Hier spricht Berlin

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Notizen, Beobachtungen, kleine Geschichten und Stilkritiken aus der Redaktion des Sonntagszeitungs-Feuilletons - und die sitzt nun einmal in Berlin.

Schaffe ich den Führerschein, bevor ich pensioniert werde? (V): Mein Schutzengel hat ein Bremspedal

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Die Stimmen werde ich vermissen. Die Stimmen, die sagten: Fahr geradeaus! Bei der nächsten Ampel links! Oder auch: Richtung Wandlitz, bei der nächsten...

Die Stimmen werde ich vermissen. Die Stimmen, die sagten: Fahr geradeaus! Bei der nächsten Ampel links! Oder auch: Richtung Wandlitz, bei der nächsten Gelegenheit.
Ich bin jetzt neun Tage weg gewesen, in einer Welt der Hingabe, des Vertrauens – es war fast so, als hätte ich am vergangenen Montag die Abzweigung zurück in Richtung Kindheit genommen. Der Lehrer sagte: Fahr los. Ich wußte, daß es richtig war. Der Lehrer sagte: Du mußt hier nicht bummeln. Ich drückte aufs Gaspedal, und wenn mir das Tempo zu hoch vorkam, wußte ich doch, daß mir nichts passieren würde. Ich würgte den Motor ab. Der Lehrer sagte: Es ist alles gut.
Es gab, in dem Leben, das ich ein paar Tage lang geführt habe, eine zweite Bremse, eine zweite Kupplung, ein zweites Gaspedal – und abends, wenn ich mit der U-Bahn nach Hause fuhr, wünschte ich mir, es möge immer so sein.
Heute morgen ist ein Fremder auf den Rücksitz gestiegen, ich habe seinen Namen nicht verstanden, und aus seinem mageren Gesicht heraus hat er mich streng angeschaut. Er war der sogenannte Prüfer, und naturgemäß hat er mich nervös gemacht. Er hat sich hingesetzt, er hat eine Aktenmappe in die Hand genommen und mit einem Kugelschreiber kleine Kringel in ein Formular gemalt. Es kann losgehen, hat er dann gesagt, ich habe den Moto gestartet, den Blinker aktiviert, und als er sagte: Biegen sie bitte links ab – und dann gleich wieder rechts, da wußte ich, daß mir nichts passieren konnte.
Als ich, mit meinem neuen Führerschein in der Brieftasche, in der Innenstadt ankam und aus der S-Bahn ausstieg, fiel mir auf, daß ich sehr vorsichtig den Bahnsteig überquerte, auf der Rolltreppe erstmal schaute, ob jemand von rechts käme, und draußen, auf der Friedrichstraße, machte ich erst den Schulterblick, bevor ich einen anderen Passanten überholte, und den Gegenverkehr habe ich kaum behindert.
Und als ich die völlig sinnlose Ampel, kurz vor meinem Arbeitsplatz, zum allerersten Mal in meinem Leben, erst bei Grün überquerte: Da wußte ich, daß mir noch immer einer zuschaut.
Ich hörte keine Stimmen. Aber ich wußte: Sie waren da.


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