Mitte der 1990er Jahre beschloss ich, nicht wirklich nüchtern, nach Berlin umzuziehen. Um nachzusehen, ob ich dieselbe Entscheidung auch mit klarem Kopf getroffen hätte, flog ich nochmal hin und konnte in der, selten genutzten, Wohnung eines Bekannten übernachten. Diese Wohnung lag am U-Bahnhof Grenzallee, dessen Wände gerade saniert werden, so dass der Bahnhof einen guten Vorgeschmack auf das gibt, was ich oben vorfinde.
Dass ich mich hier mit etwas offeneren Augen umgesehen habe, ist 20 Jahre her, und nicht nur war mein mein Blick auf die Welt ein anderer, sondern auch der Anlass, auf sie blicken. Damals suchte ich die U-Bahn, um schnell dorthin zu kommen, wohin ich eigentlich wollte, und ignorierte die totale Abgefucktheit dieser Gegend – heute sehe ich die totale Abgefucktheit dieser Gegend und versuche, so schnell wie möglich zur U-Bahn zu kommen, um dorthin zu gelangen, wo ich lieber sein wollen würde, was in etwa 90% aller anderen Orte in Berlin entsprechen dürfte.
Himmel, ist das hier eine unattraktive Gegend. Der einzige Grund, aus dem ich in den letzten Jahren mehrfach hier war, sind die Büros der Autovermietungen, die für mich günstig mit der S-Bahn erreichbar sind. Hier sind Tankstellen, Autohäuser, ein Friedhof (Landschaftsbau, immerhin!), reichlich von diesen Alkoholikerkneipen, die man schon riechen kann, bevor man sie überhaupt sieht, die meisten Häuser scheinen seit Jahrzehnten nicht renoviert worden zu sein und aus ihnen treten stets schlechtgelaunte, gebeugt gehende Menschen – was allerdings auch bloß selektive Wahrnehmung sein könnte, weil ich diese Gegend so scheußlich finde.
In den Seitenstraßen findet man das übliche Berliner Kleingewerbe, wie beispielsweise Hinterhofwerkstätten, die immer wie eine gute Antwort auf die Frage scheinen, wie zum Teufel man auf die alten Schrottkarre noch TÜV bekommen hat, eine Wäscherei mit Namen „Tempo“, was einerseits einen beruhigend ostzonalen Klang hat (wenngleich hier West-Berlin war), mit dieser Anmutung aber andererseits zum insgesamt eher unangenehmen, leicht ostzonal-räudigen Bild passt, das Neukölln hier präsentiert, obwohl einzelne Gebäude recht frisch gestrichen sind.
Drei Dinge sind mir in diesem Jammertal dann aber doch aufgefallen: Ein modernes Hotel, das so überhaupt nicht zu meiner Wahrnehmung dieses Kiezes passen will. Auf seiner Webseite wirbt es damit, „in einer ruhigen Seitenstraße und doch mitten im Szenebezirk“, außerdem „verkehrsgünstig“ zu liegen. Das mit der ruhigen Seitenstraße könnte zwar stimmen, jedoch bin ich nicht ganz sicher, welche Geräuschkulisse die übernächste Parallelstraße macht, die eigentlich zu vernachlässigen wäre, wäre sie nicht die Stadtautobahn. Die wiederum stützt, zusammen mit dem nahen U-Bahnhof, die Behauptung „verkehrsgünstig“, die mir hier sehr wichtig erscheint, denn man will so schnell wie möglich von hier verschwinden können, um in eine der echten Mitten des Szenenbezirkes zu gelangen, die noch ein paar Stationen entfernt liegen.
Aber sei’s drum! Das Hotel ist sauber und nicht teuer, man ist eine U-Bahnstation von der Ringbahn (S Neukölln) entfernt, an der es einen guten Supermarkt gibt und von der aus man prima die Stadt erkunden kann. Mitten in den Szenebezirken wohnt der arglose Tourist jedenfalls teurer.
Auf der anderen Seite der Stadtautobahn steht ein lustig dekoriertes Gebäude, das sich nicht ordentlich fotografieren ließ, weil Autos vor ihm geparkt waren (Autos machen jedes Foto hässlich, das nicht das Auto selbst abbilden soll – ich glaube, das bedeutet etwas), das aber auf den Namen „Kunstburg“ zu hören scheint (jedenfalls hing ein entsprechendes Schild draußen und im Web finde ich die Seite eines Trödlers, dessen Name der Anschrift entspricht) und mich auffordert, nur einmal zu klingeln.
Dummerweise gibt es reichlich Knöpfe, die mich verunsichert haben, wo ich nur einmal klingeln sollte, nur einen Knopf oder pro Knopf nur einmal, so dass ich irritiert davon ging, um in einem bulgarischen Eckrestaurant zu landen. Eine enge Freundin ist Teilbulgarin, ich habe schon viel guten, bulgarischen Wein getrunken und Bilder von bulgarischen Künstlern an den Wänden hängen, aber bulgarisches Essen war bisher noch nie an mir vorbeigekommen.
Also rein da, um „das bulgarischste, das Sie haben“ zu bestellen. Was ich natürlich nicht getan habe, denn manche Gerichte hatten nichtmal eine deutsche Bezeichnung auf der Karte und ich bin ein Feigling. Ich entschied mich für „Kugeln Suppe“ und Hähnchenherzen in Butter. Der Name der Suppe erschien mir abenteuerlich genug und Hähnchenherzen esse ich ungefähr so gerne, wie es sie selten gibt.
Der Laden selbst ist eher ungemütlich eingerichtet, fast so, als würde man auf Gäste nicht wirklich wert legen (so ähnlich wie früher in der Kleinstadt die Chinarestaurants, bei denen man sich auch immer irgendwie gefragt hat, was die denn eigentlich wirklich machen). Das wiederum hat sich in den Speisen nicht abgebildet, denn sowohl die Suppe als auch das Fleisch waren so wohlschmeckend, dass ich seither rumerzähle, dass man hier ruhig mal vorbeigehen kann, wenn man bulgarisch essen möchte – falls es jemand ausprobiert und beurteilen kann, wie authentisch die Küche hier ist, würde ich gerne darüber aufgeklärt, wahlweise eines Besseren belehrt werden.
Die Kugeln in der Suppe waren übrigens Hackfleischbällchen.
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Seltsam… Kleingeschnittene Hühnerherzen hab’ ich früher an meine Katze verfüttert.
Was ist daran seltsam? Viele Haustiere werden höherwertig ernährt, als Menschen, die im selben Haushalt leben 😉
Tempo
Bei der abgebildeten Wäscherei hatte ich gar keine Ostassoziationen.
Ich mußte eher gleich an Wirtschaftswunderjahre denken.
An den Tempo Kleinlaster.
Das Wäschereigebäude mit der Aufschrift erinnert mich an Eins-Zwei-Drei mit Hotte Buchholz.
Also alles sehr Westberlin!
Alles Gute für 2016 an die beiden Autoren. Ich freue mich auf weitere Beiträge.
Ja, der Matador! Den kenne ich aber nur noch aus Erzählungen meines Vaters (und als Wiking-Modell). Bei mir weckt “Tempo” eher so “Lok Leipzig”-Assoziationen.
Ihnen auch alles Gute – und danke für die Aufmerksamkeit!
Assoziationen
Zu den ostzonalen oder ostsektoralen Assoziationen, die man in Neukölln haben kann, fiel mir eine Umfrage ein, derzufolge die nach dem Mauerfall geborenen Berliner in ihrer Mehrzahl glauben, dass Neukölln östlich der Mauer gelegen habe.
Ich würde eine Wäscherei nie und nimmer TEMPO nennen, weil das in mir das Bild eines in der Hosentasche vergessenen und nun von der Waschmaschine zerfieselten Tempotaschentuchs hervorriefe.
Als ich 99 aus Neukölln weggezogen bin, hat es sich überwiegend auch angefühlt wie im Osten 😉
KaBalz ist erstaunt,
über diesen unterschwellig stets nörgelnden Bericht aus dem Herzen der Reichshauptslum* (ich mache ausdrückl. darauf aufmerksam, dass * © bei Don Alfonso angesiedelt ist, also keine unnötige Androhungen oder beleidigtes Gezicke mir gegenüber).
Zu klären vom Autoren, bzw. zumin. zu hinterfragen, wäre noch die Ursachen der Anziehungskraft B´s auf “die Jugend dieser Welt”.
Meine bish. wenigen B.-Besuche galten lediglich den Konzerten auf dem Gendarmenmarkt und den Museen der Museumsinsel-allemal keine Jugendtreffs!
Übrigens, die Ansiedelung bulgarischer Feinschmeckerlokale im genannten Bereich könnte auf der Annahme der Betreiber beruhen, dass ostberlinisches Klientel dort solch angenehme Urlaubserinnerungen wiederzufinden hofft, wie der gelernte Wessi bei “seinem” Italiener umme Ecke. Die im Umfeld des Goldstrandes gemachten Erfahrungen mit den ehem. sozialistischen Brüdern und Schwestern könnte den Schankwirt dazu veranlasst haben sein Etablissement so minimalgemütlic
Das mit dem “Reichshauptslum” ist dummes Zeug. Es lebt sich sehr angenehm hier in der Hauptstadt – bloß rund um Bahnhöfe ist es halt meistens eher hässlich 😉