„Kinder, wir fahren heute zum Humboldthain!“

Hätte ich ein bisschen nachgedacht, wäre mir vielleicht die Durchsage wieder eingefallen, die beim Erreichen des Bahnhofs Ostkreuz immer in der S-Bahn kommt: „Wegen Bauarbeiten am Nord-Süd-Tunnel …“ sei zwischen S-Bahnhof Gesundbrunnen und Yorkstraße komplett tote Hose, weswegen die freundliche S-Bahnstimme auch empfiehlt, die ganze Chose mit der Ringbahn bis 4. Mai „weiträumig zu umfahren“.
Der S-Bahnhof Humboldthain liegt zwischen Gesundbrunnen und Nordbahnhof und ist somit betroffen. Wir steigen am Gesundbrunnen aus und normalerweise kann man auf dem Bahnsteig bleiben und muss nur auf dem Nebengleis in die S-Bahn steigen, schon geht es weiter. Stattdessen gibt es SEV, Schienenersatzverkehr. Es gibt wenige Abkürzungen, die einer Berlinerin in Sachen ÖPNV derart auf den Magen schlagen können, wie die drei Buchstaben S, E und V.

Meine letzte Erfahrung mit dem SEV liegt weit zurück. So sehr versuche ich seither, dieses Ärgernis zu vermeiden. Damals habe ich wegen miserabler Beschilderung und wegen des einfach davonrasenden und mein Winken ignorierenden Busfahrers summa summarum eine gute halbe Stunde verloren.
Ein paar Jährchen später stehe ich also am S-Bahnhof Gesundbrunnen und bei mir sind zwei kleine Kinder. Ich seufze tief, aber umkehren finde ich eine doofe Idee, also erfinde ich ein Spiel: Ich erkläre den beiden die Situation und sage: „Mal sehen, ob ihr Kinder es schafft, die Haltestelle des SEV-Busses zu finden.“ Das große Kind kann lesen und das kleine versteht immerhin, was Pfeile bedeuten. Also machen sie sich wie die Pfadfinder auf den Weg. Und was soll ich sagen: Respekt, liebe BVG S-Bahn Berlin! Dieses Mal habt ihr es wirklich geschafft, die Schilder, die zum Bus bringen sollen, so aufzustellen, dass selbst Kinder den Weg finden und das in nur 10 Minuten. Ich bin beeindruckt!

Der Busfahrer ist von der Sorte „machen’se hin! Ick hab nich den janzen Tach Zeit!“ und grad sind wir eingestiegen und ich fummele noch in meinem Rucksack nach dem Semesterticket, da raunzt er nur „‘n Fahrschein will ick nich sehn!“ und tritt ordentlich aufs Gaspedal. Das kleinere Kind wird gegen eine Metallstange geschleudert und stößt sich den Kopf.
Der Humboldthain ist ein Volkspark, der im Jahre 1869, am 14. September, dem 100. Geburtstag Alexander von Humboldts, zu bauen begonnen worden und nach sieben Jahren fertig gestellt war. Er bietet eine Rodelbahn, die aus Kriegstrümmerschutt besteht und im Sommer manchmal für Open Airs der Berliner Technoszene genutzt wird. Es gibt ein Sommerbad mit einer Rutsche, deren bloßer Anblick meinen Kindern ein Leuchten in die Augen zaubert („Mama, wir müssen hier unbedingt noch einmal her, wenn es warm ist!“), die Humboldthöhe als Aussichtsplattform mit schöner Sicht und eine Krokuswiese, die Besuchern im Februar Mut macht, denn sie sagt: Keine Angst, der Frühling ist nicht mehr weit. Schau hier, da habe ich ein Schneeglöckchen für dich und von den Krokussen (mein Vater sagt zum Scherz immer „Krokeen“) gucken schon die grünen Spitzen. Sogar einen Weingarten gibt es hier! Im Internet lese ich später, dass hier jährlich etwa 200 Flaschen Hauptstadtsekt gekeltert werden. Die Weinsorte: Grauer Burgunder aus Achkarren am Kaiserstuhl. Jedes Jahr im Oktober findet die Weinlese statt. Kann man sich mal merken.

Außerdem ist der Humboldthain ein beliebter Ort für sportliche Menschen, die auch bei Minusgraden das Laufen praktizieren. Brrrrrrrr …

Mir ist hingegen irgendwann kalt und die Kinder haben Hunger. Deswegen kehren wir in einem neu eröffneten Imbiss direkt am geschlossenen S-Bahnhof ein. Hier wird „Multikulti“ gelebt, denn hinter dem Tresen kochen eine Asiatin und zwei mutmaßliche Türken nebeneinander ein Imbissangebot, das sich von Asianudeln mit Gemüse oder Huhn, über türkische Pizza, Linsensuppe, Dönerteller mit Pommes bis hin zum klassischen Schnitzel erstreckt. Draußen hängen unzählige Luftballons, wie sie irgendwann in der Berliner Schnellimbiss-Szene für Eröffnungen obligatorisch wurden. Daneben rote chinesische Lampions. Rote Lampions beschreiben fröhliche Ereignisse.
Asia-Imbiss und Dönerbude sind miteinander verschmolzen. Ich bestelle eine Linsensuppe für mich und eine große Portion Pommes für die Kinder und lausche den Gesprächen hinter der Theke. Die Asiatin spricht sehr gebrochenes Deutsch und sie hat keine sonderlich kräftige Stimme. Will sie dem türkischen Kollegen am Dönergrill etwas mitteilen, braucht sie häufig drei Anläufe, bis er sie versteht. Das eine Mal resigniert sie einfach und rührt weiter in den Pfannennudeln und wenn es ums Kassieren geht, hat sie offenbar keine Befugnis. Das macht er.

Mit dem SEV geht es zurück zum Gesundbrunnen. Es war ein angenehmer und ruhiger Ausflug. Der Humboldthain ist momentan ein Geheimtipp, denn während alle den Nord-Süd-Tunnel „weiträumig umfahren“, gibt es hier bis Mai einen Ort, an dem fernab des Berliner Großstadttrubels Krokeen blühen, Vögel zwitschern, Kinder spielen können und anschließend das multikulturelle Trio für kleines Geld einen soliden Imbiss anbietet, der nicht schlechter ist, als andernorts in der Stadt.
Nur ein praktischer Hinweis
Der textliche Einstieg mit dem SEV ist sehr reizvoll. Aber wenn man real in den Humboldthain möchte, kann man sich den SEV auch schenken und genausogut vom S-Bahnhof Gesundbrunnen zu Fuß in den Hain begeben. Dieser Bahnhof liegt wie der S-Bahnhof Humboldthain am Rand des Parks, nur natürlich an einem anderen.
das ist natürlich korrekt, aber das hätte sich wie Schummeln angefühlt, denn ich wollte ja nicht nur zum Park, sondern im Rahmen dieses Blogs zur *Station Humboldthain* 🙂
Nur etwas Öl ins Feuer ...
Die S-Bahn gehört seit 1993 nicht mehr zur BVG. Insofern hat die BVG eher keine SEV-Schilder aufgestellt. Diesen Leistung ist nur der S-Bahn zuzuschreiben, die allerdings in den letzten Jahren reichlich Erfahrungen mit SEV und der Beschilderung sammeln konnte.
oha!
Fettnäpfchen-Alarm. und danke für den Hinweis.
rosengarten
Der Rosengarten unterhalb der Flaktürme wäre durchaus eine Erwähnung wert, wird im Frühling erst wieder eröffnet aber ist ab dann ein wundervoller Ort, meiest auch ruhig. Wenn man/frau Gegensätze mag, ist der Weg aus dem Wedding dorthin sehr zu empfehlen. Aus der Badstrasse kommend ist das dann ähnlich einer Oase in der Wüste.
Wunderbar! Weg und Umweg sind das Lebensziel - im Verein
mit Fruchtbarkeit und anderen, natürlichen Menschen … . Besser, schoener, warmherziger, wahrer und angenehmer konnte man es nicht sagen.
Und im Sommer das Freibad erst, womöglich mit selbtgemachtem Kartoffelsalat (die vielen selbstgeschnittenen Zwiebelstueckchen knirschen leise und exquisit zwischen den Zaehnen beim Kauen) und selbstgemachte Bulletten dazu, außerdem hat Mama ausnahmweie Pappteller mit, was die Exotik der Sache noch verstärkt. Und die Kinderaugen glänzen.
Und über allem wölbt sich der perfekte Berliner Sommerhimmel. Und auf der Aschenbahn direkt daneben läuft Jesse Owens fuer uns alle immer wieder Olympiasieg.
Und auf der Aschenbahn direkt daneben läuft Jesse Owens für uns alle
immer wieder Olympiasieg – raus aus dem Tunnel.
(Leider aus Versehen zu früh abgeschickt)
BERLIN!
Schöner Beitrag. Ich glaube, ich muss mal wieder nach Berlin…..
Die Humboldthöhe mit Aussichtsplattform...
ist der weithin sichtbare, noch immer dominante Rest eines Flak- und Luftschutzbunkers. Einer von einst drei Hochbunkern in Berlin und der übrig gebliebene. Die Wände waren so dick gebaut, dass der Bunker die Kriegszeit unbeschädigt überstanden hat und auch nicht gesprengt werden konnte, weil die damalige ostdeutsche Reichsbahnverwaltung, die die S-Bahn in West-Berlin jahrzehntelang betrieb, das untersagt hatte. Und so sind zwei von vier “Flakkanzeln” nicht abgebrochen worden, die beschriebenen “Aussichtsplattformen”. Wer da noch mehr Interesse hat, kann im Sommer Führungen eines sehr rührigen Vereins mitmachen, allerdings nur mit guter Kondition und festem Schuhwerk und sicherheitshalber nicht mit Kindern. Das Sommerbad ist im Sommer nur dann eine Idylle, wenn man völkerkundliche Studien treiben will, und sich selbst die Frage zulässt, ob wir da noch in Deutschland sind.
Ein schöner Text, sehr gut geschrieben, sehr gut und gerne zu lesen, man merkt, dass die FAZ mit
kundiger Hand die Besten ausliest. Bitte weiter so.
Und schon komisch dies alles, wie die Familie inmitten des allen einmal mehr Keim- u. Kernzelle wäre und bliebe, selbst am provisorischen Busbahnhof in Überall hinter Kwik und Kaufland (manche sagen hier auch schon mal “Klauland”, genau darum) – oder gerade dort?
Eine merkwürdige Zeit, in der doch angeblich alles prosperierend sein sollte, wären würde …, so stünde es täglich überall geschrieben.
“Dann doch lieber Zigeuner im Grünen Wagen, wie bei den Krögers, den Tonio Krögers, im wahren, im einzigen FAZ-Herzland”, so schimmert es wohl in einem jedem dabei auf. Solange noch ein Herz wäre.
“Und ja, die Annäherung an Thomas Mann, den größten Deutschen Literaten aller Zeiten, unzweifelhaft – oder sollte man sagen, endlich sogar des Deutschen Geistes in Sprache? – sie geschähe also recht eigentlich schon immer am besten in der Form eines Road-Movies, eines Road-Textes?” (Jack Kerouac, 1955 im August – oder
Humbo-Hain
Im Rosengarten ein kotzender Biber, beliebte Ehrenmordgegend mit einem für den morgendlichen Absacker geeigneten Club direkt an den S-Bahngleisen (man muss nur noch in der Lage sein, die Treppe heil runter zukommen, nachdem man den Türmann davon überzeugt hat, dass man die Treppe noch heil runter kommt, schließlich will man 2 Stunden später ja noch zum Auswärtsspiel nach Augsburg). Und anstatt zu einem 08/15 Imbis zu gehen, gibts am gesundbrunnen die beste Currywurst der Stadt (Currybaude). Und bevor die X-Berg -Hipster krakeelen. Eure Wurst (Curry 36) kommt ausm Wedding, bzw gesundbrunnen. Darauf ein Panke Gold!