Bis 2006 hieß das Südkreuz noch Papestraße und ist einer der Bahnhöfe, die man benutzt, um Berlin zu verlassen, was man gelegentlich auch machen sollte, um anschlussfähig zu bleiben. Vorausgesetzt, die S-Bahn schafft es, einen per Ringbahn dorthin zu bringen und die Deutsche Bahn schafft es, einen per Fernzug dort weg zu bringen, gelangt man von hier aus gut in Richtung München und gelegentlich auch, ohne umsteigen zu müssen, nach Hamburg.
Eine schöne Besonderheit gibt es hier für Reisende in Richtung München, denn auf dieser Strecke verkehren die letzten Züge aus dem 2004 gescheiterten Versuch der Deutschen Bahn, zwischen Köln und Hamburg einen ernsthaft komfortablen Zug verkehren zu lassen und nicht bloß die Rappelskisten, die heutzutage unter “ICE” firmieren. Die Züge damals hießen “Metropolitan” und sind auch heute noch mindestens eine Klasse komfortabler, als alles, was ich bisher von der Bahn erlebt habe. Die Preise waren zu hoch und zu unübersichtlich strukturiert, die Billigflieger kamen auf, der Metropolitan war unrentabel und wurde eingestellt. Weil Züge aber auf einen jahrzehntelangen Betrieb ausgelegt sind, musste irgendwas mit der Technik passieren- und so fährt sie heute als ICE 1000, beziehungsweise ICE 1001 zwischen München und Berlin-Gesundbrunnen hin und her und irritiert Bahnreisende gleich doppelt: Zuerst, weil ein Zug einfährt der aussieht wie ein IC, so dass man geneigt ist, sich darüber zu ärgern, dass die Bahn es mal wieder nicht geschafft hat, jenes Produkt zu liefern, das sie einem verkauft hat, um dann festzustellen, dass man im geilsten Zug sitzt, den die Bundesrepublik bisher zustande bekommen hat. Die Diskrepanz zwischen Erwartung (“muffiger IC”) und vorgefundener Realität (kaum vorhandene Geräuschbelastung, viel Platz, hoher Komfort, schickes Design) ist dermaßen groß, dass man den Zug gleich noch viel toller findet, als er eigentlich ist.
Gleichzeitig ist das Südkreuz einer der beiden S-Bahnhöfe, die zu meiner Wohnung am nächsten liegen, so dass ich regelmäßig zu Fuß dorthin laufe. Auf dem Weg zum Zug gehe ich über den Werner-Voß-Damm, der auf die General-Pape-Straße stößt, an der der Bahnhof liegt. Die beiden Straßen begrenzen ein Gelände, das aus Schrebergartenkolonien besteht und aus roten Backsteingebäuden, die man gut sehen kann, wenn man vom S-Bahnsteig aus Richtung Norden (stadteinwärts) blickt. Dieser Komplex wurde Ende des 19. Jahrhunderts dort erreichtet, um das 1. Eisenbahnregiment der Preussischen Armee aufzunehmen. Damals war der Truppennachschub per Bahn noch derart wichtig, dass man eigene Militärabteilungen vorgehalten hat, um ihn sicherzustellen. Heutzutage hat man dafür vermutlich Flugzeugregimenter oder sowas.
Jahrelang bin ich an dem Gelände vorbeigelaufen, auf dem sich kleinere Gewerbebetriebe, KfZ-Werkstätten und dergleichen niedergelassen haben, ohne weiter darüber nachzudenken, woher diese Gebäude eigentlich kommen. 2013 wurde dann der Gedenkort SA-Gefängnis Papestraße eröffnet, dessen Öffnungszeiten immer genau dann sind, wenn ich nicht hingehen kann, so dass ich nochmal zwei Jahre gebraucht habe, um überhaupt mal zwischen die Backsteine zu treten und festzustellen, dass das weitläufige Kasernengelände einen ungeordneten Wald aus 14 beschilderten Orten enthält, der die Geschichte des Geländes in aller Kürze zu erzählen versucht. Sein Name ist “Geschichtsparcours General-Pape-Straße” und seine Einrichtung wurde unter anderem von der EU bezahlt. Dummerweise muss man sich beim Bezirk erst eine – immerhin kostenlose – Broschüre besorgen, um die 14 Orte auf eine andere Weise als per Zufall zu finden. Ich bin über nur sechs Schilder gestolpert, was auch mal wieder so ein Beispiel ist für den Unterschied zwischen Design und User Experience.
Seit dem Bau der Anlage beherbergte sie außerdem die Landwehrinspektionen (so hießen früher, ganz früher, die Kreiswehrersatzämter – was auch kein weniger bekloppt klingender Name ist), das Finanzamt, die SA-Hilfspolizei (die im hiesigen “Gefängnis“ein paar tausend Menschen gefoltert und ein paar hundert ermordet hat, bevor das Deutsche Reich das Foltern und Morden durch die Exekutive legalisiert und solch wilde Konzentrationslager wie in der Papestraße unnötig gemacht hatte), hier wurden Wirtschaftsflüchtlinge aus der DDR zwischengelagert und das vermutlich hässlichste Gebäude des Ensembles entpuppt sich als eins der alten Lager für die Senatsreserve, die angelegt wurde, weil man immer damit gerechnet hat, dass der Russe mal wieder die Transitstrecken nach West-Berlin blockiert und man sicherstellen wollte, dass das normale Leben wenigstens für 180 Tage einigermaßen reibungslos weitergehen kann.
Nach Ende des Kalten Krieges wurde die Senatsreserve aufgelöst und 90.000 Tonnen der Senatsreserve gingen als humanitäre Hilfe an die Sowjetunion. Manche seltsamen Pointen schreiben sich von selbst.
Zeitgeist
Ein Thema und Ort angemessener, wirklich netter Beitrag.
Aber können Sie – als 1989 eben 20jähriger Kölner – denn wirklich einschätzen, ob es sich bei den, bis maximal bis zu diesem Zeitpunkt in Gebäuden an der Papestraße übergangsweise untergebrachten Deutschen, die ja dem sozialistischen Mauerregime entkommen waren, tatsächlich ganz pauschal um “Wirtschaftsflüchtlinge” handelte?
Oder ist diese Formulierung nicht eher dem gegenwärtigen *Zeitgeist* geschuldet?
Den “Geschichtsparcours General-Pape-Straße” werde ich sicher einmal anschauen: wenn uns die EU schon einmal etwas spendiert. Danke für die Anregung.
Och, so oft ich dieser Tage höre, dass Flüchtlinge, deren Leben nicht unmittelbar bedroht ist, Wirtschaftsflüchtlinge seien, fand ich das ganz angemessen.
Kommt die D-Mark, bleiben wir...
kommt sie nicht, gehn wir zu ihr.
Das war einer der Sprueche, wie sie Ende 1989 (als es nicht mehr wirklich riskant war, dort laut zu rufen) auf den Strassen der DDR zu hoeren waren.
Und auch vorher suchten die meisten der Ausreisewilligen das, was damals schon “ein besseres Leben” hiess.