
Dass ich schon einmal am Kleistpark war, liegt daran, dass ich vergesslich bin. Schusselig und verplant. Ich bin so schusselig, vergesslich und verplant, über meinem Abiturzeugnis steht „Ersatz für das verloren gegangene Original“. Als ich also das erste Mal am Kleistpark auszusteigen hatte, da war dies wegen des dort gelegenen Fundbüros der BVG. Denn damals hatte ich in einem Bus derselben meinen Geldbeutel liegen lassen. Samt Karten und um die 28 Euro in Bar. Ich war auch schon einmal in einem losfahrenden ICE und sah durch das Fenster, wie eine Frau am Bahnhof Bielefeld meine Laptoptasche mit innenbefindlichem Laptop in die Hand nahm und davontrug. Auch meine Mobiltelefone habe ich gelegentlich verloren. Nur eines bekam ich nie wieder. Denn ich habe offenbar einen besonderen Schutzengel für Verplante dazugestellt bekommen: Den Laptop hatte die Frau damals zum DB-Infopoint des Bahnhofs Bielefeld gebracht und er wurde mir kostenlos von der Bahn zugesandt. Diverse Male konnte ich mein Handy im Fundbüro der Uni abholen oder direkt bei den freundlichen Findern, die rangegangen waren, wenn ich meine Nummer angerufen hatte. Und auch meinen Geldbeutel bekam ich, ohne dass auch nur ein Cent gefehlt hätte, im Fundbüro der BVG überreicht und schloss ihn überglücklich in die Arme.

Am Kleistpark ist also das Fundbüro der BVG. Dort ist außerdem die Leitstelle, von der aus alle Fragen beantwortet werden, die man über die unterschiedlichen Kanäle der BVG stellen kann. Früher war am Kleistpark einmal die BVG-Hauptverwaltung. Die ist aber umgezogen und in dem großen, imposanten Gebäude ist nun die Hochschule der Populären Künste. Imaginärer Slogan: „An dieser Fachhochschule werden junge Leute auf eine Karriere in der Kreativbranche vorbereitet.“ Am Kleistpark gibt es viele Talente. Hier ist nämlich außerdem auch ein Standort der Universität der Künste. Eine echte Offenbarung ist für mich erst vor zwei Wochen die Wahnsinns-Stimme der Sängerin Emma Moore gewesen. Hat sie auch hier studiert?
Singenden Nachwuchs gibt es am Kleistpark zu Hauf: „Wir Kinder vom Kleistpark“ ist eine Musiktruppe, die nun schon ihre fünfte CD herausgebracht hat. Es ist wirklich schwierig, gute Musik für kleine Kinder zu finden, es gibt so viel Abgründiges in der „Szene“. Mit Kirmes-Techno unterlegte Schlumpfenstimmen, die von Sonnenschein krähen. Oder sentimentale, schlagermusikeske und Synthesizer-geplaybackte Schnulzen. Umso wichtiger, dass es die „Kinder vom Kleistpark“ gibt, die neben Fredrik Vahle und den Poncho Ponys das Kinderliederangebot angenehm bereichern. Aber das nur nebenbei.

Zurück zur Schusseligkeit: Als ich vor Ort ankomme und Bilder machen möchte, merke ich, dass die Speicherkarte im Rechner zuhause steckt, nicht in der Kamera. So laufe ich in den erstbesten Elektronikfachhandel hinein, der am Kleistpark zu finden ist: „Video HiFi Fernseh“. Drinnen beraten und verkaufen zwei Herren mittleren Alters. Beide tragen weiße, wadenlange Kittel. Das habe ich schon lange nicht erlebt! Es ist so ein Laden wie der Wiesler in Bad Mergentheim, in dem ich im Alter von vielleicht zehn Jahren meine erste Aiwa Minianlage gekauft habe, auf die ich zwei Jahre lang mein Taschengeld gespart hatte. Das war vor über zwanzig Jahren und dass es angesichts der Existenz des Internets und der spammenden Massenmärkte, die mit Slogans wie „Ich bin doch nicht blöd!“ und „Geiz ist geil!“ Marketing betreiben noch diesen kleinen Laden mit den Kittelherren gibt, das rührt mich. Eine SD-Karte haben sie aber nicht, weswegen sie mich zu Rossmann schicken.

Auf dem Weg dorthin laufe ich an einem Plakat vorbei. An einem wütenden Plakat. Eines, das ausdrückt, nicht einverstanden zu sein: Am Kleistpark soll ein neues Studentenwohnheim gebaut werden. Schön für die Studenten, deren bezahlbarer Mietraum ansonsten in Berlin schrumpft und schrumpf, aber doof für die Bar „Train“, einem alten Zug in dem alkoholische Getränke serviert werden und dessen Besitzer keine Lust hat, einzupacken. Auch betroffen sein wird der Sommergarten des griechischen Restaurants „Ypsilon“, der mich schon wieder zwanzig Jahre zurückversetzt … Die Bürger sind alarmiert und haben eine Initiative gegründet, die BI Kleistpark. Die Leute sind sauer. Aber im Zweifel ist das in Berlin noch nie ein Argument gegen den Impuls gewesen, große Dinge an alle möglichen Orte zu bauen.

Mein persönliches Highlight am Kleistpark ist das Essen im Café Peri. Vorneweg sei gesagt, dass die gastronomische Vielfalt in der Gegend riesig ist. Ein von außen sehr gut wirkender Italiener namens „Petite Europe“ (verwirrend nur: warum hat der einen französischen Namen?); ein Thai namens „Papya“, der sogar Neuland-Fleisch anbietet; das „Ypsilon“ und unzählige kleine Cafés, Dönerbuden, Pizzaverkäufer. Am Kleistpark wird man niemals verhungern müssen. Aber ich entscheide mich für das Café Peri und ich werde diese Wahl nicht bereuen. Im Café Peri bin ich als weiße* Bio-Deutsche ein bunter Hund. Überall wuselt und wimmelt es, das Café ist ziemlich groß. Tee wird bereitet, Waffeln werden gebacken, Hack wird gebrutzelt, Käse wird in Butter aufgelöst, Orangen werden zu frischem Saft gepresst und all das legt in die Luft Duftstreifen feinster Art, die sich mit dem Geschnatter und Geplapper der Menschen und dem Gequieke der Kinder vermischen. Instant fühle ich mich wohl. Weiter hinten gibt es Sitzecken für Raucher, die man von den anderen Gästen durch Glaskabinen abschirmt. Dort sitzt das Jungvolk in Gruppen und in einer sitzt ein alter Herr, in der einen Hand eine abglimmende Kippe, in der anderen ein Stift, mit dem er in einem Heft herumkritzelt. Die Service-Kräfte sind freundlich und dynamisch. Eine mehr hätte vielleicht ganz gut getan. Der Laden ist proppenvoll, manche Leute die nach mir kommen müssen am Eingang auf einen Tisch warten. Ich bestelle ein Menü, das „Milchkäse in Butter mit Ei, Tomaten, Mini-Gurke, Oliven, grüne Oliven Paprika, Paprika, Wabenhonig und Mascarpone, Butter, Nomadenkäse und Halva“ beinhaltet. Und ein Glas schwarzen Tees. In den Milchkäse könnte ich mich reinlegen. Der Wabenhonig mit Mascarpone ist eine Offenbarung. Und der Nomadenkäse ebenso wie das Halva einfach köstlich. Wenn es stimmt, dass Bauch und Seele miteinander verbunden sind, dann ist es kein Wunder, dass ich das Café sehr glücklich verlasse. Und draußen scheint sogar die Sonne!

Also ab in einen schönen Park und zum Verdauen auf eine Bank geflezt! Der Heinrich-von-Kleist-Park ist der Namensgeber der Haltestelle, aber ehrlich: Der Kurt-Hiller-Park ist mir an diesem Tag sympathischer. Im Sommer kann man hier Boule spielen, die Kinder haben eine große Sandkiste und eingezäunte Ballspiel-Plätze. Der Park ist nach einem Menschen benannt über den es in der Wikipedia heißt: „Er focht lebenslang für […] Sozialismus, für Frieden und sexuelle Minderheiten.“ Auch das finden mein voller Bauch und ich, wie wir so in der Sonne gammeln, irgendwie gut.
* Sie wissen ja: „weiß“ ist keine Hautfarbe