Als der am 28. November vergangenen Jahres verstorbene Regisseur Luc Bondy im September 2009 an der Metropolitan Opera in New York seine Inszenierung der „Tosca“ herausbrachte, erging es ihm wie dem Helden von Giacomo Puccinis Oper. Beziehungsweise fast. Aus dem Riesensaal erscholl ein Buhchor, wie ihn die New Yorker, die nur von Kurzbesuchern für unhöflich gehalten werden, seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt hatten. Bondy glaubte, sein letztes Stündchen habe geschlagen. Dem Interviewer André Müller erzählte er später: „Es fehlten nur noch die Gewehre, sonst hätte man mich erschossen.“
Den Schießbefehl hatte Bondys Vorgänger erteilt, Franco Zeffirelli, dessen Produktion aus dem Jahr 1985 Met-Intendant Peter Gelb durch Bondys Deutung ersetzte. Während sich Bondy immerhin Auszüge aus Zeffirellis Inszenierung auf Video angesehen hatte, machte sich Zeffirelli nicht die Mühe, zur Begutachtung von Bondys Arbeit nach New York zu reisen. Er sprach sein Urteil in Abwesenheit und im Voraus, in einem Interview aus Rom.
Rom! Natürlich! Der wiedergeborene Scarpia macht aus dem abgeschmackten Klischee der Rückkehr des Täters an den Tatort eine überwürzte Wahrheit. Kaum ein Stück des Opernrepertoires bestimmt Zeit und Ort der Handlung so genau wie „Tosca“: Nachmittag und Abend des 17. Juni 1800, Rom, Sant‘ Andrea della Valle, Palazzo Farnese, Engelsburg. Und kein Regisseur exekutiert so streng wie Zeffirelli das Gesetz, dass der Originalschauplatz der Originalität der Inszenierung die Grenze zieht. Hätten die Reporter, die Zeffirelli das präventive Buh gegen Bondy zu entlocken hofften, ihn in Mailand oder Neapel erreicht, hätte er sich vor der Antwort gewiss noch schnell in den Zug nach Rom gesetzt.

Das New Yorker Kulturbürgertum, das den Abriss denkmalgeschützter Gebäude in der eigenen Lebensumwelt gewöhnlich mit Gleichmut hinnimmt, nahm es Bondy übel, dass die von Zeffirelli liebevoll rekonstruierten Sehenswürdigkeiten aus dem Baedeker im Bühnenbild von Richard Peduzzi nicht mehr wiederzuerkennen waren. Bondy ließ sich von Schmeichlern weismachen, der kollektive Wutausbruch sei mit den Sonderbedingungen der Galavorstellung zur Spielzeiteröffnung zu erklären. „Das normale Publikum“ in New York liebe seine Inszenierung, berichtete er in einem Interview mit der „Zeit“. „Das Premierenpublikum ist dort etwas anderes, man will die schicken, teuren Kleider zeigen, man möchte ein Event feiern – und wenn man dabei auf eine Bühne sieht, die einen verstört, dann wird protestiert.“
Neun Monate nach der Met-Premiere wurden mit Bondys „Tosca“ die Münchner Opernfestspiele des Jahres 2010 eröffnet. Bondys modesoziologische Theorie der New Yorker Opernwelt findet in der Münchner Gegenprobe wenigstens insoweit ihre Bestätigung, als an der Kleidung des Publikums der Bayerischen Staatsoper kein Abstand im Aufwand zwischen einer Premiere und einer normalen Vorstellung ins Auge fällt. Dass die Besucher mit ihren Kostümen einen eigenen Beitrag zum Gelingen des Gesamtkunstwerks Opernabend leisten, ist den meisten Münchnern und ihren Gästen selbstverständlich. Wo der Festcharakter einer Opernaufführung ohnehin nie in Vergessenheit gerät, ist es konsequent, dass die jährlichen Festspiele in den letzten fünf Wochen der Spielzeit hauptsächlich Repertoirevorstellungen mit besonders guten Besetzungen bieten.

Staatsopernintendant Nikolaus Bachler wird darauf hoffen, dass zufriedene Festspielbesucher sich nach der Vorstellung daheim noch einmal umziehen und ihre schicken, teuren Beinkleider gegen die großen Spendierhosen mit roten Streifen eintauschen. In der Pause der zweiten Aufführung der in dieser Festspielsaison wiederaufgenommenen „Tosca“ fragte auf den Stufen der Freitreppe des Nationaltheaters ein Herr im Janker einen anderen: „Wie viel muss man wohl spenden, damit das hier umgebaut wird?“
Egal, was man auf der Bühne gesehen hat, der Blick hinaus auf den Max-Joseph-Platz erfreut und verstört zugleich. Er könnte viel schöner sein, wenn die Einfahrt zur Tiefgarage nicht wäre – und die Parade der Reisebusse. Als Bachlers Intendantenkollege Martin Kušej kürzlich auf der Jahrespressekonferenz des Residenztheaters nach der Zukunft des Platzes gefragt wurde, verwies er auf die Zuständigkeit des Nachbarn, die für ihn offenbar aus dem repräsentativen Charakter der Gattung Oper folgt, dem Ausgreifen des Opernhauses in die Umgebung: Wenn der Max-Joseph-Platz ein neues Kleid bekommen soll, muss die Initiative von der Staatsoper ausgehen. Tatsächlich hat sie im vergangenen Jahr Entwürfe von Studenten der TU München für eine Neugestaltung des Platzes präsentiert.
Schon die Kartenpreise sorgen dafür, dass man den Besuchern der Bayerischen Staatsoper und zumal der Opernfestspiele den Wunsch unterstellen kann, ein Event zu feiern. Die allermeisten von ihnen würden allerdings wohl von einem Ereignis sprechen. Gehört zu diesem Ereignisbegriff auch der Einbruch des Inkommensurablen im Geiste von Karl Heinz Bohrer, die Begegnung zwischen einem Sonnenschirm und einer Horde Segway-Fahrer vor einem Königsdenkmal?
In München wird die Bondy-„Tosca“ nicht mit Protest aufgenommen. Das liegt freilich daran, dass die Festspielbesucher auf Peduzzis Bühne beim besten Willen nichts Verstörendes entdecken können. Die Streichung der stummen Totenliturgie am Ende des zweiten Aktes, wo das Libretto Tosca anweist, brennende Kerzen zu beiden Seiten von Scarpias Leichnam aufzustellen, wurde in New York als Sakrileg verdammt. In München wird Bondys Reduktionismus als minimalinvasiver Regiestil begrüßt. Im Parkett war in der Pause ein Ausruf der Erleichterung zu hören: „Endlich einmal eine konventionelle Inszenierung!“
Aus der Welt der theatralischen Konvention ins Reich der reinen Leidenschaft führt der kurze Weg Toscas in dieser Oper aller Opern. Hinter der Bühne singt sie im zweiten Akt in Gegenwart der bourbonischen Königin von Neapel eine Kantate, während vorne der römische Polizeichef die Tat plant, der sie kurzentschlossen zuvorkommt. Gleich mit den drei Eröffnungsschlägen des Vorspiels der Oper markierte Generalmusikdirektor Kirill Petrenko am Pult des Bayerischen Staatsorchesters Grundtempo und Bewegungsrichtung des Werkes: In aller Schnelle geht es abwärts. Toscas Messerstich nahm diese Geste ebenso vorweg wie ihren Sprung von den Zinnen der Engelsburg.

Im ersten Aufzug werden die Motive von Verdacht und Verrat in der heiteren Variante der Liebesspielereien eingeführt. Diese von den politischen Händeln schon längst überholte Gegenwelt des Tändelns kostete Petrenko aus, indem er die Oberfläche des Orchesterklangs polierte, ihn flirren, klirren, schwirren ließ. Für die Wirkung des Ganzen war entscheidend, dass die Tosca von Anja Harteros nie kokett wirkte. Diese Diva „spielt“ die Eifersüchtige, wie sie es ihrer Würde schuldig ist, und probt unwillentlich den Ernstfall. Im vollen, runden, reinen Ton der Harteros wurde die klassische Schönheit plastisch gegenwärtig, deren bauliche Symbole Bondy entfernt hatte.
Jonas Kaufmanns Cavaradossi schwang sich ohne Anstrengung in die Höhe: ein altersloser Heroismus aus dem Halsgelenk. An Scarpia ist die Zeit dagegen vorbeigegangen, und durch keinen Befehl kann er sie wieder einholen. In Bryn Terfels Interpretation wirkte der Dunkelmann fahl und so wirklich unheimlich: ein Bösewicht nicht von Natur, sondern von Kultur aus, gefährlich als Gefangener seiner Obsessionen. Jämmerlich, nicht erbarmungswürdig: ein Stalker, dingfest gemacht und zur Strecke gebracht von einem Bleikammersänger.

Wenn Maler und Sängerin sich vereinen im Duett des dritten Aufzugs, was kann dabei herauskommen? Besiegelt die wechselseitige Täuschung der bedingungslos Liebenden nicht die Trivialität der gesamten Konstruktion? Realitätsverlust wird mit dem Tod bestraft: Wer sich diese Lektion zu Herzen nähme, müsste sein Opernabonnement kündigen. Wenn man Anja Harteros und Jonas Kaufmann sah und hörte, ereignete sich etwas wie eine Transzendierung der Illusion: Diese Tosca und dieser Cavaradossi mögen wohl geahnt haben, dass ihre mit letzter Inbrunst ausgemalte und besungene gemeinsame Zukunft nur eine Metapher des Glücks war.