Bayrisch Creme

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Ein Münchner Kulturtagebuch

Sehr wohl gereimt: Ein zweiter Blick auf die Münchner „Meistersinger“

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„Die Bühne stellt das Innere der Katharinenkirche, in schrägem Durchschnitt, dar.“ Es ist normal, dass der Regisseur diese Regieanweisung Richard Wagners für „Die Meistersinger von Nürnberg“ nicht beachtet. Die Ausnahme ist Otto Schenks Met-Inszenierung von 1993, an deren Stelle demnächst Stefan Herheims Salzburger Deutung treten wird, in der die Katharinenkirche aus Wagners Schreibtisch hervorwächst. Patrick Bannwarts Bühnenbild für den ersten Aufzug der Münchner Neuinszenierung von David Bösch ist ein Bauplatz mit allerlei Gerüsten. In der Mitte erhebt sich ein Boxring, dahinter sieht man schon die Gasse des zweiten Aufzugs mit grauen, unverputzten Mietshäusern auf beiden Seiten. Die Gemeinde befindet sich nicht in der Kirche, als sie „den letzten Vers eines Chorales“ singt, „mit welchem der Nachmittagsgottesdienst zur Einleitung des Johannisfestes schließt“, sondern betritt gemessen schreitend die Bühne. Ministranten im Chorhemd gehen voran. „Zum Luther-Choral zieht eine katholische Prozession durchs Viertel“: Taugt das, wie der Kollege Markus Thiel meint, als erster Beleg dafür, dass Böschs Inszenierung „arg viel Ungereimtes“ enthalte?

Das steht doch nicht im Stück: Beckmesser (Markus Eiche) wollte sein Ständchen eigentlich „ohn’ all schädlich gemeinen Dunst“ vortragen. © Wilfried HöslDas steht doch nicht im Stück: Beckmesser (Markus Eiche) wollte sein Ständchen eigentlich „ohn’ all schädlich gemeinen Dunst“ vortragen.

Bösch platziert in seinen Tableaus fast so viele sprechende Details wie Karl von Piloty, der Münchner Übergroßmeister der Historienmalerei in Wagners Zeit. Manche Einzelheit wird man erst beim zweiten Besuch bemerken. Die gelbe Hebebühne, die beim Nachtruhestörerwettstreit von Hans Sachs und Beckmesser im zweiten Aufzug zum Einsatz kommt, ist ein Produkt der Marke Genie. Und die gibt es wirklich, sie hat sich Bösch nicht ausgedacht. Damit zeigt der Regisseur an, dass er die Lizenzen der Genieästhetik nicht in Anspruch nimmt, dass er gerade kein Regisseurstheater im Sinne von Gerhard Stadelmaier abliefern will. Im kunsttheoretischen Schema des Stücks, der Konkurrenz von Handwerk und Originalität, kennt er seinen Platz: Seine Sache sind die umständlichen Aufbauten und die vielen Kleinigkeiten, die perfekt passen müssen.

Es gibt auch die kritische Meinung, die Inszenierung sei zu gut konstruiert. Matthias Lachenmann notierte: „In den Boxring gelangen die Meister über eine kleine Treppe, um sich dort im Sängerstreit zu messen. Wenn man das zu Beginn des 1. Aufzuges sieht, scheint nach wenigen Minuten klar: Beckmesser wird die Treppe im 3. Aufzug hoch steigen, wird stolpern und wird sagen ‚wie wackelig, macht das schön fest‘.“ Auch wenn diese Erwartung des Werkkundigen durchkreuzt wird, weil Beckmesser erst den Vers singt und dann stolpert, ist Lachenmann das Ganze zu absehbar.

Das Heldenstadion von Nürnberg ist ein Provisorium: Walther von Stolzing (Jonas Kaufmann) provoziert mit seinem T-Shirt Schläge über der Gürtellinie.© Wilfried HöslDas Heldenstadion von Nürnberg ist ein Provisorium: Walther von Stolzing (Jonas Kaufmann) provoziert mit seinem T-Shirt Schläge über der Gürtellinie.

Tatsächlich ist es Bösch darum zu tun, einen Bogen zu schlagen. Das zeigt sich auch an Feinheiten der Personenregie. Die vulgäre Vignette, dass David sich in den Pokal übergibt, entfaltet ihre komische Wirkung, weil neben ihm seine Verlobte steht und mit geradezu schmetternd strahlendem Gesichtsausdruck über das Malheur hinwegsieht. Dieselbe Haltung, heroisch gereckt, parallel zum Graben, hatte die wunderbare Okka von der Damerau schon im ersten Aufzug angenommen, als sie Walther von Stolzing die ersten Lektionen über die bürgerlichen Sitten zur Kenntnis brachte: Eine aus dem Bilderrahmen gestiegene Germania erteilt kunstpatriotischen Frontalunterricht. Wenn man also erwarten darf, dass sich bei Bösch das Seltsame immer noch als wohlgereimt erweist, wie soll man dann den Griff in die katholische Kleiderkammer verstehen?

Ein Vorschlag.

Bösch lässt die Oper in der Zeit des Wiederaufbaus spielen. Die Tabula rasa, die der Bombenkrieg hinterlassen hat, erweist sich als goldener Boden für die Besitzer von Meisterbriefen, obwohl sie alle noch in den Mietswohnungen hausen, die übereinander gestapelt sind wie Schuhkartons. Die Mischung von Kostümen, Kulissen und Requisiten ist anachronistisch, so dass es unmöglich ist, ein bestimmtes Jahr als Zeit der Handlung zu fixieren – so reizvoll Christian Wildhagens Lesart ist, wonach der Meistersingerbund hundert Jahre nach der Münchner Uraufführung seinen hundertsten Geburtstag feiere, nach Adam Riese also anno 1968. Die aschgraue Grundfarbe dieser Stadt, eines Nürnberg, das aller pittoresker Wiedererkennungszeichen beraubt wurde und nur den Namen behalten hat, verweist auf die späten vierziger Jahre, die Mode auf die fünfziger. Pogner, der Goldschmied, der den Midas-Effekt unter Kontrolle gebracht hat, fährt ein viel späteres BMW-Modell, bleibt aber offenbar wie seine Sangesbrüder gefangen in der moralischen Ausgangssituation einer Stunde Null, die keine war: Der Jahreslauf mit seinen Festritualen lenkt davon ab, dass die Zeit stillsteht und kein Ende der Nachkriegszeit absehbar ist.

Die Prozession durch die Trümmerlandschaft einer zerstörten Stadt ist ein Erinnerungsbild, dessen prägende Kraft in vielen Berichten von Zeitzeugen dokumentiert ist. Böschs Nürnberger haben sich feingemacht, aber es ist der allerbescheidenste Festtagsstaat. Die Tragekreuze sind keine barocken Erbstücke aus dem Kirchenschatz, sondern scheinen aus grau lackierten Latten oder vielleicht auch aus Blechrohren zusammengeleimt. So ließen die Münchner Jesuiten noch in diesem Jahr, als sie den bronzenen Gekreuzigten von Giambologna nach zweihundert Jahren wieder ins Zentrum der Michaelskirche holten, für die Aufhängung des Corpus ein Kreuz aus blankem Stahl herstellen: Schmucklosigkeit signalisiert, dass der historische Bruch nicht kaschiert werden soll.

Die gewaltig anschwellende erzlutherische Bitte der Choralsänger um Gnade begreift man in einem spezifischen Sinne, wenn man den Hintergrund des Jahres 1945 assoziiert. Nach der Höllenfahrt des Hitlerregimes wandten sich die Geister wieder dem Christentum zu, und die Losung des Tages lautete Ökumene. Die Konfessionsdifferenz sortierten die Religionspolitiker in die Kategorie des Zwists ein, des urdeutschen Meinungsstreits, der früher oder später in eine Prügelei umschlägt. Der Begriff des Abendlands machte noch einmal, scheinbar zum letzten Mal, publizistische Karriere. Diesen Moment, so mein Vorschlag, bringt die Prozession zur Anschauung, und zugleich die Kritik daran: Die altgläubige Gewandung lädt dazu ein, den frommen Eifer mit einem der erfolgreichsten Schlagworte der fünfziger Jahre als Restauration abzutun.

Es gibt eine merkwürdige Verbindung zwischen dem Kosmos der katholischen Frömmigkeit und Wagners Nürnberger Festoper. In seiner Autobiographie berichtet Wagner über die Wirkung, die 1861 in Venedig Tizians für die Frari-Kirche bestimmtes Altargemälde der Himmelfahrt Mariens auf ihn hatte: „Ich beschloss die Ausführung der Meistersinger.“ Peter Wapnewski verweist zur Erklärung dieses Heureka-Augenblicks auf die schon aus früheren Quellen zu belegende Bedeutung der Gestalt der Madonna für Wagners Ideal der als Entsagung verstandenen himmlischen Liebe. „Vor ihrem Bilde, vor der imposanten Darstellung ihrer Auffahrt zum Himmel erfasst Wagner, wohin er nun gerufen wird. Hans Sachs, der begreift, dass er kein Recht hat auf Eva.“

Als „ein Altarbild sondergleichen“ rühmte Jacob Burckhardt Tizians zum Himmel auffahrende Maria: „Die letzten irdischen Bande springen; sie atmet Seligkeit.“ © WikipediaAls „ein Altarbild sondergleichen“ rühmte Jacob Burckhardt Tizians zum Himmel auffahrende Maria: „Die letzten irdischen Bande springen; sie atmet Seligkeit.“

Der Schluss von Walthers Probelied im ersten Aufzug gleicht einer Karikatur der von Tizian gemalten Szene. In der Vision des Sängers steht ein auffliegender Zaubervogel sowohl für die Liebe, die ihn beflügelt, als auch für die Kunst, die sich himmelwärts schwingt: „Auf da steigt / mit goldnem Flügelpaar / ein Vogel wunderbar; / sein strahlend hell Gefieder / licht in den Lüften blinkt; / schwebt selig hin und wieder, / zu Flug und Flucht mir winkt.“ Wo den Aposteln, die ihre Arme in Richtung der entschwindenden Mutter Jesu ausstrecken, der Glaube die wunderbare Entrückung der Entschlafenen erschließt, da bleiben die Meister, die um den Junker herumstehen, unbelehrt und unbekehrt, komische Vögel: Sie verkennen die Auferstehung der Sangeskunst, die sich vor ihren Augen und Ohren ereignet. Walther singt „hell und hehr / der liebsten Frauen Ehr“, als wär’s zum Lob der Muttergottes; „auf dann steigt, / ob Meister-Kräh’n ihm ungeneigt, / das stolze Liebeslied“.

Maria ist nach heilsgeschichtlicher Logik die neue Eva. Der humoristische Klagegesang, den Hans Sachs im zweiten Aufzug an die Urmutter Eva richtet, weil ihretwegen die Menschen der Schuh drückt, drängt auf marianische Auflösung, wenn Sachs sein Leiden an der unerfüllten Liebe zu Pogners Tochter sublimieren soll. Ein Leitmotiv von Walthers seligem Morgentraumdeutgesang im dritten Aufzug ist das Augenlicht der Geliebten: Es wird dem Sternenglanz gleichgesetzt, Eva ist Walthers Sternenkönigin, die „paradiesische Lust“ in „des Dichters Brust“ gießt, von der Erbsünde unbefleckt; „der hehrsten Augen Paar“ wird als „huldreichstes Bild“ apostrophiert, als Gnadenbild und Ikone der überirdischen Hingabe. Während des Vorsingens im ersten Aufzug läuft hinter Walther eine von Falko Herold gestaltete Folge von Videobildern ab. Das Bild friert ein, als der markante Kopf von Sara Jakubiaks Eva mit niedergeschlagenen Augen die Leinwand füllt. Irgendwann verwandelt sich das Silbergrau in einen Goldton, und im bewegten Bild des ersten Aufzugs ereignet sich schon, was im dritten Aufzug das Preislied ausmalt: Eva schlägt die Augen auf.

Die Liebesbotschaft hört er wohl, allein es fehlt der Aufstiegswille: Hans Sachs (Wolfgang Koch) lauscht.© Wilfried HöslDie Liebesbotschaft hört er wohl, allein es fehlt der Aufstiegswille: Hans Sachs (Wolfgang Koch) lauscht.

Als Wagner 1861 Tizians Gemälde sah, hing es im Museum, in der Accademia, und noch nicht wieder in der Kirche, für die es gemalt worden war. Die Projektionsfläche auf der Bühne des Nationaltheaters hat nicht die Maße einer Kinoleinwand, sondern ist ein hochformatiges Rechteck. Sie füllt den leeren Raum über dem Boxring zwischen den beiden Häuserzeilen wie ein Chorfenster oder Altarbild. Der Drang in die Senkrechte erweckt den Eindruck, dass vom zerstörten Nürnberg ein gotischer Umriss erhalten geblieben ist. So erfüllt Bösch die Anweisung Wagners: „Den Vordergrund nimmt der freie Raum vor dem Chor ein.“

 


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