Berlin ABC

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Wir fahren durch die Hauptstadt

Scheitern am Leopoldplatz

| 19 Lesermeinungen

Ich musste zum Leopoldplatz und hatte noch ein wenig Zeit, mir die Gegend anzusehen. Hier steht ein Karstadt-Kaufhaus, das aussieht, wie in einer dieser langweiligen, westdeutschen Fußgängerzonen der 1970er Jahre. Im Gegensatz zu den Kleinstadtruinen ist dieser Karstadt allerdings noch geöffnet und bietet Waren feil. Da muss ich auch nochmal in Ruhe rein und gucken, was es dort alles gibt – bei mir in Tempelhof ist ja auch einer, der kam mir aber immer ein wenig schäbig vor, so dass ich ihn meide. Um die Ecke ist ein sehr verwirrendes asiatisches Restaurant. Seine Karte ist so entsetzlich lang, wie bei allen anderen auch, aber es stehen ausschließlich Fleischgerichte darauf – bis auf eines und das heißt “Vegetarischer Teller”. Ich finde sowas irritierend.  Aber eigentlich wollte ich was ganz anderes erzählen.

U9_Leopoldplatz

Am Leopoldplatz steht das Rathaus Wedding. Links daneben lungern die Säufer rum und rechts daneben gibt es eine bemerkenswerte Ladenzeile, die schön alt aussieht. Besondern angetan hatte es mir die Auslage des Musikhauses Stehr – vermutlich, weil ich seit vergangenem Herbst eine Ukulele besitze und einige davon als “Kindergitarre” im Schaufenster hingen. Dazu Maultrommeln, Rasseln, Gitarren, Noten und was sonst noch in solch einem Laden zu finden ist. Ich wurde nostalgisch und trat mit leuchtenden Augen ein.

Leopoldplatz_Musikladen

Es gibt so Arbeitgeber, deren Namen dermaßen renommiert sind, dass alleine die Erwähnung sämtliche Türen und Herzen zu öffnen vermag. Ich bilde mir ein, “FAZ” sei so ein Name (bisher hat es ja auch prima funktioniert). Ich also rein in den Laden. Hinter der Theke steht eine sehr alte, gebeugte, freundliche Dame, die mir erzählt, der Laden sei schon über 100 Jahre alt und sie betreibe ihn, weil es ihr Freude bereite. Als ich meine Kamera zücke und ihr sage, ich schriebe für die FAZ und würde ger…, sagte sie: “Nee, lassense mal! Wenn Sie was schreiben, kommen hier wieder die ganzen Reporter an und wollen auch mal. Das ist mir zu anstrengend. Das will ich nicht. Schreiben Sie lieber mal was über den Kaffeefritzen nebenan. Der beschwert sich schon immer, dass alle nur über mich, aber nie über ihn schreiben wollen.” Meine Frage, ob der denn auch schon so lange hier sei, verneinte sie, der sei erst ein paar Jahre alt. “Ja… oeh… nee”, dachte ich, “das reicht mir nicht…”, verabschiedete mich freundlich, bedankte mich, dass sie einen solch schönen Laden betreibt und zog von dannen.

Diese Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität hat mich anscheinend so sehr verwirrt, dass ich mich auf dem Heimweg im U-Bahnhof ein wenig verlaufen habe, weil man den Bahnsteig der U6 wechselt, indem man über den Bahnsteig der U9 laufen muss.

Leopoldplatz_Umsteigen

Mit mir kann man’s ja machen!


19 Lesermeinungen

  1. Don Ferrando sagt:

    Schön.
    Ich freue mich immer, wenn ich sehe, daß Sie einen neuen Beitrag gepostet haben.

  2. kdm sagt:

    Fechner Musikinstrumente
    Aber das hätte man sich doch denken können: eine richtige, “alte” Kaffeerösterei würde nie COFFEE STAR und Coffee Shop heißen. Sondern, eben: “Kaffeerösterei”; einen Bindestrich vielleicht noch, wegen der neuen Zeit…
    A propos alte Musikläden: Den Fechner in der Bundesallee (U-Bahnhof Güntzelstr.), ich glaube, der ist schon lange perdu. Alle (West-)Berliner Rockmusiker der 70er Jahre haben bei Fechner gefragt, gekauft, repariert. Bevor dann der Riesenhändler in der Pariser Straße…
    Und dann gibt’s noch einen “klassischen” Musikalienhändler, der seltsamerweise auch Fechner heißt (Berliner Str.. U-Bahnhof “Pankow”). Ich bin ich da mal rein, vor zwei, drei Jahren, um ähnliches zu fragen wie hier oben im Artikel. Nee, erfuhr ich, der hat mit dem klassischen westberliner Fechner nix zu tun.
    Der klassische Musikalienhändler – mit der übliche Ukulele im Schaufenster – hier am Lankwitzer Kranoldplatz (nur S-Bahn: Lichterfelde-Ost) heißt leider nicht auch noch “Fechner”. D

  3. Tarifkenner sagt:

    Toll. Danke für Text und Bild.
    So oft schon am Leopoldplatz umgestiegen und ein paar mal eilig über ihn hinweggeradelt. Und nie diese Ladenzeile wahrgenommen. Man könnte den Leopoldplatz glatt “das Westkreuz des Weddings” nennen. Eine Frage: Hat die alte, gebeugte Dame eigentlich wörtlich von ihrem Nachbarn als dem “Kaffeefritzen” gesprochen?

    • holgerklein sagt:

      Ja, hat sie 😀

    • Tarifkenner sagt:

      Großartig!
      Das bestätigt meinen langjährigen Eindruck: Berlin ist voll von älteren bis alten Damen, die sich recht anders ausdrücken oder gar verhalten, als Gesamtdeutschland es von seinen alten Damen erwartet. Und das gilt im Osten wie im Westen. Ich hänge mich jetzt mal weit aus dem Fenster: Es gibt nichts was typischer für Berlin ist und in Ost und West gleichmäßiger anzutreffen ist als das vielleicht nicht direkt undamenhafte, aber doch ausgesprochen flapsige Betragen alter Damen.

    • holgerklein sagt:

      Das deckt sich durchaus auch mit meinen Alltagserfahrungen. Die Damen sind bei aller Flapsigkeit jedoch nie wirklich unangenehm.

    • kdm sagt:

      ...fritze
      Auch ich sage “…fritze” zu allen möglichen Berufen, die mir nicht gerade am Herzen liegen: Reklamefritze, Pressefritze, (etc.)
      Mit dem Geschlecht hat das nix zu tun. Ob mit Berlin, mit dem Alter, das weiß ich nicht. Ich bin allerdings in dem Alter der erwähnten Dame. Und Berliner.
      A propos: winkt die Madame auf dem Foto?

    • Gast sagt:

      Titel eingeben
      Das flappsige macht die alten Damen besonders charmant. Es sind Originale.

    • Tarifkenner sagt:

      @kdm
      Lieber kdm,

      echt? Sie sind schon 86 Jahre alt? Ihre Kommentare klingen deutlich jünger. (Weiß jetzt nicht, ob das als Kompliment gilt, es ist jedenfalls ehrlich gemeint.)

      Ja. Das Suffix -fritze als leicht abschätzige Funktionsbezeichnung kenne ich schon auch. Der besondere Charme ergibt sich in meinen Ohren daraus, dass die Dame ja sowohl dem Café-Inhaber etwas Gutes tun als auch holgerklein das Café als Ersatzthema schmackhaft machen möchte. Da würde es sich eigentlich nicht empfehlen, die Geringschätzung so zur Schau zu tragen. Wenn sie jetzt 26 wäre, würde ich denken, dass sie jugendsprachebedingt das Abschätzige im -fritze gar nicht mehr bemerkt. Da sie aber 86 ist, bleibt als Erklärung nur die Berlintypische Grundehrlichkeit, die sich auch gegenüber der Damenhaftigkeit und der Würde des Alters immer durchsetzt. Einfach Großartig!

  4. Gabi sagt:

    Heilsam
    Manchmal ist der Wedding heilsam.
    Wenn man glaubt, das Schicksal meine es wieder mal
    nicht gut mit einem,
    dann stelle man sich´ne halbe Stunde am Samstagvormittag
    vor Karstadt am Leopoldplatz … brrr
    danach ist man ‚heilfroh‘, wieder
    in seine ‚heile‘ Welt zurück zu dürfen.
    .
    Aber!
    So wie im Musikhaus Stehr, gibt/gab es noch andere bemerkenswerte
    Menschen dort rundherum.
    >Neben dem Arbeitsamt in der Müllerstraße gibt es
    freundliche Bedienung + lekka watt zu Essen!
    >Falafel Dream 2010
    .
    Bestimmt ist Wolfgang Herrndorf, der jetzt am 12. Juni seinen
    50. Geburtstag NICHT feiern kann, auch mal dort gewesen.
    Glob ick jedenfalls…
    .
    Ick steh
    uff
    Wedding
    Dit is
    meen Ding.
    https://www.wolfgang-herrndorf.de/2012/06/achtundzwanzig/

  5. John Dean sagt:

    Titel eingeben
    Interpretationsvorschlag:

    Das ist evtl. ein Beispiel, dass den Verlust an Bedeutung bei den Printmedien beschreibt – und zugleich den Stolz alter Traditionen.

    (okay – das ist eine etwas harte Interpretation)

    Aber im Grunde genommen hat die Dame nicht mal so unrecht: Der “Streuverlust” eines Zeitungsberichtes (oder gar von befürchteten mehreren Artikeln) über ihren kleinen Laden ist immens groß, zumal in der überregionalen Presse – und ein sonderlicher Zuwachs an Kundschaft erhofft sie dadurch nicht – vielmehr lebt sie von Stammkunden und Mundpropaganda, und sie betreibt ihren kleinen Laden mehr aus Freude denn wirtschaftlicher Notwendigkeit.

    Ich hätte mich als Ladenbesitzer anders entschieden, sogar ganz sicher. Schon aus Freundlichkeit heraus.

    • holgerklein sagt:

      Joa, das ist zu hart interpretiert. Die hatte halt einfach nur keine Lust auf Öffentlichkeit – auf die sie tatsächlich nicht angewiesen ist.

  6. roflcopter sagt:

    Kaffeefritze
    Der Kaffeefritze ist aber gar nicht so übel. Verschiedenste Sorten, verschiedenste Röstgrade und alles auf Wunsch.

    Zwar nicht so lang dort, aber auch ein kleines Juwel für den Bohnenbegeisterten Weddinger

    • britta sagt:

      kaffeefritze
      … kann ich bestätigen – ich “bereise diese Strasse seit gut 50 Jahren – den Musikladen kenn ich auch… ich freu mich aber auch über neues und abwechselndes hier in meinem Kiez und lande meist doch nur in der langen Schlange bei der Post weiter oben- wo ich meine Post abholen durfte…..

  7. OHarrra sagt:

    Wer wirklich guten Kaffee möchte ...
    … kommt um den KaffeeFritzen nicht drumherum. Das unglückliche Händchen die Namenswahl betreffend, mag dem guten Kaffeehändchen geschuldet sein. Ein Schelm, wer den üblichen Coffee Shop Schmu vermutet.

  8. kdm sagt:

    danke!
    Danke für den Tagesspiegel-Link, Www!

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