Thomas Quasthoff singt nicht mehr. Jedenfalls nicht im Klassikbetrieb. Der Bariton tritt in keiner Oper auf und stimmt öffentlich keine Schubert-Lieder an. Er geht aber weiter auf Tour. Zum Beispiel bringt er Werke des 2005 verstorbenen Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch zum Vortrag, den er seit seinen Studententagen bewundert. Gelegentlich singt Quasthoff dann auch, denn Hüsch fiel sozusagen ganz natürlich aus dem Reden ins Singen. Die allmähliche Verfertigung seiner Gedanken, die seine sorgfältig gebauten Nummern simulierten, strebte nach der musikalischen Form, einer Art Grundform, der Schlichtheit des Kinderlieds. Zum neunzigsten Geburtstag von Hüsch erschien im vergangenen Jahr eine angeblich vollständige Ausgabe seines literarischen Werks, leider nur im E-Book-Format. Zu einem der Bände, den Monologen des Bekenntnisartisten Hagenbuch, hat Quasthoff das Vorwort beigesteuert. Damit setzt er einen erfreulichen Kontrapunkt zur postumen Aneignung Hüschs durch den Klerus, zumal den evangelischen.
Die meisten Hüsch-Anthologien wurden von Pastoren oder Bischöfen herausgegeben. Man sollte sich wohl nicht ärgern über die Verwandlung eines nur hier und da, mit Absicht und Kunstverstand erbaulichen Autors in einen Erbauungsschriftsteller, sondern diese Editorenfleißarbeiten lieber als Exerzitien der Demut würdigen – machte Hüsch sich doch liebend gern über die intellektuelle Bewirtschaftung der Glaubensreste durch hauptamtliche Gottesdiener lustig. Als Denkmal der Bedeutung der evangelischen und katholischen Akademien für die Kulturgeschichte der frühen und nicht mehr ganz so frühen Bundesrepublik steht in einem der Texte des von Quasthoff bevorworteten Bandes „die weltberühmte Akademie Sankt Bitter in den Feldern“, vielleicht schon im Herbst des Mittelalters, während der Hochblüte der Bitterverehrung, „in Form eines alten Quadraturhofes gebaut“. Während der „ebenso weltberühmten anhaltenden Auseinandersetzungswochen, Anreise Freitagabend, Abreise Sonntag gegen Mittag“, sucht man hier nach der Quadratur der Kreise, in denen sich die ethische Debatte der Gegenwart dreht.
Die unter dem Titel „Hagenbuch und die Körperertüchtigung“ festgehaltene Konfession, die Hagenbuch in Sankt Bitter in den Feldern abgelegt hat, ist eine „strikte Absage“ an eine säkulare Religion, den Kult der ewigen Bewegung und des durchtrainierten Leibes. „Hagenbuch hat jetzt zugegeben, dass er jeder sportlichen Tätigkeit sowie jeder Leibeserziehung und jeder sogenannten Körperertüchtigung strikt aus dem Wege gehe. Strikt.“ Im Geiste Pascals verkündete Hagenbuch, die Menschheit solle sich zur Ruhe setzen, in einem „schönen alten Sessel mit hoher Rückenlehne und ausladenden Seitenarmen“. Die versammelten Schriftgelehrten, zunächst „der Soziologe Meier-Büsche“, dann auch „der berühmte Ellersieck aus Würzburg, der berühmte Klecksendorff aus Tübingen und der berühmte Mackensen aus Göttingen“, reagierten sportlich, nicht im geläufigen übertragenen Sinne des Wortes, sondern buchstäblich, was Hagenbuchs Fanatismusthese bestätigte: Sie brachten statt Argumenten Wurfhände zum Einsatz und schleuderten Tomaten, Erdnüsse und Apfelreste. Derartig unter Beschuss geraten, rief Hagenbuch gegen die vereinten Ordensritter des heiligen Bitter seine weltlichen Schutzpatrone an: „Wenn es sein müsse, schreie er auch das ganze Abendland zusammen, damit man ihm zu Hilfe käme, Erasmus von Rotterdam, Seneca, Hölderlin, Vincent van Gogh, Franz von Assisi, Arnold Schönberg, Paul Klee, William Shakespeare, Scott und Amundsen.“

Scott und Amundsen. Scheinbar fallen sie aus der chronologisch sortierten Reihe heraus. Schließlich haben sie keine literarischen oder künstlerischen Werke ins Schatzkästlein des abendländischen Hausfreundes gelegt, falls man hier nicht „The Voyage of the ‚Discovery‘“ und die postum entdeckten Tagebücher von Scott anführen möchte. Hat man Miroslavs Srnkas Oper „South Pole“ bei den Münchner Opernfestspielen gesehen, dann schieben sich die Bilder aus dem Nationaltheater hinter die Szene aus Sankt Bitter in den Feldern, und man begreift, weshalb Hagenbuch sich während seiner Predigt wider den Sport am Doppelpolarstern der Avantgardisten der Antarktisforschung orientierte.
Scott und Amundsen: Die Gewissheit der volkstümlichen Erinnerung, dass die Konkurrenten zusammengehören, obwohl sie sich nie begegnet sind, übersetzt Srnka, dem Anspruch der „großen“ Oper auf ästhetische Konsequenz verpflichtet, in ein Schema, das in der Uraufführungsinszenierung von Hans Neuenfels strikt eingehalten wird. Strikt. Der Quadraturhof der Bühne ist zweigeteilt durch einen Balken, eine Freundschaftslinie, wie sie einst der Papst gezogen hat, als Spanier und Portugiesen die Welt untereinander aufteilen wollten. Die Intendanz hatte die einzige Festspielaufführung von „South Pole“ auf einen Tag gelegt, an dem keine Begegnung der Europameisterschaft auf dem Fußballspielplan stand. Es wurde eine radikalisierte Variante dessen geboten, was man im typischen EM-Spiel gesehen hatte: Beide Mannschaften waren immer gleichzeitig auf dem Feld und blieben in der eigenen Hälfte.

Sogar im zweiten Teil der „Doppeloper“, wenn sich das emotionale Gewicht zwangsläufig auf den Todeskampf der englischen Mannschaft verlagert, bleiben die Norweger als Kontrastfiguren präsent. Amundsen (auch durch die Statur imposant: Thomas Hampson) hat die grau-fleckige Robbenfelluniform gegen den Frack eingetauscht, als wäre er gerade auf dem Weg zum Nobelpreisbankett. Um den Preis in welchem Fach entgegenzunehmen? Wahrscheinlich Medizin, wegen des Kunststücks, die Ernährung seiner Männer sicherzustellen.

Bei der Schlachtung der (englischen) Pferde und der (norwegischen) Hunde im ersten Teil ist kein Blut geflossen. Die Schwarz-Weiß-Optik bleibt intakt. Fleischfarbenes wird erst sichtbar, als Oates, der sich für die Kameraden opfert, seinen erfrorenen Fuß aus dem Stiefel zieht. Selbst zu diesem Schock gibt es das Komplement auf der Seite der Norweger, die das Glück der Ertüchtigten genießen: In demselben Rosa glänzen die Hundefleischstücke, die Amundsens Leute auf dem Rückweg vom Pol dort ausgraben, wo sie sie eingegraben hatten. Wo Amundsen hinwollte, gibt’s keine Eisschränke voller Leckerbissen. Nur Eis ohne Schrank. Er hat’s überlebt. Auch Scott beobachtet seinen Fuß, der schwarz wird, wie die Uniform der Engländer.
Hagenbuch gibt an, dass er dem Sport schon als Kind verloren gegangen sei, als seine Eltern ihn „jeden Sonntag rund um die Stadt über den sogenannten Wall einer ehemaligen Stadtbefestigungsmauer geschleift“ hätten, mit dem Ergebnis, dass er „seine Füße habe kaum noch empfinden“ können. Hier deutet der Autobiograph voraus auf seine abendländische Heiligenlitanei: Scott und Amundsen wiesen ihm unsichtbar schon als Vierjährigem den Weg. Allerdings nicht zum Sessel. Wie soll man das verstehen?
Vom Ende her fällt ernüchterndes Polarlicht auf Hagenbuchs Beteuerung, „dass seine einzige, wenn überhaupt, sportliche oder auch körperliche Betätigung in ausgedehnten Spaziergängen zu sehen sei“. Wie die Karriere von Scott und Amundsen zeigt, ist ein hinreichend ausgedehnter Spaziergang die schlimmste Sportprüfung. Hagenbuch scheint blind dafür, dass er sich mit seiner Privatphilosophie der Sportverneinung im Habitus den Extremsportlern anverwandelt. Seine Ausdauerdisziplin ist der extrem lange Satz. Eine Ahnung davon scheint er abzuwehren, wenn er darlegt, „seine endlosen Spaziergänge“ seien überhaupt „keine Spaziergänge, sondern Gedankengänge, endlose Gedankengänge“. Das aber gilt bei Srnka auch für Scott und Amundsen, die im Weißraum des Bühnenbilds von Katrin Connan keinen physischen Weg zurücklegen, sondern sich von einem Gedanken zum nächsten hangeln.

In Sankt Bitter in den Feldern umkreist Hagenbuch den Gedanken, „dass der augenblickliche Gesundheitsdruck ein Leistungsdruck und der augenblickliche Leistungsdruck ein Krankheitsdruck“ sei, „der wieder einen Gesundheitsdruck nach sich ziehe“, und so weiter, bis zur Erschöpfung. Dieser Gedanke geht Hagenbuch nicht nur im Kopf herum, sondern treibt ihn wirklich um und dazu an, der Akademie aufs Dach zu steigen und die Akademiefahne einzuholen, „ein Tuch mit weißem Ausrufungszeichen auf blauem Grund“, von Hagenbuch auch „Unfehlbarkeitsfetzen“ genannt. Diese Aktion im Zeichen der Fehlertoleranz ist die Rücknahme von Amundsens Landnahme im Niemandsland, der Widerruf der Platzierung der norwegischen Flagge auf dem Punkt des Pols.
Wird Srnkas Oper den Sprung ins Repertoire schaffen? Wie kommt das Werk beim Publikum an? In den Pausengesprächen dominierte die Anerkennung für die Leistungen, die körperlichen wie die logistischen. „Das ist nicht ohne!“ Das Durchhaltevermögen der Sänger stieß ebenso auf Bewunderung wie ihre Konzentration. „Die schauen schon alle ganz streng zum Dirigenten.“ Und der Dirigent, Generalmusikdirektor Kirill Petrenko, schaut zurück. „Was ich toll finde, ist, dass der Petrenko jeden Einsatz gibt! Jeden Einsatz!“

In der serösen Opernkritik wurde naturgemäß die auf der Hand liegende Frage nicht angesprochen, ob Rolando Villazón auch wegen der physiognomischen Ähnlichkeit mit Rowan Atkinson alias Mr. Bean auserkoren wurde, den unglücklichen Anführer der Engländer zu spielen. Für den Tenorhelden, der beim Studium seiner Partie den Ehrgeiz hatte, melodische Verbindungen zwischen den gottverlassen isolierten Tönen zu entdecken, gilt auf alle Fälle, dass er wie der echte Kapitän Scott den letzten Einsatz gibt.
Absolut verdient daher das Pausenlob, das alles Unbehagen gegenüber einer unvertrauten Klangwelt zurückstellte: „Aber es ist eine unglaubliche sängerische Leistung.“ An einem erwartungsgemäß als modern, das heißt abweisend und unübersichtlich erlebten Werk kann der als riesenhaft imaginierte Arbeitsaufwand ohne weiteres geschätzt werden: Der Respekt für den technischen Erfolg vertritt dann das ästhetische Urteil. So gehört die Oper zum Sportsystem des Leistungsdrucks. Was nur mit vereinten Kräften gelingen kann, ist erst einmal imposant. Weder Amundsen noch Scott hätte den Pol alleine erreicht. Daher gab es Sonderlob für die unsichtbaren Helfer. „Auch die Souffleuse hat sich bemüht.“ Dass das nötig war, heißt allerdings, dass es wenigstens mit einer Übernahme nach Frankfurt schwierig werden dürfte. Wie Kammersänger Franz Mayer gerade in einem Interview aus Anlass seines Eintritts in den Ruhestand beklagte, lehnt der Frankfurter Intendant Bernd Loebe nämlich die Installation eines Souffleurkastens ab.
Unmittelbar vor der Anrufung der Aufhalter des Untergangs des Abendlandes malt Hagenbuch dem Akademiepublikum aus, wie er nicht sterben will: „weder an einen Barren gekettet noch an ein Reck gefesselt“. Er „wolle dann lieber jahrelang auf einen Punkt sehen“. Ihm hätte „South Pole“ gefallen.