In diesen Tagen, in denen das Netz vor gehässigen Beiträgen bald zu platzen scheint, will ich von etwas Angenehmem erzählen. Wir sind nämlich mit der Dampflok gefahren!
Es war Nikolaus, wir haben die Kinder eingepackt und sind rausgefahren ins Märkische Viertel. Das war mal ein sogenannter sozialer Brennpunkt, eine überwiegend von, aus der Innenstadt verdrängten, sozial Schwachen bewohnte Hochhaussiedlung, die zu betreten jedem schlecht informierten Provinzler noch heute die nackte Angst in Flanellhöschen treibt.
Tatsächlich wohnen hier weit überwiegend friedliche und freundliche Menschen, die nicht so viel Glück oder wohlhabende Eltern hatten und ganz normal morgens arbeiten gehen und abends wieder nachhause kommen, wie die meisten anderen Menschen auch. Wenn man ehrlich ist und auch noch eine Schwäche für Hochhäuser hat, so wie ich, muss man sich sogar eingestehen, dass das MV ein ganz hübscher Ort ist, in dem zu wohnen man sich ganz gut vorstellen kann, und der vor allem lange nicht ein so schmuddeliges Ghetto ist, wie irgendwelche albernen Rapper uns in den vergangenen Jahren immer mal wieder glauben machen wollten. Dafür ist es historisch umso interessanter (RAF! Terror! Huiuiui!).
Jedenfalls ist am Rande des Märkischen Viertels der „Haltepunkt Wilhelmsruher Damm“ eines historischen Zuges, mit dem die Berliner Eisenbahnfreunde gelegentlich die Strecke der Heidekrautbahn befahren und Passagiere mitnehmen. Wir haben Fahrkarten erster Klasse, weil ich immer ein wenig jämmerlich bin, wenn es darum geht, auf vermeintlichen Komfort zu verzichten und so steigen wir in den hinteren Wagen, der zwar gepolstert ist, aber lange nicht so hübsch aussieht, wie das polierte Holz der gleichartigen Klasse, und lassen uns von einer 131.060 zum Heidekrautbahn-Museum in Basdorf fahren.
Die 131.060 wurde Anfang der 1940er Jahre in Rumänien gebaut, hat 650 PS, wiegt knapp 50 Tonnen und hat eine Höchstgeschwindigkeit von über 60km/h. Da staunt sich deutschäs Studänt!
Bei der Abfahrt habe ich mich noch gefragt, wie lange es wohl dauern würde, bis die Kinder anfangen aus Langeweile zu quengeln, kann mich aber dummerweise gar nicht mehr so genau daran erinnern, wie lange die Fahrt überhaupt gedauert hat. Zwischendurch kam der Nikolaus und hat allen anwesenden Kindern – gut die Hälfte der Passagiere – Schokolädchen gebracht. Als wir endlich am Museum angekommen waren, habe ich mit demgelangweilten Quengeln aufgehört, denn es gab dicke Erbsensuppe (super!), Bier (meistens super!) und, von der Gattin des Vereinschefs selbst gebackenen, Kuchen (auch super!). Außerdem gab es reichlich zu sehen (noch superer!).
Abgesehen von vielen alten Kleinrequisiten aus dem Bahnbetrieb der vergangenen 100 Jahre, einer Schranke zum Selberkurbeln, jeder Menge Waggons in unterschiedlichsten Zuständen, einer kleinen Bahn, auf der Kinder im Kreis fahren können und noch mehr eiserne Dinge, deren Verwendung mir nicht immer klar war, stand noch eine weitere Dampflok und diverse Rangier- und Werksloks in einer der Reparaturhallen – und mittendrin der zuggewordene Traum meiner Kindheit: Ein Schienenbus!
Als ich klein war, wohnten wir in einem Haus gegenüber der Einmündung zur Adelheidstraße. Am Ende der Adelheidstraße kreuzte die Bahnstrecke und wenn ich am Fenster stand, konnte ich die, in der Ferne vorbeifahrenden, Züge sehen. Ich habe ein nur verschwommenes Bild von Dampflokomotiven im Kopf, dafür aber ein sehr klares von roten Schienenbussen, die irgendwo zwischen Köln und der Eifel hin- und herfuhren. Die meiste Zeit des Museumsbesuches habe ich also schwelgend neben dem Fahrzeug verbracht und mehrfach versucht, den Aufpasser zu überreden, mich mal rein zu lassen. Hat aber leider nicht geklappt.
Die Dinger heißen übrigens Schienenbus, weil sie ähnlich konstruiert sind wie Omnibusse, haben allerdings zwei Steuerstände. Wär ja auch irgendwie blöd, wenn man immer wieder wenden müsste – was bei der Dampflokfahrt mit beeindruckend zischendem Rangieraufwand bewerkstelligt wird.
Das war garantiert nicht unsere letzte Fahrt mit den Eisenbahnfreunden und ich kann nur wärmstens empfehlen, mal einen Ausflug mit deren Zügen zu machen. Wann hat man heutzutage in der Wegwerfgesellschaft schon noch Gelegenheit, mal ein Stück Technik zu erleben, das für die Quasi-Ewigkeit gebaut wurde.
Sollten Sie sich entschließen, den Schienenbus zu chartern (Ja, das geht!!11!), würde ich mich sehr freuen, hätten Sie noch einen Platz frei für mich.
Einstweilen jedoch verwende ich all meine Kraft darauf, mich daran zu hindern, mir einen entsprechenden Modellzug mit Gleisen und Trafo in Spurweite Z zu beschaffen, denn meine Wohnung ist klein und eigentlich wollte ich immer schon eine solche Modellbahn haben.
Ich wünsche Ihnen ein gutes neues Jahr!
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Das mit der Modelleisenbahn kenn ich, hab lange gebraucht um mir das wieder aus dem Kopf zu schlagen, weil das Rollmaterial ja Epochengerecht sein soll. Nunja, so investiere ich lieber in kokolores wie IT-Kram wo ich, wenn ich alles zusammenbrechen, ich mir eine total schicke Eisenbahnplatte mit meinen Sonderwünsche hätte zusammenstellen können. Egal, ich schweife ab… Sehr schöner Artikel. 🙂
Mein Vater hat sowas im Keller. Spur Z, mehrere Quadratmeter, Landschaft, Tunnels, das ganze Pipapo… Ich beneide ihn bisweilen sehr (und bin gelegentlich etwas verärgert, denn die Start-Austattung hatte ich ihm zum Renteneintritt geschenkt) 😀
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Schöner Artikel.
Die genaue Bezeichnung deines erwähnten Schienenbusses ist “Uerdinger Schienenbus” bzw. “VT98/798”.
https://de.wikipedia.org/wiki/Uerdinger_Schienenbus
https://de.wikipedia.org/wiki/DB-Baureihe_VT_98
Schienenbus
Hi,
du hast fast Recht, aber der VT der Berliner Eisenbahnfreunde ist ein VT 95, also die erste Serie mit nur einem Motor und Scharfenberkupplung. Die 98er haben 2 Motoren und Puffer mit Schraubenkupplung und konnten auch Güterwagen mitführen …
Schienenbus
9 Jahre werktäglich 2x 14 km roter Schienenbus zwischen Visselhövede (Elternhaus) und Walsrode (Gymnasium). Lieber Herr Klein, vielen Dank für diesen Beitrag. Auch Ihnen ein gutes (und hoffentlich produktives) neues Jahr.
Schienenbus
In meiner Erinnerung war das Rot der Schienenbusse viel dunkler und auch matt statt glänzend.
In meiner auch. Aber ist er nicht wunderschön?! 🙂
An Don Ferrando,
ohne “gehässig” zu sein, sagt: Originalton “Ürdinger Triebwagen” RAL 3004. Der neu gespritzte auf Photo, hmmm…RAL 3000. Das RAL 3004 erschien, à l´époque , durch den damals noch flächendeckenden Diesel-und Dampfbetrieb oft noch dunkler-sagt mein Mann.
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…ich würde immer alles glauben, was die Chipkarten an Farbe so umsetzen. Das Fahrzeug ist in RAL 3004, jedoch inzwischen nach Graffitiangriffen, die vor Jahren stattfanden, als das Fahrzeug noch draußen stehen musste, etwas ausgeblichen.
Der Lack ist von WUB von ca. 1992.
Beste Grüße
Hunger
So eine beschauliche Eisenbahnfahrt macht Spaß.
Mit schöner Aussicht umso mehr!
Bereits so eine kurze Fahrt weckt zwangsläufig
den Wunsch nach einer längeren.
Mit dem Rügenschen Rasenden Roland fuhr ich mal nach Sellin.
>McPomm ohne ätzende Glatzköppe; eher mit sanften Ü60ern.
.
Glücksmenschen, die Zeit und Geld haben, sei eine längere
nostalgische Bahnreise empfohlen,
Ein Berliner (Eisenbahn-) Freund fuhr mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Sibirien und
am Baikalsee begegnete er der Frau seines Lebens.
Wenn das keine mal schöne Aussicht ist!
.
Dagegen ICE-Raser, die im Winter kein Eis vertragen,
sind die Hölle; womöglich steckt man in der Pampa fest
und der Humor kommt einem abhanden,
weil man so fürchterlich Hunger hat….
Aber es gibt doch das kulinarische Angebot im Bordrestaurant, auf das ich von besorgten Zugbegleitern ständig aufmerksam gemacht werde. “Leckerer Butterkuchen” und so 😀
Bis Montag fährt der Schienenbus offenbar im Regelbetrieb 😉
Hallo Holgi,
die NEB meldet auf ihrer Website aktuell
“RB27: Am Donnerstag, 07.01.2016 ganztägig und von Freitag, 08.01. bis voraussichtlich Montag, 11.01.2016 in den Morgenstunden ist bei einzelnen Züge der RB27 aus betrieblichen Gründen ein Umstieg der Fahrgäste in Basdorf notwendig. Bitte achten Sie auf die Durchsagen!”
https://www.neb.de/
Nach Infos in Eisenbahnforen hat die NEB aktuell Fahrer- und/ oder Fahrzeug-Mangel und die Fahrer der Berliner Eisenbahnfreunde helfen mit ihrem Schienenbus inkl. Fahrer aus.
Wenn Du Dich in den kommenden Tagen in Basdorf auf den Bahnsteig stellst, sollte also die Chance groß sein, von dort mit dem Schienenbus zu fahren, zum ganz gewöhnlichen VBB-Tarif 🙂
(vermutlich eher auf dem Streckenast nach Wensickendorf als dem nach Groß Schönebeck)
Wensickendorf liegt noch im Bereich Berlin ABC, also kostet Dich das nur eine Tageskarte für (neu) 7,60 Euro oder nur 1,60 Euro für den Anschlussfahrausweis (jeweils für zwei Stunden).
Ich habe eh ne Jahreskarte ABC 🙂 Und wenn ich meinen lahmen Hintern am Wochenende aus der Bude bekommen sollte, habe ich jetzt ein Ziel. Vielen Dank! 🙂
Viel Erfolg und Spaß beim Schienenbusfahren
was ich an diesen Fahrzeugen genial fand (und finde): Die Möglichkeit, an den Sitzbänken durch einen Handgriff die Rückenlehne so umzulegen, dass man sich mit Blick in die andere Richtung auf die Bank setzen kann (z.B. beim Fahrtrichtungswechsel des Schienenbusses). Ich weiß aber nicht, ob alle Serien über dieses Feature verfügen.
Ansonsten ist es natürlich auch cool, dem Fahrer beim Bedienen der – erstaunlich wenigen – Schalter zuzuschauen.
Für mich ist Schienenbusfahren mit Urlaub in Deutschland konnotiert. Im Bayerischen Wald und im Allgäu gab es viele Nebenstrecken, die sich “nur” noch mit Schienenbus bedient wurden.
Es ist kein VT 98!
Hallo, ein sehr schöner Artikel. In den Kommis ist ja viel zum VT geschreiben worden, leider nicht ganz korrekt. Beim VT handelt es sich um den Einmotorigen VT 95 9396 der Berliner Eisenbahnfreunde aus Basdorf und nicht um einen Zweimotorigen VT 98. Erkennbar ist dies u.a. an den fehlenden Puffern und der fehlenden Regelkupplung. Unser “Uerdinger” ist auch kein richtiger Uerdinger sondern ein “Nürnberger”. Gebaut wurde er 1954 bei den MAN-Werken in Nürnberg. Sein 6 Zylinder Dieselherz stammt aus dem Hause Büssing, hört auf die Bezeichnung U10, und hat eine Leistung von 150 Ps. Der Lack ist zugegeben einen Tick zu hell, das konnten wir aber leider vor über 20 Jahren nicht beeinflussen, den Hochglanz durch vorbildliche Pflege schon. Auch in diesem Triebwagen können die Rückenlehnen der Sitzbänke in die Fahrtrichtung umgelegt werden und man sitzt so bequem wie auf einem Sofa.Wer ihn sich anschauen möchte kann das ab dem 1.Wochenende im April 2016 in Basdorf wieder machen.