Nikolassee ist einer der Bahnhöfe auf meinem Arbeitsweg. Ich fahre in der Regel mit der S7 bis Griebnitzsee und hatte bisher keinen wirklichen Grund, in Nikolassee auszusteigen. Vor einem Jahre war ich zwar mal in der Ecke, um jemandem eine Federgabel für mein Mountainbike abzukaufen, aber damals habe ich mich vom Navi leiten lassen, was ein Garant dafür ist, dass man von der Gegend fast nichts mitbekommt.
Also aussteigen am letzten noch unbesuchten Bahnhof auf dem Weg zum Sender und nachsehen, was es dort zu erzählen gibt. Es ist nicht viel, denn Nikolassee ist ein reines Wohngebiet, in dem sich Villa an Villa reiht. Die Häuser, die hier entlang der Alleen stehen, verdienen genauso das Attribut „üppig“ wie die Vegetation um die Häuser herum. Selbst diejenigen Villen, in denen mehr als eine Familie wohnt, sehen aus, als lebte man darin üppig vor sich hin.
Hermann Muthesius baute reichlich Häuser entlang der Rehwiese. Die Rehwiese ist eine Grünfläche, die den Schlachtensee mit dem Nikolassee verbindet und aussieht, als sei irgendein eiszeitlicher Gletscher hier durchgerauscht, was vermutlich auch tatsächlich so war, so dass hier eine Auenlandschaft zu finden ist, die allerdings nicht regelmäßig von einem Fluss überschwemmt wird.
Architekturgeschichtlich ist Nikolassee auch sehr interessant. Ich habe mal erzählt bekommen, dass viele der alten Häuser in den 70er Jahren fast abgerissen und durch Neubauten ersetzt worden worden wären. Verhindert haben soll dies hauptsächlich ein Architekturhistoriker namens Julius Posener, dem in der Siedlung auch ein Platz gewidmet ist und dessen Studenten gemeinsam mit dem lokalen Bürgertum die Häuser besetzten. Immer, wenn ich solche Geschichten höre, davon, wie in den 60ern und 70ern versucht wurde, alte Gebäude zu schleifen und durch „moderne“ Asbest-Kistenarchitektur zu ersetzen, was in vielen Fällen auch tatsächlich passiert ist, frage ich mich, was damals im Trinkwasser gewesen sein muss, das dazu geführt hat, dass der überwiegende Teil der Stadtarchitekten irgendwie den Verstand verloren zu haben scheint. Heute sind wir glücklicherweise etwas weiter und denken fester nach, bevor wir Gebäude, die hundert Jahre lang schön genug waren, durch welche ersetzen, bei denen jedem Menschen mit einem Ansatz von Geschmack klar sein dürfte, dass sie in zehn Jahren schon so unansehnlich sind wie das Kanzleramt vom ersten Tag an. Was unansehnliche Gebäude mit den Menschen machen, die in ihnen und um sie herum leben, erklären die Soziologen heutzutage ganz gut. In Kürze: Sie machen die Seele kaputt und in Folge auch die Umgebung und die Gemeinschaft. Gleichwohl finde ich, dass man so manchen Denkmalschützer ruhig mal so lange mit einem feuchten Lappen ohrfeigen könnte, bis dieser zur Vernunft kommt. Aber eigentlich habe ich von sowas keine Ahnung, fälle bloß billige Geschmacksurteile und schweige darum lieber darüber.
Die ganze Gegend um die Rehwiese herum ist furchtbar schön und strahlt eine Ruhe aus, die einen vergessen lässt, dass man gerade mal 20 SBahn-Minuten von der Friedrichstraße entfernt ist, so dass ich mich spontan in Nikolassee verknallt und beschlossen habe, dass dieser Stadtteil auf Platz eins der Orte gerückt ist, an denen ich Berlin leben wollen würde. Nahe der Kirche, in eckigen Häuser, die in den 70er oder 80er Jahren mal als „modern“ gegolten haben mögen, habe ich dann auch einen Immobilienmakler gefunden, der lokale Häuser und Wohnungen per Schaufensterauslage feilbietet. Keines der Häuser, auch nicht diejenigen, die in einer Seitenstraße liegen, war günstiger als kanpp eine Million Euro. Lösegeld an den Makler, Grunderwerbsstrafe an den Senat und Gedöns oben drauf kommt man also billigstenfalls mit 1,2 Millionen Euro davon. Ich bin zwar willens und in der Lage, eine größere – wir sind vier Personen – Immobilie zu kaufen, aber das hier übersteigt meine Fähigkeiten mindestens um den Faktor drei. Schade eigentlich. Aber ich nehme ja regelmäßig an der Fernsehlotterie teil, vielleicht ergibt sich da ja mal was.
Zurück zum, selbstverständlich ebenfalls hübschen, Bahnhof. An das Gebäude schließt sich eine Ladenzeile an, wie an viele S-Bahnhöfe dieser Stadt. Was diese Zeile aber von allen anderen mir bekannten unterscheidet, ist der fehlende Wildwuchs. Die Fassaden sind in einheitlichem gelb und auch die Ladenschilder sind vereinheitlicht. Das ist mit der etwas zu schrillen blauen Farbe vielleicht nicht besonders gut gelungen (mein Referenzobjekt für die Frage, wie man den Einzelhandel in ein Stadtbild integriert, ohne dass er zu sehr stört, ist immer die Altstadt von Rüdesheim), sorgt aber dafür, dass man sich nicht direkt fühlt wie in einem, nach außen gestülpten, Ramschladen. Und das, obwohl es hier den üblichen Bäcker, den üblichen Chinamann und die übliche Fußball-Raucherkneipe gibt. Außerdem in der Zeile: ein Blumenladen, ein Badezimmergeschäft, ein Café, ein kleines Antiquitätengeschäft, das aussieht, als sei es bloß ein Hobby und ein Buchladen, in dem ich mir spontan „Israel ist an allem Schuld“ gekauft habe. Das passiert mir nur in kleinen Buchläden, in einer der großen Ketten habe ich noch nie etwas entdeckt, das mich spontan interessiert hat. Ich empfehle deshalb, kleine Buchläden aufzusuchen. Außerdem empfehle ich das Buch von Esther Schapira und Georg Hafner. Darin lernt man nämlich sehr gut und nachhaltig, was Antisemitismus ist und wie man ihm begegnet. Das zu wissen, kann nie schaden. Heutzutage allemal.
Das Spektakulärste aber hätte ich fast übersehen: Es gibt an diesem Bahnhof keine Dönerbude! Ich bin es gewohnt, an jedem Bahnhof mindestens eine Dönerbude und den von ihr ausgehenden Geruch zu finden. Das nervt mich. Ich bin nicht oft genug besoffen, um Döner gut zu finden. In Nikolassee dagegen riecht es nach allem anderen. Statt der Dönerbude betreibt der lokale Gemüsehändler einen kleinen Imbiss, in dem es Pizza und frisch gemachte Focaccia für kleines Geld, gute Weine, ordentlichen Kaffee, die besten mir bekannten Trockennudeln und österreichische Limonaden gibt. So hätte ich das gerne immer. Stulle statt Rasurhack!
Ansonsten ist am Bahnhof tote Hose, sagt die Dame im Zeitungsladen. Das einzige, was los sei, seien die üblichen Jugendlichen, die immer irgendwie an Bahnhöfen rumlungern, und dass gelegentlich bei ihr eingebrochen würde. So blöd muss man auch erstmal sein, genau dort in ein Büdchen einzubrechen, wo wenig Umsatz gemacht wird.
Jetzt habe ich Nikolassees Gebäude so sehr gelobt, dass es mir fast ein wenig peinlich ist. Ist es nicht. Mir ist fast nichts peinlich, ich muss aber dennoch einräumen, dass es auch langweilige, asbestige Mehrfamilienhäuser gibt, die irgendwann in der 60er oder 70er Jahren gebaut worden sein müssen. Ich habe bisher noch nicht herausgefunden, ob und zu welchem Preis man sich so etwas zulegen könnte, aber sie machen den Eindruck, dass ich es mir vermutlich noch leisten könnte, darin zu wohnen. Ja, sie sind hässlich, aber seien wir mal ehrlich: Es ist nicht wichtig, wie das Haus aussieht, in dem man wohnt, solange es komfortabel ist. Wichtig ist, was man sieht, wenn man aus dem Fenster blickt. Und das ist in Nikolassee halt immer irgendwie aberwitzig angenehm.
P.S.: Als Berlin noch nicht in Ostdeutschland war und Westberlin hieß wollte man sich nicht auf Fernmeldeleitungen durch die DDR verlassen und hat darum in Nikolassee eine sogenannte Überhorizont-Richtfunkanlage betrieben, mit der man mit der Bundesrepublik reden konnte und die 1974 durch die Frohnauer Richtfunkanlage ersetzt wurde, die man jahrelang für abhörsicher gehalten hatte, was im Ostblock aber niemand wusste, weshalb das Ding dann einfach abgehört wurde. Aber das hat ja nicht geschadet, wie wir heute wissen. So Technikgeschichte finde ich ja auch immer sehr spannend.
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Einzig die hängenden Rosen im Imbiss des Gemüsehändlers trüben den Eindruck des perfekten Nikolassee, oda etwa nich ?!
Perfekt kann hier ja gar nix sein, denn es ist nördlich der Alpen 😉
Danke Schön
Vielen Dank für diesen Text, der mir gerade den Montag morgen versüßte.
da gibt's noch mehr
Auch erwähnenswert: wenn man den Bahnhofs-Ausgang auf der anderen Seite wählt, den auch alle Strandbad-Wannsee-Besucher seit zig Jahrzehnten benutzen und der übrigens auch (und durchaus wiedererkennend) im Film “Menschen am Sonntag” vorkommt…
Doch was ich aus der Gegenwart des Bahnhofs Nikolassee erwähnen wollte = Die Spinner-Brücke mit dem Biker-Restaurant und der unvermeidbaren riesigen Motorräder-“Ausstellung”. Man muss eben nur den anderen (unscheinbareren) Bahnhof-Ausgang wählen und über die Avus-Brücke gehen.
Die kenne ich natürlich, denn ich fahre selbst Motorrad – aber die hebe ich mir für den Sommer auf. Das gibt die besseren Fotos 😉
Ich hab das Café Tayas vermisst...
… welches früher nur 150 Meter vom Bf Nikolassee köstlichste Kuchen im Angebot hatte.
Aber beim Nach-Googeln hab ich lernen müssen, dass das Café im Sommer 2014 umziehen musste in die Matterhornstr. 42-56, nahe des S-Bf Schlachtensee:
https://www.facebook.com/Www.tayas.de
Leider scheint man dort nur Do-So 11-17 Uhr geöffnet zu haben… aber an diesen Tagen empfehle ich Dir den Zwischenstopp – vor allem nach der Arbeit 🙂
Meine arme Hüfte… 😀
Vermieter
Das Tyas wurde vom neuen Vermieter vertrieben, hieß es. Der soll so stark erhöht haben, dass es nicht mehr zu bezahlen war. Seitdem stand der Laden leer! Falls dem nicht so ist, wäre eine Gegendarstellung interessant!
Landezeile
Nikolassee als Wohngegend ist ganz toll, aber andererseits hat es leider den Supermarkt, den es anscheinend “verdient”: Einen Netto! Der Fischhändler hat letztes Jahr entnervt aufgegeben und sich gefragt, wo die ganzen Villenbesitzer/Millionäre denn so einkaufen. Diese kurze Blüte auch mit dem erstklassigen Fleischer ist leider im Keim erstickt worden. Ein Jammer…..
Wie schön, dass der Gemüsehändler wenigstens seit über zehn Jahren durchält.
Ansonsten halten es die Nikolasseer anscheinend wie viele wohlhabende Deutsche: Teure(s) Auto(s), sehr teure Marken-Küche mit allem Schnickschnack, der nie benutzt wird und dann zum Einkaufen zu Aldi. Oder eben Netto!
Nachbarn sehen halt nur sehr selten, was man auf dem Teller hat 😉
Über diesen Discounter hatte ich mich auch gewundert. Aber der Rest der Siedlung war so angenehm, dass ich das völlig vergessen hatte.