Hier spricht Berlin

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Notizen, Beobachtungen, kleine Geschichten und Stilkritiken aus der Redaktion des Sonntagszeitungs-Feuilletons - und die sitzt nun einmal in Berlin.

Ein alter Mann macht Führerschein (I): Rückblende

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(Morgen, ausgerechnet am sogenannten Führergeburtstag, geht es los mit dem Führerschein – und um noch mal die Voraussetzungen zu klären, kommt hier...

(Morgen, ausgerechnet am sogenannten Führergeburtstag, geht es los mit dem Führerschein – und um noch mal die Voraussetzungen zu klären, kommt hier erst mal eine kleine Rückbleden: Der Stand meiner Bemühungen am Anfang dieses Jahres.)

Am Montag werde ich meinen Antrag auf Ausstellung eines Führerscheins bei der zuständigen Behörde abgeben. Zehn Wochen, heißt es, werde die Bearbeitung dauern, zehn Wochen, das ist das Zeitmaß dieser Stadt, die angeblich so schnell und so lebendig ist. Es gibt hier, in der sogenannten Hauptstadt, mehr Beamte pro Quadratkilometer als irgendwo sonst, und jeder Verwaltungsakt dauert dreimal so lang. Zehn Wochen habe ich dann Zeit, das Fahren zu üben und die Regeln zu lernen bei der Fahrschule in Alt- Reinickendorf, die, deshalb gehe ich ja hin, angeblich schon mit ganz anderen Fällen fertig geworden ist. Die Übungsbögen zur Theorie, haben sie am Telefon gesagt, dürfe ich mir schon in der nächsten Woche holen, und als ich fragte: „Theorie? Was für eine Theorie? Wenn die paar Verkehrsregeln schon eine Theorie sind: Wie nennt man denn dann die Quantenmechanik?“, meinte meine Frau, dass ich mit diesem Hochmut nicht einmal ein Mofa fahren dürfte.

Ich habe jetzt alles beisammen: Sehtest bestanden, und der Erste-Hilfe-Kurs war nicht so grausam, wie ich mir ausgemalt hatte: zwanzig Teenager und dazwischen ich, dreißig Jahre älter, der Opa, den das Grinsen der Jungen so verunsichernwürde, dass er schon an der stabilen Seitenlage scheiterte. 

Es waren aber, ein paar Tage vor Weihnachten, nur vier Menschen gekommen, ein Mädchen und ein Junge, beide um die achtzehn, und ein Mann, der nicht gut Deutsch konnte und aussah, als ob er auch schon über dreißig wäre. Die Kursleiterin war keine dreißig, sie duzte mich trotzdem und tat so, als sähe man mir mein hohes Alter nicht an. Aber als wir, in kleinen Rollenspielen, üben sollten, den Stress zu überwinden und eine hilflose Person in die notorische stabile Seitenlage zu rollen, da befahl sie mir, ich möge mich hinlegen, und zu der Achtzehnjährigen sagte sie: Stell dir vor, dein armer alter Vater hat sich ans Herz gefasst, ist vom Stuhl gerutscht und gibt keinen Ton mehr von sich… Dann musste sich der Mann, der nicht so gut Deutsch konnte, hinlegen, und ich sollte mir folgende Situation vorstellen: eine dunkle Straße, du hörst Schreie, Schritte, und auf dem Pflaster liegt ein Mann, der hat ein Messer in der Schulter… O je, sagte ich, ich bin Brillenträger, und dass ich mich das letzte Mal geprügelt habe: Das muss zu der Zeit gewesen sein, als ich zum ersten Mal daran dachte, den Führerschein zu machen. Unterlassene Hilfeleistung ist strafbar, sagte die Kursleiterin, und ich vergaß das Messer, das nur ein vorgestelltes war, und rollte den Mann in die vorgeschriebene Position.

Im Mai 1977 habe ich das Abitur bestanden, im Juni bin ich achtzehn geworden; zur Belohnung gab es eine runde kleine Summe, die damals gereicht hätte für den Führerschein und einen gebrauchten 2 CV, und nach der zweiten Stunde lobte mich der Fahrlehrer als einigermaßen begabt. Aber der Sommer war lang, das Semester fing erst im November an, ich hätte in der Stadt bleiben müssen für den Führerschein, und als ich, Ende September, nach einer Woche Zelten am Lago Trasimeno ins Hotel zu ziehen beschloss, wo es eine herrliche Badewanne und eine sonnige Loggia gab, hatte ich vier Fahrstunden. Und vom Geld nicht mal mehr die Hälfte.

Während des Studiums war das Budget zu knapp, und als ich endlich Geld verdiente, war ich sechsundzwanzig und kam mir uralt vor neben jedem Achtzehnjährigen; ich wohnte immer nahe einer U-Bahn-Station, und wenn es darum ging, in die Berge zu fahren oder quer durch Amerika, hatte ich Freunde, Verwandte, saß auf dem Beifahrersitz und hatte die Landkarte in der Hand. Führerschein, habe ich gesagt, wenn mich jemand danach fragte, Führerschein: was für ein Wort. Angesichts der deutschen Geschichte will ich keinen Führerschein.

Jetzt wohne ich am Rand der Stadt, es ist schön da draußen, die S-Bahn braucht fünfundzwanzig Minuten zur Friedrichstraße. Zum Getränkemarkt, vier Kilometer, bin ich neulich bei fünf Grad minus mit dem Rad gefahren; meine Finger brauchten drei Stunden, um aufzutauen. Der Supermarkt ist nur zweieinhalb Kilometer entfernt. Der Weinhändler liefert erst, wenn man für 500 Euro bestellt.

Ich brauche gar kein Auto. Ich brauche einen Kofferraum. Mit vier Rädern, vier Sitzen, einem Motor.
 


1 Lesermeinung

  1. tberger sagt:

    Ohne die weiteren Geschichten...
    Ohne die weiteren Geschichten abschneiden zu wollen – aber ich würde mir kein Auto, sondern wärmere Handschuhe und einen Anhänger für das Fahrrad kaufen. Ich bin so zwölf Jahre lang sehr gut zurandegekommen… Aber bitte, aus Sicht des Publikums sind Fortsetzungen natürlich sehr willkommen.
    Beste Grüße, Thomas Berger.

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