„Ich komme aus Wurstland“ pflegt eine, in Berlin lebende, Freundin gelegentlich zu sagen, wenn man sie fragt, wo sie aufgewachsen sei. Alle mir bekannten Menschen aus Thüringen sind sehr entspannte Zeitgenossinnen. Bei der Wahl ihrer Wurstwaren werden sie aber schnell sehr wählerisch. Geht es um Thüringer Rostbratwurst, entwickeln sie eine Gnadenlosigkeit, wie ich sie sonst nur von Querulanten und sonstigen Prinzipienreitern kenne. Ich war mal dabei, wie eine Bekannte den Mann am Grill derart mit einer vorverzehrigen Qualitätsaussage der Gestalt „Pah, das kann ja gar nix sein!“ verärgert hat, dass er sich geweigert hat, sie zu bedienen – und sei es nur, um sie vom Gegenteil zu überzeugen.
Am Ostkreuz, wo die Ringbahn die Stadtbahn kreuzt, was eine schrecklich ungenaue Formulierung ist, denn eigentlich kreuzt die Ringbahn hier die Schlesische Bahn und die Preußische Ostbahn, aber damit kann ja niemand was anfangen, gibt es alle paar Meter etwas zu entdecken, darum dachte ich, ich fange mal mit dem ersten Dings an, das einem ins Auge fällt, wenn man den Bahnhof stadteinwärts, Richtung Sonntagstraße verlässt. Nein, eigentlich ist es das zweite Dings. Das erste Dings ist die Dauerbaustelle am Ostkreuz. Das Ostkreuz ist schon so lange eine Baustelle, dass man den Eindruck gewinnen kann, der ehemalige „regierende“ (haha) Bürgermeister Klaus Wowereit hätte die Arbeiten zur Chefsache erklärt.
Es sieht katastrophal aus. Heruntergekommen, vollgeschmiert, eingerüstet und von halb zerrissenen Planen bedeckt scheinen das Ostkreuz und die umliegenden Brachflächen vor sich hin zu gammeln (tatsächlich finden dort durchaus Bauarbeiten statt, man muss aber genau hinsehen, um sie zu finden). Die Beleuchtung ist eine Zumutung, der Boden ist uneben und löchrig, überall liegt Müll herum, zigfach überklebte Plakate fallen regelmäßig bündelweise von den Wänden und vermischen sich mit dem Wasser der Pfützen zu diesem glitschigen Brei, mit dem zu basteln wir in der Grundschule gezwungen wurden, und wüsste man nicht, dass der Durchgang zum Annemirl-Bauer-Platz einer der vermutlich ungefährlichsten Orte der Hauptstadt ist, würde man auf dem Absatz wieder kehrt machen und irgendwo anders hinfahren.
Das zweite Dings aber ist das Wurstland. Die einzige Bude, die gefühlt schon immer dort steht – genau genommen seien es 15 Jahre, sagte die Dame hinter der Theke – und sowohl der Baustelle als auch dem herankriechenden Gammel trotzt, wie Edelstahl dem Flugrost. Hier sind, meinen Recherchen nach, noch keine Kinder geboren worden, die später in die Hauptstadt gezogen wären. Ob wenigstens welche gezeugt wurden, wollte oder konnte man mir nicht sagen. Immerhin ein Zustand, der Profijournalisten schon jubilieren lässt, können sie doch fortan behaupten, eine Zeugung im Wurstland könne nicht ausgeschlossen werden.
Das Wurstland ist ein Verkaufswagen, in dem es Wurst, Frikadellen, Schmalz und Schnitzel zu kaufen gibt. Die dargebotenen Fleischwaren kämen allesamt vom Metzger Joppe, der schon seit den 1950er Jahren im Havelland vor sich hinmetzgert und weit über das Havelland hinaus bekannt für seine Fleischwaren sei, so dass nicht nur eine aberwitzige Zahl Laufkundschaft im Wurstland einkaufe, sondern auch Menschen – und gar nicht mal wenige – eigens angereist kämen, um sich genau hier mit Wurst einzudecken. Wie viele Kunden pro Tag oder Woche insgesamt kämen, war leider genauso wenig in Erfahrung zu bringen, wie die Nachvollziehbarkeit der Herkunft des Fleisches oder ob es gar Biofleisch ist. Es sei halt „ganz normales Fleisch“ sagte man mir mit diesem leicht irritierten Gesichtsausdruck, der unachtsamen Fleischessern so eigen ist. Ich habe ihr einen „Knüppel“ abgekauft. Eine erstaunlich günstige Salami, die erstaunlich gut schmeckt. Da kannste nicht meckern! Außer vielleicht bei der Herkunft. Aber das hatten wir ja schon.
Eine der, wenn nicht sogar die(!) Spezialität des Wurstlandes ist die Ketwurst. Auch hierfür sollen die Menschen extra anreisen. Die Ketwurst ist eine Erfindung der DDR, die es nicht auf sich sitzen lassen wollte, dem im Westen so erfolgreichen Hot Dog nichts entgegenzusetzen zu haben. Sie hätten Hot Dogs machen können, aber Klassenfeindnomenklatur fanden sie damals ja nicht so prickelnd. Darum hat man eine Zubereitungsart gefunden, bei der ein weiches, längliches, brioche-artiges Hot-Dog-Brötchen hochkant über eine, vielleicht zweieinhalb Zentimeter dicke, heiße Stahlnadel (im Bild hinten links) gestülpt wird, bis es einigermaßen getoastet ist. Dabei wird nur das eine Brötchenende geöffnet. Alsdann führe man in dieses Brötchen eine Brühwurst ein, die idealerweise im Ketchupbad auf ihren Verzehr gewartet hat, oder wenigstens kurz vorher mit Ketchup geduscht wurde. Einzelne Anbieter füllen auch erst die Wurst ins Brot und kippen dann, aus einer dieser roten Plastikflaschen, Ketchup über sie (die Wurst, nicht das Brot). Und fertig ist die Ketchup-Wurst, kurz Ketwurst.

Im Westen gab es auch Ketwurst. Die war meine persönliche Quengelware. Alle zwei Wochen fuhr ich als Kind mit meiner Mutter in einen großen Supermarkt im Industriegebiet der Kreisstadt, um den Einkaufswagen mit teilweise bizarren Mengen an Sonderangeboten zu füllen. Wenn alle Einkäufe erledigt und wir beide auf dem Weg zurück zum Auto waren, bekam der kleine Holger immer eine Ketwurst vom Stand vor dem Supermarkt. Dort hießen sie allerdings „Hot Dog“. Wir aßen lieber Dinge aus Amerika als aus der Zone.
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Oh Gott. Ich bin da vier Tage lang mindestens zwei mal am Tag vorbeigekommen und dachte mir mindestens einmal: hm, da musst du jetzt aber eigentlich mal Ketwurst essen. So als Ossi und so. Wenn ich gewusst hätte, was ich verpasse…
Ostkreuz ist dafür ein furchtbarer Bahnhof in dem Menschenmassen verschoben werden und Massenbeförderung ein Schicksal ist.
Hilfe
Ostkreuz vor zehn Jahren schon eine abrißreife Ruine. Ich hätt’ jetzt naiv gedacht, das wäre längst saniert. Möchte mir nicht vorstellen, wie das nach zehn weiteren Jahren Verfall aussieht.
Janee, ganz so schlimm ist es nicht. Der Bahnhof selbst ist weitgehend in Ordnung. Bloß drumherum sieht es halt aus, als wäre der Bürgerkrieg erst seit wenigen Monaten vorbei 😉
Vier unsystematische Anmerkungen zu einem schönen Artikel
1) Beeindruckend an der Ostkreuzsanierung finde ich ja schon, den ganzen Umbau und die durchaus schon sichtbaren Fortschritten bei laufendem Betrieb hinzubekommen.
2) Was den Bahnhof jedenfalls noch bei meinem letzten Besuch charakterisierte: Wer dort aus einer Ringbahn aussteigt und stadteinwärts weiterfahren möchte muss losen, von welchem der ZWEI in Betracht kommenden Bahnsteigen die nächste S-Bahn stadteinwärts fährt. Hier wäre eine innovative Anzeige am Ringbahnsteig nett.
3) Kurios finde ich es, mit dem RE aus der Stadt kommend nach SXF so schräg und ganz knapp am Bf. Ostkreuz vorbeizufahren.
4) Was genau Ketwurst ist, wusste ich nicht. Vielen Dank. In Prenzlauer Berg las ich vor Jahren auf eine Sonderangebotstafel einer Imbissbude “Ketwurst + Capuccino oder Latte macchiato”. Das finde ich jetzt noch bezeichnender.
Das mit den zwei Bahnsteigen treibt mich irgendwann in den Wahnsinn. Man kann sich zwar an den Kiosken auf der oberen Ebene orientieren, aber dazu muss man vermutlich täglich dort ein- oder aussteigen.
Schrecklich ist auch, zum ersten Mal aus der Innenstadt am Ostkreuz anzukommen und orientierungslos herumzuirren, bis man herausgefunden hat, dass man erst nach oben (und dann auch wieder auf der richtigen Seite herunter) muss. Gelegenheitsreisenden die Orientierung zu rauben scheint aber sowieso eine Spezialität der Bahn zu sein. Ich muss unbedingt auch mal einen Rant über den Bahnhof Friedrichstraße schreiben.
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Das Bahnsteigslotto (Profis blieben DAMALS auf dem oberen Bahnsteig stehen und warteten ab, aus welcher Richtung sich die naechste Bahn in Richtung Warschauer Strasse naeherte, um dann die passende Treppe zu nehmen) ist ja inzwischen Vergangenheit – die Kreuzung der S-Bahn-Linie erfolgt jetzt schon zwischen Noeldnerplatz resp. Rummelsburg und Ostkreuz, so dass zur Zeit nur der Behelfsbahnsteig in Richtung Sonntagstrasse zum Zentrum fuehrt.
Und, nur so als Randbemerkung, die Ewigkeit, die die DBAG fuer den Umbau braucht, veranschlagt waren ja so um die zehn Jahre, sind vor allem dem damals geplanten Boersengang der DB geschuldet – so liessen sich die Kosten schoener verteilen. Deshalb gibts auch immer wieder ewige Pausen zwischen den Umbauabschnitten.
Einmal mit Profis… 😀
Im Osten essen sie Katze
Ketchup also, nie habe ich das recherchiert, schlußendlich nun doch noch erfahren. Als Kind des Berliner Ostens bin ich mit dieser Speisespezialität in meinem Leben noch nicht in Gaumenberührung gekommen, jedoch hielt ich bisher immer halbernst die Fleischsorte für den Namensgebungsgrund.
Weil Catwurst. Ich hab eben immer nur davon gehört.
MEIN GOTT ICH WAR HALT KIND UND SO WICHTIG IST NUN AUCH WIEDER NICHT!
Catwurst... also...
…sowas wie Catfish oder Kat-jes, nä? Ich als Ham-burger aus Hamburg bin ja mit diesem Nahrungs-Namensproblem aufgewachsen.
@Holgerklein: Netter Blog übrigens, habe ihn heute erst entdeckt. Auf den Artikel über das Ostkreuz bin ich gekommen, nachdem ich den über das Westkreuz gelesen hatte – und da interesierte mich halt die entgegengesetzte Seite. Und wie kam ich da drauf? Ursprünglich hatte ich Palina Ro. gegoogelt. Egal, jedenfalls habe ich mir den Link in die Favs gelegt, weil ich nicht weiß, was ein RSS-Feed ist. Na, ich mach dann mal weiter, nä…
Willkommen 🙂
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