Als ich im Jahr 2003 nach Berlin zog um hier zu bleiben, war meine erste Wohnung im Bezirk Prenzlauer Berg, in der Malmöer Straße. Der nächste S-Bahnhof war der Bahnhof Bornholmer Straße. Ich zog zu zwei Männern, die eher hausten, als wohnten. Das Waschbecken im Bad war mit einer ominösen Schicht aus Staub, Zahnpasta, Haaren und Kalk überzogen. In der Küche stand eine Armada aus Mateflaschen. Fruchtfliegen schwirrten in Scharen über den Mülleimern. Es wurde überall geraucht. Zum Frühstück, zum Mittagessen und für zwischendurch gab es Cornflakes. Dazwischen auch mal ne Tüte. Dann wieder Mate. Cornflakes, Mate und Tüte – abends Tiefkühlpizza.
Klingt jetzt nicht so schön. Aber immerhin habe ich so eine echt lustige Anekdote, die ich immer wieder erzählen kann. Die beiden Männer und ich, wir wohnten in einer Erdgeschosswohnung. Unsaniert natürlich. Ich erinnere mich noch gut, dass der Vermieter, als wir auszogen, eine Wohnung bei der Übergabe abnahm, wie ich sie im Traum nicht abgenommen hätte! Die Wände waren bunt, teils fleckig gestrichen. “Besenrein” muss auch eine Auslegungssache sein – gibt ja gute und schlechte Besen, was? Aber ich will mich nicht beschweren. Ich hatte, als ich nach Berlin kam, so wenig Geld, dass es mir nur mehr als recht war, nichts – aber auch gar nichts – in die Renovierung einer Wohnung zu stecken, in der man eh nur gehaust hatte.
Der S-Bahnhof Bornholmer Straße hat einen wohlbekannten Namen. Zumindest wenn man nicht so ein geschichtsvergessenes Abitur in der Tasche hat, wie ich. Ich hatte davon noch nie gehört. Und so wusste ich zu jener Zeit überhaupt nicht, was hier einmal gewesen war. Stellen Sie sich das einmal vor! Ich schlappte wirklich so ziemlich jeden Tag zu dieser Haltestelle und musste dafür ja über die Brücke gehen, die der berühmte Grenzübergang von Ost- nach Westberlin war und ich habe es wirklich nicht im Geringsten gewusst. ICH – die ich Jahre später anfangen würde über Ost und West zu schwadronieren! Von nix ne Ahnung! Na gut, man muss meinem Geschichtslehrer zugute halten, dass er vielleicht auch nichts dafür kann, dass wir in Geschichte nie wirklich bei der Wiedervereinigung angekommen sind. Hat sicher was mit dem Lehrplan zu tun gehabt. Alles viel zu eng und zu voll und viel zu lange vertrödelt man seine wertvolle Zeit damit, dass man die Herrscherdaten von irgendwelchen Typen auswendig lernt (oder eben nicht, wenn man so jemand ist, wie ich. Auswendiglernen war bei mir irgendwie nie eine erfolgreiche Lernmethode, weil sich in mir alles sträubt, weil ich Zusammenhänge und Kontext haben will, wenn ich Dinge verinnerliche, aber so war zumindest mein Geschichtsunterricht in 90 Prozent der Fälle nicht angelegt. Nur in einer sehr kurzen Phase von vielleicht einem Schulhalbjahr machte eine unserer Lehrerinnen mit uns ein Experiment: Freiarbeit. Wir erschlossen uns alles rund um die Industrialisierung selbst, hatten verschiedene Materialien und Themenbereiche, in die wir uns selbstständig einarbeiten konnten. Das ist der einzige Teil aus der Schulgeschichte, der mir bis heute hängen geblieben ist. Alles weitere habe ich erst nach der Schule hier und da gelernt und verinnerlicht, am meisten während meines Studiums der Politischen Theorie und Ideengeschichte am Lehrstuhl Herfried Münklers). Was erschwerend zu meinem Nichtwissen hinzu kam war, dass ich immer auf der linken Straßenseite zur Bahn gelatscht bin – rechts stehen noch Mauerreste. Vielleicht hätte ich was kapiert, wenn ich mal da lang gemusst hätte – musste ich aber nie.

Heute ist an der Bornholmer Straße einerseits eine Baustelle, weswegen ich nicht links rauskann, sondern rechts rausmuss. Und andererseits ist dort nun auch eine kleine Stätte mit Tafeln und Bildern, die erklärt den Leuten das mit der Mauer und dem Grenzübergang. Eine Gruppe steht rum, einer steht vor der Gruppe und munkelt Dinge, die ich nicht hören kann. Aber inzwischen weiß ich ja auch schon mehr, als noch vor zwölf Jahren. Damals spielte das alles für mich keine Rolle. Ich war gerade in der Stadt angekommen, in der ich immer leben wollte. Sie war so super für mich! Hier konnte ich eine Arbeit leisten, die mir höchst sinnvoll vorkam (ich war damals im Team, das den ersten McPlanet.com-Kongress mit dem Titel “Die Umwelt in der Globalisierungsfalle” organisierte, eine Gemeinschaftsveranstaltung von attac, dem BUND, Greenpeace, dem WWF und der Heinrich-Böll-Stiftung). Jeden Tag fuhr ich nach Steglitz, wo unser kleines Kongressbüro war (auch mal eine Reise wert). Geld hatte ich keines, aber das war mir egal. Ich fuhr schwarz, ich lebte in einer WG, die kein Geld von mir wollte, weil sie auch ohne mich gehaust hätte, ich trug ohnehin schon lange Second Hand-Klamotten – mein Lebensstandard war so niedrig und das war so egal. Denn das war ja auch Berlin. Damals noch eine der günstigsten Städte überhaupt!

Gerade was den Wohnraum anging war das damals noch ein absoluter Traum. Keine Ahnung, was die kleine Butze damals an Miete gekostet hat, aber es werden wohl nicht mehr als 300 € oder so gewesen sein. Man zog damals auch einfach mal um, wenn man grade Lust hatte. Von Prenzlauer Berg zogen wir nach Pankow. Von Pankow, weil es dort im Gegensatz zu dem, was die Immobilientante behauptet hatte, KEIN DSL gab, ging es nach Friedrichshain. Allein in Friedrichshain bin ich jetzt schon in der vierten Wohnung. Aber hier werde ich wohl auch bleiben. Müssen. Denn ringsherum ist der Lebensraum – gerade für Familien – leider schon aufgebraucht. Alles ist voll. Was nicht voll ist, kann man nicht bezahlen.

Für den berliner Sender RadioEins zog Diane Arapovic durch Kreuzberg auf der Suche nach einem Zuhause. Sie sprach mit Hinz und Kunz über den Kiez, die Preise, die Chancen und die Probleme und fand am Ende: nichts. Sie las Anzeigen, traf Makler, besuchte Wohnungsbesichtigungen… nüscht. Sie traf Flüchtlinge, die auf Parkbänken oder auf der Straße schliefen und unterhielt sich mit Migranten über die Zukunft in dieser komischen Stadt. Teuer, überlaufen, kaum passende Angebote. Die Mieter scheinen sich in ihre Wohnungen einzubunkern. Eine kompetente Reaktion auf die Situation auf dem Markt. Man gibt besser nicht mehr her, was man hat. Noch in den Nuller Jahren war all das nicht so dramatisch. Gegen 2010 ging es los. Wer noch 2009 was erwischte, ist heute froh.
Das Interessante an der Bornholmer ist, dass in der Gegend, in der ich zum ersten Mal ein Berliner Dach über dem Kopf hatte, die Gentrifizierungskarawane anscheinend noch nicht so gnadenlos durchgezogen ist. Es gibt noch einiges an unsanierten Häusern. Außerdem sind die typischen Zeichen bald steigender Mieten nicht zu finden. Welche das sind? Meine Freundin A. wohnt seit einigen Jahren im Wedding. Seit ich in Berlin bin behaupten alle: “Der Wedding ist der nächste große In-Bezirk”. War bisher immer nüscht. Erst kamen Friedrichshain und Neukölln. Aber jetzt, sagt meine Freundin A., jetzt gibt es bei ihr um die Ecke diese Bioläden. Oder diese kleinen Kaffees mit New York Cheesecake und Tartes und veganem Kaffee. Und es gibt diese kleinen Läden, in denen Unternehmerinnen ihre selbstgenähte Kinderkleidung sowie Verschnörkeltes anbieten. Das sind die ersten Anzeichen. Und dann die steigenden Mieten. Der Wedding, auf den wir immer gewartet haben, ist nun da. Hallo!

In der Gegend um die Malmöer Straße sind von diesen Gentrifizierungspionieren noch keine Anzeichen zu sehen. Hier könnten wir ja herziehen. Aber… dafür müssten wir dann alles hinter uns lassen, was wir in zwölf Jahren in Friedrichshain aufgebaut haben, inklusive der Familie. Hier leben Kindesvater, Großeltern und die Freunde aus Kita und Schule. Hier SIND Kita und Schule. “Hier oder gar nicht”, sagt ein Ladenbesitzer in der Reportage von Diane Arapovic. Ja. Hier oder gar nicht. An der Bornholmer mag man noch günstiger leben können – vielleicht etwas geordneter, mit weniger Fruchtfliegen und gesünderem Essen, als damals. Aber auch wenn dieser Grenzübergang offen ist, wäre das ein Auseinanderreißen von Menschen, die zusammen gehören.

Bln
Danke für diesen sehr interessanten Bericht.
Dank diesem Blog erkenne ich jedesmal, daß diese Stadt für mich persönlich nichts ist!
O bitte: unprätentiös
… keine Angst vor Umlauten
Und, Don Ferrando, keine Angst vor dieser Stadt, bevor Sie nicht die andere Hälfte gesehen haben.
ja. danke für den Hinweis 🙂
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Oh, Gott, dieses geschwungene Gebäude unten. Wie kann man sich als Architekt so etwas nur trauen? Und wie kann man als Stadtplaner so etwas nur zulassen?
Bornholmer
Die Bornholmer war über viele Jahre mein Wohnumfeld. Wir wohnten in der Schönfließer. Ich kenne die Bornholmer noch als Grenze und später als Übergang.
Heute gehe ich noch oft dort einkaufen, aber wir wohnen inzwischen in Pankow.
Und dieses irre neumodsche Haus kenne ich auch. Das ist – glaube ich – die Czarnikauer. Die führt direkt auf unser damaliges Wohnhaus. Haben Sie schön beschrieben. Gerne nachgelesen.
Bornholmer Str. 3
Ja, meine erste Studentenbude in Berlin, meine erste Studentenliebe in der Bornholmer.
Über die Mauerreste habe ich sinnieren müssen, denn an der Bornholmer gab es keine. Vielleicht stehen sie in der Gartenkolonie unmittelbar an der Brücke und an der S-Bahn zur rechten Hand. Dort sind wir spazieren und küssen gegangen…
Zu der Gartenkolonie hieß es immer, man würde dort zwischen der Bornholmer und Pankow ein Diplomatenviertel aufbauen.
Liebe Frau Rönicke, ich könnte mich nicht erinnern, dass ein Kommilitone über so traurige Wohn- und Lebensverhältnisse erzählt hätte. Aber das war vor einem halben Jahrhundert.
Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, dass es Ihnen heute besser geht.
Mit fielen Grüssen,
Bernhard del Monaco