Hier spricht Berlin

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Notizen, Beobachtungen, kleine Geschichten und Stilkritiken aus der Redaktion des Sonntagszeitungs-Feuilletons - und die sitzt nun einmal in Berlin.

Ein fast schon Erwachsener macht den Führerschein (IV): Was ist die Bestimmung des Autos?

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Der Theorie-Unterricht (ich hab mir abgewöhnt, von der sogenannten Theorie zu sprechen) hat heute Fragen aufgeworfen, deren Wucht mich fast umgehauen...

Der Theorie-Unterricht (ich hab mir abgewöhnt, von der sogenannten Theorie zu sprechen) hat heute Fragen aufgeworfen, deren Wucht mich fast umgehauen hat.
Anfangs habe ich die Sache ja sehr wohlwollend betrachtet, irgendwie einverstanden mit dem Unterricht, dem Lehrer und mir selbst – was wohl daran lag, daß der Lehrfilm, in welchem wie sehen konnten, wie man richtig schön langsam fährt und den Blinker bedient, daß dieser Film im offenbar im Voralpenland gedreht worden ist; in den häßlichsten Siedlungen von Wolfratshausen oder Bad Tölz zwar; aber immerhin sah man dauernd die Berge im Hintergrund, was ja einerseits einen unwiderlegbaren Charme hat. Und andererseits verführen diese Bilder den Lehrer dauernd zu den falschen Schlüssen. Wenn er von Schnee und Eis spricht, von Steigungen, Serpentinen, vom Steinschlag oder der Möglichkeit, daß Wildschützen die Fahrbahn beschießen, daß Steinböcke aufs Dach springen oder der Ortsunkundige angesichts einer einer lila Kuh einen Schock bekommen könnte, dann sagt er immer: Wir hier im Flachland kennen das ja gar nicht. Aber auch Flachlandbewohner kämen ja vielleicht mal nach Bayern.
Darf ich auch mal was an die Tafel zeichnen, habe ich gefragt, und dann habe ich die Umrisse Bayerns aufgemalt; und nur ganz im Süden, diese schmale Fläche hier, habe ich erläutert, das sind echte Berge. Meine Mitschüler waren unbeeindruckt: Das seien immer noch erheblich mehr Hochalpen, als es in Brandenburg oder Sachsen-Anhalt gebe.
Später haben wir uns Photos angeschaut, Radfahrer, Schulbusse, Trambahnhaltestellen, und der Lehrer hat gefragt: Was könnte denn hier alles passieren.
Die richtigen Antworten gingen ungefähr so: Schüler könnten die Fahrbahn betreten, Radfahrer unregelmäßige Linien fahren.
Und ich saß da, mit meinem Kopf, meinem vollen, der nicht aufhören konnte, sich auszumalen, ja sich richtiggehend vor Augen zu führen, was da alles geschehen könnte: Die Erde könnte sich auftun und den Radfahrer verschlingen. Ein Feuer könnte vom Himmel fallen und falsch abgestellte Baustellenfahrzeuge zum Schmelzen bringen. Ein Wolf könnte aus der Trambahn springen. Ein Hubschrauber könnte landen, mitten auf der Fahrbahn.
Ich hielt meinen Mund und dachte voller Entsetzen an die nächste Fahrt, über Land, nach Bernau und Wandlitz, wo, wie ich glaubte, schon ganz andere Dinge geschehen sind.
Zum Abschluß, als wir einen hypothetischen Rechtsfall diskutierten, sagte der Lehrer noch: Die Bestimmung eines Kraftfahrzeugs ist es, angetrieben von einem Motor zu fahren.
Bestimmung. Lange nicht mehr gehört, diesen Begriff; ausgerechnet die Straßenverkehrsordnung weist mich wieder auf die Fragen der Metaphysik.
Wie komme ich da nur wieder raus? Wann werde ich aufhören, darüber nachzudenken, ob meine Bestimmung das Fahren sei.


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