Parchim ist ein Ort in Mecklenburg-Vorpommern, den ich nur daher kenne, dass er immer der nordöstlichste Ort auf meinem Regenradar ist, auf das ich blicke, wenn ich die knapp 30 Kilometer zwischen meinem regelmäßigen Bürojob mit dem Fahrrad statt mit der S-Bahn zurücklegen will. Laut Radarbild soll es dort heute gehagelt haben. Vielleicht kann das ja jemand bestätigen.
Zur Parchimer Allee fährt man mit der U7. Eigentlich gibt es wenig Grund, dort auszusteigen und trotzdem kennen viele den Bahnhof, denn er liegt auf dem letzten Stück der U7, kurz vor der Endstation Rudow, an der man prima in den Bus x7 umsteigen kann, der einen zügig zum Flughafen Schönefeld bringt. Und zwar direkt ans Terminal, so dass man nicht noch blöd von der Bahnstation durch dieses seltsame, halbverglaste Dingsi latschen muss, das bestimmt auch irgendeinen Namen hat, den ich aber nicht kenne. Aber darum geht es hier ja eh nicht.
Ich kenne eigentlich nur einen einzigen Grund, an der Parchimer Allee auszusteigen: Um ein Baudenkmal zu besichtigen. Wobei „besichtigen“ eigentlich der falsche Ausdruck ist, denn seit ich mal im Berliner Corbusierhaus gewohnt habe, was mich so sehr beeindruckt hat, dass ich selbst nach über zehn Jahren immer noch davon erzähle, habe ich eine schlimme Schwäche für Baudenkmale, in denen man wohnen kann. Genau genommen, verspüre ich sogar den dringenden Wunsch, wieder in einem zu wohnen, fürchte aber die Folgekosten (Denkmal, huiuiui!) – von den Anschaffungskosten ganz zu schweigen, denn wir brauchen fünf Zimmer.
Wenn man jedenfalls die wenig einladende Parchimer Allee ein Stückchen runterläuft, gelangt man zur sogenannten Hufeisensiedlung. Die Siedlung wurde Ende der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts vom Architekten Bruno Taut als sehr dichter, sozialer Wohnungsbau (“Neues Bauen“) errichtet und war gleichzeitig ein Demonstrationsobjekt für kostengünstiges, industrielles Bauen. Es geht nämlich auch anders, als es DDR und BRD mit ihren problematischen Trabantenstädten gemacht haben.
Zentrales Bauwerk der Siedlung ist ein 350 Meter langes, hufeisenförmiges Wohngebäude, das um einen kleinen Tümpel herum gebaut wurde. Außerhalb dieses Hufeisens führen Straßen quasi-sternförmig auf das Gebäude hin. Und mit denen gibt es eine Besonderheit, die mir sehr viel Freude bereitet. Wir Deutschen scheinen ja auf geradezu nervtötende Weise in Dinge verliebt zu sein, die irgendwie möglichst gerade sind. Vor allem Straßen. Darum sind unsere Plätze auch immer so wenig einladend, denn wenn man auf ihnen steht und eine Straße entlang blickt, blickt man zu oft in Richtung gefühlter Unendlichkeit und möchte schnell die Flucht ergreifen. Auf italienischen Plätze beispielsweise möchte man jedoch bleiben und erstmal einen Kaffee trinken, denn die Straßen, die von diesen Plätzen wegführen, machen recht schnell eine Kurve, so dass der Blick an einem Gebäude hängen bleibt. Wenn das dann auch noch einigermaßen hübsch ist, ist die Sache schon geritzt. Die Straßen am Hufeisen sind dergestalt geschwungen und bebaut. Ich könnte stundenlang einfach nur durch diese Straßen flanieren, die zu allem Überfluss auch sehr grün sind.
Insgesamt finde ich die ganze Gegend um das Hufeisen herum schrecklich gemütlich. Es ist dermaßen ruhig, dass ich irgendwann während meines Spazierganges leicht genervt vom Geräusch eines elektrischen Rasenmähers und eines vorbeifahrenden Mopeds war, wie ich es nur vom Dorf kenne, in das mich meine Eltern damals verschleppt hatten und in dem ich zu pubertieren gezwungen war. Als ich wieder zurück in Tempelhof war, wurde mir erst klar, wie unglaublich ruhig und idyllisch es um die Hufeisensiedlung tatsächlich ist – und wie unglaublich laut die Berliner Innenstadt. Und das, obwohl die Parchimer gerade mal fünf Minuten von der Ringbahn und zehn Minuten vom Hermannplatz entfernt liegt. Selbst die Gebäude, die nicht mehr von Taut gebaut wurden, sind hübsch und architektonisch bemerkenswert. Beispielsweise finden sich hier auch Motive der Gartenstadtbewegung. Ich könnte endlos von der Siedlung schreiben und schwärmen (All die bunten Türen! Die Gärten!), aber letztlich würde ich sowieso nur zitieren, was Sie auch selbst in der Wikipedia nachlesen können (Tun Sie das! Und folgen Sie den Links, um Himmels Willen! Die Bilder! Spektakulär!).
Das Lustigste, was ich über die Hufeisensiedlung erzählen kann, ist dass sie in Berlin-Neukölln (Ortsteil Britz) liegt. Diesem Stadtteil, dem von schlecht informierten Menschen gerne irgendwelche katastrophalen Zustände zugeschrieben werden. Weil ich diese Zustände selbst damals, in den 90ern, nicht so recht finden konnte, als ich mal an der Boddinstraße im Rollbergviertel gewohnt habe, wo es selbst nach Berliner Maßstäben schlimm zuging, amüsiere ich mich immer ganz prächtig, wenn mal wieder jemand versucht, mir zu erzählen, wie schrecklich meine Stadt angeblich sei.
danke für den Tipp
kommt auf die Liste “wo auch ich in Berlin gerne wohne würde”
Parchimer Grüße
Ich frag mal meine Eltern, ob’s in Parchim gehagelt hat.
Übrigens noch weitere Gründe, warum man Parchim kennen könnte:
– war mal Vorderstadt von Mecklenburg (was auch immer das heißt)
– Moltke ist da geboren
(ok, bis hierhin eher, warum man es mal gekannt haben könnte)
– hat wirklich viel Grün und die Elde fließt malerisch in vielen Kanälen durch die Stadt (aber nicht allzu auffällig)
– hat viele hübsche Fachwerkbauten, von denen die meisten Ruinen, die in der DDR und kurz nach der Wende entstanden sind, inzwischen saniert und abgerissen sind -> soll heißen: hübsche historische Innenstadt
– hat sogar einen irish Pub, der inzwischen leider so ziemlich das einzige Relikt des städtischen Nachtlebens darstellt
– einen Kilometer weg von Parchim wohnt an der Elde ein Fährmann der bis vor kurzem noch seit seiner Kindheit für kleine Münze Wanderer und Radfahrer zum Nachbardorf Slate rüberstakte. Jetzt ist er leider alt und krank, aber es gibt einen Film über ihn
Titel eingeben
In München git´s was Ähnliches: die Borstei.
https://de.wikipedia.org/wiki/Borstei
Stadtgrün
Erst gestern dachte ich –
als die Philharmoniker in der Jesus-Christus-Kirche
in Berlin-Dahlem brüteten,
einer der beiden ABC-Blogger müsste
unbedingt dort mal „aussteigen“ …
Nun:
>Parchimer Allee und die Hufeisensiedlung:
Prima! Eine wirkliche Freude ist es
diese Restaurierung anzuschauen.
Denn auch in dieser Ecke der Stadt ist es wunderbar grün.
.
Sogar die nahe Gropiusstadt (Hochhäuser!) ist wegen
der vielen GEPFLEGTEN (dochdoch) Grünflächen mit
Baumbestand und Sitzbänken an den Wegen erwähnenswert.
.
Das übliche Berlinbashing perlt auch an mir ab.
Hauptstadtslum. Jaja. Wo eigentlich genau?
Berlin ist dermaßen groß und unglaublich vielfältig.
>Innerhalb kurzer Zeit findet man stadtweit
sympatische Ecken und nette Plätzchen.
Man muss nur finden können.
Die homepage von Stadtentwicklung und Umwelt ist gut zum stöbern.
https://www.stadtentwicklung.berlin.de/denkmal/denkmale_in_berlin/
Interssant...
Danke für diesen Einblick in die Randbereiche von Berlin. Bin gerade am Planen meiner nächsten Berlinreise und schätze daher diese Beiträge. Brandenburger Tor kann ja jeder anschauen 🙂
Ein schöner Onlineführer!
Wieder sehr lesenswert; diese Siedlung im Grünen war mir bisher unbekannt. Und so entsteht hier ein schöner Onlineführer für ausgefallene Berliner Ecken.
Demnächst dann als BVG-Broschüre 🙂