen“. Die Inszenierung blende nicht nur den zeitgeschichtlichen Hintergrund der McCarthy-Ära aus, sondern verweigere „auch konsequent jede Auskunft darüber, was uns das Thema heute angehen“ könnte. Als uneinsichtige Wiederholungstäterin wird Tina Lanik verurteilt, wegen „rigoroser Textgläubigkeit“. Fundamentalismusalarm!

Eine Bebilderung des Stücks mit Anspielungen auf das gegenwärtige Flüchtlingsproblem hätte an Selbstkommentare Millers anknüpfen können. Sozioökonomische Ursachen der Urvertrauenskrise in Salem suchte er 1953 in einer demographischen Verschiebung im jungen Einwanderungsland Massachusetts, wo auf die Asylanten der Gründerzeit eine Generation von Wirtschaftsflüchtlingen gefolgt sei. Willkommensausschüsse prüften die Neuankömmlinge auf ihre Grundsätze der Lebensführung. „Mit Misstrauen sahen sie jeden an, der sich lauwarm zeigte, was seine Errettung aus dem Irrtum betraf.“

Für Migranten, die überlebenswichtige Berufe ausübten, machte die Kolonie notgedrungen Ausnahmen. „Es musste sich ein Konflikt auftun zwischen den selbstbewussten Ideologen und denjenigen, die einfach nur in Ruhe gelassen werden wollten.“ Die „Repression“ war demnach ein konservativer Reflex. „Tief unter den Verfolgungen von Salem lag die Angst vor Erneuerung, die Angst, die einstmals reine Gemeinschaft durch die Aufnahme von Leuten zu verwässern, die sie Fremde nannten.“

Das Recht, in Ruhe gelassen zu werden: So bestimmte Louis Brandeis, Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, das Recht auf Privatheit, das er als jenes Recht apostrophierte, das unter zivilisierten Menschen am höchsten geschätzt werde. Der Liberalismus entwickelte sich gemäß dem Geschichtsbild von Millers Annotationen zu seinem Stück in Freiräumen, die dem Puritanismus abgetrotzt werden mussten. Der schematischen Tiefenstrukturgeschichte, die Miller unter der Oberfläche der Salemer Ereignisse freilegte, hat der 2013 verstorbene Historiker Edmund S. Morgan widersprochen, atheistischer Autor von Büchern über die puritanische Familie und das puritanische Dilemma. Alle Beteiligten, Täter wie Opfer, waren Puritaner. Der Puritanismus war nicht unbarmherzig und nicht leibfeindlich. Dass die Autoritäten die Justizirrtümer eingestanden und wiedergutzumachen versuchten, ist nur aus der puritanischen Fixierung auf die Notwendigkeit der Reue zu erklären.

Die Handlung des Stücks ist auch ohne die von Miller angebotene sozialhistorische Erklärung verständlich. Und selbst wenn man die Erklärung kennt, wird man sie von der Handlung nicht bestätigt finden. Proctor, der durch Verfolgung zur Selbsterkenntnis gebrachte Individualist, übt kein modernes Gewerbe aus. Wer „Hexenjagd“ inszeniert, darf vom Fortschrittsglauben des Autors absehen. Kurioserweise wird die vulgärliberale Legende, der Rechtsstaat beruhe auf der Entmachtung der Religion, heute von den Abendlandsern in die Welt geschrien.

Die Parabel ist ein heikles Genre. Der Vergleich, der im Stoff steckt, muss sich dem Publikum von selbst aufdrängen. Über die Frankfurter Erstaufführung 1954 berichtete in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung der damals für das Feuilleton zuständige Herausgeber Karl Korn. Er verglich das Werk mit Millers früherem Welterfolgsstück „Tod eines Handlungsreisenden“: Die „dramatischen Mittel“ des älteren Stücks waren „moderner“. Das „heutzutage ungewöhnliche, freilich kaschierte und gebändigte Pathos“ des Gerichtsdramas erinnerte Korn an Schiller. Nicht Einfälle des Regisseurs, sondern die „Vorgänge“ selbst setzten „die stärksten Akzente“, waren „Exempel“ doch „überall in unserer Welt der Kreuzzugsmanien und -hysterien mit Händen zu greifen“.

Was sah man? „Die Dämonie des Vorganges, der immer mehr Menschen in seinen Strudel zieht und die Partei der Besessenen anschwellen, das Häuflein derer, die noch bei Vernunft und darum als Widerstand vernichtet werden, kläglich zusammenschmelzen lässt, wurde in der Szene vor dem Unterstatthalter zur Grundfigur eines politischen Vorgangs, den wir kennen.“ Nicht aus Zeitungsberichten der Amerikakorrespondenten, sondern aus der eigenen Erinnerung. „Ich glaubte Freisler toben zu hören.“

Josef Wirmer wurde am 8. September 1944 durch den unter Freislers Vorsitz tagenden Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Freisler verhöhnte den katholischen Glauben des Angeklagten und brüllte ihn an, weil er nicht Soldat geworden war. Er prophezeite Wirmer, dass er bald zur Hölle fahren werde. Wirmer wurde noch am gleichen Tag in Plötzensee hingerichtet.

Urkundenbeweis im Geisterprozess: Thomas Loibl (John Proctor), Valerie Pachner (Mary Warren), Thomas Lettow (Reverend John Hale), Jörg Lichtenstein (Reverend Parris), Norman Hacker (Vizegouverneur Danforth), Arnulf Schumacher (Richter Hathorne), Simon Werdelis (Ezekiel Cheever)© Thomas AurinUrkundenbeweis im Geisterprozess: Thomas Loibl (John Proctor), Valerie Pachner (Mary Warren), Thomas Lettow (Reverend John Hale), Jörg Lichtenstein (Reverend Parris), Norman Hacker (Vizegouverneur Danforth), Arnulf Schumacher (Richter Hathorne), Simon Werdelis (Ezekiel Cheever)

Norman Hacker, der den Vizegouverneur im Residenztheater spielt, tobt nicht. Er zieht den Prozess ungerührt durch und scheint doch mit beweglicher Stimme anzudeuten, dass er jederzeit anders entscheiden könnte. Aber sein Sarkasmus richtet sich gegen die Erwartung, dass im Verfahren keine Willkür walten soll. Das Gruselige: Dieser Richter fällt nicht aus der Rolle, wenn er Unrecht spricht.

 


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