Am heutigen Sonntag ist das Boston Symphony Orchestra mit seinem Chefdirigenten Andris Nelsons zu Gast in München. In der Philharmonie im Gasteig wird das Orchester ein russisch-französisches Programm aufführen, unter anderem die Briefszene aus Tschaikowskis Oper „Eugen Onegin“ mit Kristina Opolais, der Gattin von Nelsons, die der Bayerischen Staatsoper soeben für die Titelpartie in Fromental Halévys „La Juive“ abgesagt hat. Mark Volpe, Managing Director des Orchesters und der Boston Symphony Hall seit 1997, war vor acht Jahren zuletzt in München. Neugierig lässt er sich beim Gespräch in seinem Büro in der Symphony Hall über den Stand der Münchner Konzertsaaldebatte unterrichten.
Volpe gibt der Hoffnung Ausdruck, dass München endlich das Konzerthaus bekommen wird, das man in einer Stadt mit diesem klingenden Namen erwartet. „In Wien gibt es den Musikverein, in Berlin die Philharmonie. München ist natürlich einer der kulturell wichtigsten Orte in Europa und darüber hinaus, mit großartigen Musikern, aber es fällt einem nicht automatisch eine Aufführungsstätte ein. Wenn man an Mailand denkt, denkt man an die Scala.“ Immerhin ist München nicht allein. „Spannend wird es jetzt auch in London nach der Berufung von Simon Rattle zum Chefdirigenten des London Symphony Orchestra. Sie haben Covent Garden, für Oper und Ballett, sie haben Orte, an denen Konzerte stattfinden, im Barbican, im South Bank Centre, aber sie haben keinen großartigen Konzertsaal.“

Ein neuer Konzertsaal muss heutzutage nach Volpes Überzeugung mehr als ein Konzertsaal sein. Im Umfeld der am 15. Oktober 1900 eingeweihten Symphony Hall stehen Umbauvorhaben an, und auch das charmant aus der Zeit gefallene Innere des Baukulturdenkmals könnte in den Augen des Managers eine Modernisierung gebrauchen. „Wir wollen an der Symphony Hall nichts verändern, aber in der Nachbarschaft neue Räume für das Publikum schaffen. Uns gehört das gesamte Karree, und einige Gebäude bieten kommerzielle Möglichkeiten. Wenn wir ausverkauft sind, wird es eng in den Foyers. Den Gesellschaftsräumen geht die Einheitlichkeit eines Stils ab. In einigen Räumen stammt das Dekor noch aus den fünfziger Jahren, andere wurden vor fünf Jahren neugestaltet. Uns fehlen auch die kleinen Säle für Kammermusik oder Vorträge. Die jüngeren Zuhörer erwarten ein komplettes Erlebnispaket. Das Essen im Restaurant gehört dazu, aber auch ein gutes Gefühl beim Flanieren.“

Der Immobilienbesitz bedeutet, dass sich das Orchester nicht ausschließlich aus Eintrittsgeldern und Spenden finanzieren muss. „Unser Haushalt umfasst 94 Millionen Dollar, das ist nicht so viel wie bei einem Opernhaus, aber doch eine ordentliche Summe, höher als bei fast jedem anderen Orchester. Der Konzertsaal ist nicht nur die Heimat des Boston Symphony Orchestra, sondern auch ein Ort für die Stadtöffentlichkeit. Jeden Abend findet hier etwas statt, und tagsüber gibt es Jugendkonzerte.“
Ein Konzertsaal als Motor der Entwicklung eines neuen Stadtviertels: Die Geschichte von Boston lehrt, dass der Plan für das Werksviertel aufgehen kann. „Als dieser Konzertsaal gebaut wurde, befand er sich am Stadtrand. Die erste, aufgegebene Symphony Hall lag in der Innenstadt. In Boston wurde die erste U-Bahn Amerikas gebaut, und Henry Lee Higginson, der Gründer des Orchesters, sorgte für den U-Bahn-Anschluss der neuen Symphony Hall. Die ganze Gegend war Neuland, das im neunzehnten Jahrhundert durch Schuttaufschüttung dem Wasser abgewonnen wurde. Heute kreuzen sich hier große Verkehrsadern, und wir befinden uns mitten im urbanen Leben. Das Problem ist das Parken – aber das wird sich mit der Zeit erledigen. In zehn Jahren wird vielleicht schon jeder ein schlaues Auto haben, das den Fahrer absetzt und nach dem Konzert wieder abholt.“
Nach Volpes Erfahrung ist allerdings auch ein weltstädtisches Konzertpublikum nicht von Natur aus mobil. „Ein interessanter Vergleichsfall ist Paris: Dort hat man den neuen Konzertsaal im Norden der Stadt gebaut, weit entfernt von den Wohnvierteln des Stammpublikums. Es ist noch nicht abzusehen, ob das Publikum den Ort akzeptiert.“
In Volkes amerikanischer Sicht schließen sich kultureller Ehrgeiz und urbanistische Spekulation nicht aus. „Nehmen Sie das Lincoln Center, dessen Baugeschichte den Stoff für Leonard Bernsteins Musical ‚West Side Story‘ lieferte. Robert Moses, der ein halbes Jahrhundert lang das stadtplanerische Denken in New York bestimmte, beschloss, dass die Mietskasernen abgerissen werden sollten, um Platz zu schaffen für ein Opernhaus, ein Theater für das Staatsballett, einen Saal für die New Yorker Philharmoniker und eine Musikhochschule namens Julliard. Das Ganze war ein riesiges Immobilienprojekt.“
Volpes wichtigster Angestellter wird vom 1. Februar 2018 an auch das Gewandhausorchester in Leipzig leiten. Das von Martin Gropius entworfene, im Zweiten Weltkrieg zerstörte zweite Gewandhaus diente dem Architekturbüro McKim, Mead and White als Vorbild für die Symphony Hall. „In Leipzig liegen Oper und Gewandhaus einander auf dem zentralen Platz gegenüber. Aber München ist eine so viel größere Stadt, wo so viel mehr passiert. Es muss sich nicht alles in der Innenstadt abspielen.“

In München wurde ein innenstädtischer Konzertsaalbau vereitelt, indem im Jahre 2010 das von der Bayerischen Staatsregierung bei dem Akustiker Yasuhisa Toyota bestellte Gutachten über die Eignung des Marstall-Geländes hinter der Residenz zunächst falsch dargestellt und dann weggesperrt wurde. Der damalige Kunstminister Wolfgang Heubisch von der FDP ließ sich offenkundig von seiner Beamtenschaft weismachen, hinter dem Marstall sei schon deshalb kein Konzertsaal von Weltrang möglich, weil dort nur eine „Schuhschachtel“ hinpasse. Dass die „shoe box“ ein Fachausdruck für einen quaderförmigen Saal mit akustisch idealen Proportionen ist, war dem Minister wohl unbekannt, peinlicherweise allerdings auch einigen Kulturjournalisten, die sich mit der Zusammenfassung des Gutachtens durch die Regierung abspeisen ließen.
Enthusiastisch gibt Volpe zu, dass er in der Frage des idealen Konzertsaalgrundrisses Partei ist. „Wenn man die beste Akustik haben will, gibt es keine Alternative zur Schuhschachtel. Natürlich gibt es gute Säle mit anderem Grundriss, aber was den reinen Klang betrifft: Der Musikverein in Wien, das Concertgebouw in Amsterdam und die Symphony Hall in Boston sind alle Schuhschachteln. Ich war Manager bei drei anderen Orchestern, aber dieser Saal ist der beste. Zwar will das heutige Publikum auch immer mehr sehen. Doch in manchen Sälen, in denen das Publikum näher am Podium sitzt, verpufft der Klang. In der Schuhschachtel wird er von allen Seiten zurückgespielt.“
Dass Toyotas Ergebnis der Eignung des Marstall-Geländes für einen Saal in den Maßen des Musikvereins unterdrückt werden konnte, überrascht Volpe nicht. „Toyota liebt den Fächergrundriss und die Blickachsen. In seinen Sälen wie der Walt Disney Concert Hall in Los Angeles ist der Klang sauber und klar, aber er blüht nicht auf.“
Wie lockt das Boston Symphony Orchestra neue Zuhörer in sein altes Haus? „Seit dieser Spielzeit haben wir eine neue Reihe von Freitagskonzerten: dasselbe Repertoire wie im klassischen Abonnementkonzert, aber kürzer. Die Musiker tragen keinen Frack, sondern legere schwarze Kleidung. Zweitausend Leute bleiben hinterher, um mit dem Orchester eine Party zu feiern. Das Abonnementpublikum für die traditionellen langen Reihen schrumpft. Früher gab es sechstausend Familien, in denen Abonnements vererbt wurden. Diese Zeiten sind vorbei. Die jungen Leute wollen sich nicht mehr ein Jahr im Voraus festlegen. Sie arbeiten länger, weil es den Arbeitstag von neun bis fünf nicht mehr gibt.“
Jung heißt nicht schimmerlos. „Die Dichte der studentischen Bevölkerung ist nirgendwo in den Vereinigten Staaten so hoch wie in Boston: Hier gibt es 300000 Studenten, von denen viele selbst Musik machen oder eine gute musikalische Bildung haben. Das Problem für Studenten sind die Kartenpreise. Daher stellen wir den Universitäten Kontingente zur Verfügung. Und für Besucher unter vierzig Jahren gibt es Karten für 20 Dollar.“

Das Nebeneinander von klassischer und populärer Musik, von dem sich die Kulturpolitiker große Dinge im Werksviertel versprechen, gehört in der Symphony Hall von Anfang an zum Programmdesign, in der Spielzeitplanung allerdings als Nacheinander. „Wir haben noch ein ganz anderes Instrument: unser zweites Orchester, die Boston Pops. Von Mai an, wenn die Symphoniker auf Welttournee gehen, spielen die Pops leichtere klassische Musik, aber auch Popmusik. Das Eröffnungskonzert dieser Saison moderiert Seth Macfarlane, der Schöpfer der Fernsehzeichentrickserie ‚Family Guy‘, ein großer Star für meine Kinder, die einundzwanzig und dreiundzwanzig Jahre alt sind. Sie kommen allerdings nicht hierher, sie leben in New York und besuchen lieber unser Sommerfestival in Tanglewood.“
Die Symphony Hall hat 2625 Sitzplätze, das zeltförmige, offene Konzertgebäude im Park von Tanglewood im westlichen Massachusetts 5700. Noch mehr Zuhörer lagern ringsum auf dem Rasen mit Picknickkörben. „Serge Koussevitzky, der Chefdirigent von 1924 bis 1949, war ein Genie. Er erfand das Festival, um die Musiker im Land zu halten. Die meisten waren damals Europäer und reisten im Sommer in ihre Heimatländer, um mit einem Fräulein anzubändeln oder einem anderen Mädchen. Und dann kam die idealistische Idee hinzu, die nächste Generation von Musikern ausbilden zu lassen, von Lehrern wie Leonard Bernstein und Aaron Copland. Zu den Absolventen gehören Claudio Abbado, Zubin Mehta, Lorin Maazel, Christoph von Dohnányi und Charles Dutoit. Das Boston Symphony Orchestra erreicht eine Million Zuhörer im Jahr. Man braucht ein vielfältiges Programmangebot. Es kann nicht immer nur Haydn, Mozart und Beethoven sein.“
Auch in den Konzerten der Boston Pops findet nicht alles eine Nische, was populär ist. „Setzen wir harten Rap aufs Programm? Nein, das passt nicht in ein Orchesterkonzert. Aber es gibt sehr viel Jazz und Filmmusik. Alles, was mit Film zu tun hat, ist sofort ausverkauft.“
In Mark Volpes Kalkulation ist die Durchmischung des Publikums von ernster Haupt- und heiterer Nachsaison kein erheblicher Faktor. Crossover als verkappte Erziehungsmaßnahme widerspricht dem demokratischen Bildungsideal der Amerikaner. „Auch Higginson, unser Gründer, war ein Genie. Er hat erkannt: Es gibt ein anspruchsvolles Publikum für klassische Musik; und dann gibt es noch ein Publikum, das Musik mag, aber einen anderen Geschmack hat und sich aus viel breiteren Bevölkerungsschichten rekrutiert. Und für dieses zweite Publikum hat er die Boston Pops erfunden. Das Vorbild waren die deutschen Bierhallen in München und anderswo.“