Es ist in aller Munde, weil es in Amerika die Bierindustrie umgekrempelt hat. In Deutschland wird es bisher aber kaum getrunken. Was ist eigentlich Craft-Bier? Brauerei-Besuch bei einem deutschen Pionier.
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Oberhalb von Bonn, auf der anderen Rheinseite, im Stadtteil Pützchen, dort wo jedes Jahr im September einer der größten Jahrmärkte des Rheinlands abgehalten wird, liegt in einem unscheinbaren Gewerbegebiet die Brauerei von Fritz Wülfing – Ale Mania. Wie eine Brauerei sieht das unauffällige Gebäude aber weder von außen noch von innen aus. Andererseits: Wie sieht schon eine Brauerei aus? Bei Ale Mania jedenfalls handelt es sich um eine etwa 250 Quadratmeter große Industriehalle mit Rolltor und einem gelben, beheizbaren Boden, noch ohne Trennwände, dafür mit allerlei sonderbaren Gerätschaften und Tanks bestückt. Der Kopf dahinter, Fritz Wülfing, ein schlaksiger, ungewöhnlich sanftmütiger Mann mit Brille, im Hauptberuf Ingenieur bei der Telekom, wuselt gerade im vorderen Teil der Halle herum. Wülfing ist erst seit wenigen Monaten wirklich selbstständig. Bevor er die Biersmarck GmbH gründete, war er Heimbrauer, dann über Jahre hinweg Kuckucksbrauer, wie er es nennt, einer, der seine Biere auf Mietbasis in anderen Betrieben erzeugt.
Wülfing hat nie eine Ausbildung zum Brauer gemacht, und doch gilt er als einer der Pioniere und Impulsgeber des Craft-Biers in Deutschland. Seine Leidenschaft für den Gerstensaft hat der Verfahrenstechniker in den achtziger Jahren bei einem Praktikum in der (inzwischen geschlossenen) Schultheiß-Brauerei in Weißenthurm entdeckt, wo er gleich von den vielen Wohlgerüchen rund ums Bier gebannt war. Anschließend unternahm er ausgiebige Bier-Exkursionen durch Deutschland und das europäische Ausland. Seine Amerika-Reise zum Ende der neunziger Jahre schließlich wurde zum Erweckungserlebnis. Gezielt steuerte er die damals schon bekannten Craft-Erzeuger an und war überrascht davon, wie “nett und offen” die meist aus der Heimbrauerbewegung erwachsenen Bierenthusiasten auf ihn zukamen: „Ein Deutscher interessiert sich für unser Bier?“, das erstaunte sie – und sie teilten bereitwillig ihre Erfahrungen und Rezepte, die nicht selten von alten deutschen oder belgischen Traditionen inspiriert waren. „So etwas würde der typische deutsche Brauer niemals verraten“, sagt Fritz Wülfing.
Doch hat sich inzwischen auch die Szene in Amerika verändert. Gab es dort in den achtziger Jahren nur noch wenige Dutzend Brauereien, das Land hing am dünnflüssigen Lagerbier-Tropf von Konzernen wie Anheuser-Busch, sind es heute wegen der Craft-Bewegung rund 4000 Braustätten – in Deutschland zum Vergleich nur noch 1300. Pioniere wie die Sierra Nevada Brewing Company, die das Pale Ale und das India Pale Ale (IPA), ein stark gehopftes und damit besonders haltbares, ursprünglich für die englischen Kolonien vorgesehenes Starkbier wieder in Mode brachten, sind heute Milliardenunternehmen mit einer Produktion von mehr als einer Million Hektolitern.
Deren gewandeltes Selbstvertrauen bemerkte auch Wülfing, als er vor einigen Monaten abermals auf Craft-Bier-Tour in Amerika ging. Die früheren Micro-Brewer waren zwar immer noch nett und offen, aber keiner wunderte sich mehr über den neugierigen Rheinländer. Die Haltung sei eher die gewesen: Natürlich interessiert sich ein Deutscher für unser Bier.
Was das Craft-Brauen nach amerikanischem Vorbild auszeichnet, sieht man gleich im Eingangsbereich von Wülfings Brauerei: Dort steht ganz unspektakulär eine ausrangierte Milchwanne mit nachträglich eingezogenem Lochblech, die als kombinierter Maisch- und Läuterbottich dient. Hier wird das Malz mit heißem Wasser verbunden, die Stärke wird in Zucker umgewandelt, die dabei entstehende “Würze” anschließend von den Spelzen getrennt. Als Rührgerät dient Fritz Wülfing dabei ein Kunststoffpaddel, das bei amerikanischen Craft-Brauern zu einer Art Symbol für den direkten, unkonventionellen neuen Braustil geworden ist. Unmittelbar neben dem Maischbottich steht Wülfings liebstes Spielzeug, der Sudkessel aus Edelstahl, auch Würzpfanne genannt, in den er drei große Tauchsieder eingelassen hat. Hier bringt er die Würze zum Kochen und gibt den Hopfen hinzu, eine Kunst für sich – Wülfing bevorzugt bei seinen Bieren eine Mischung von drei, vier, sogar fünf unterschiedlichen Sorten, die auf dem internationalen Markt immer mal wieder knapp werden.
Nicht so gut zu sprechen ist Wülfing auf das Gerät, das während des Kochens in seinem Rücken lauert. Die eher behelfsmäßige Flaschenabfüllanlage, die vor allem stupide Handarbeit erfordert, ist das Nadelöhr, das sein Enthusiasmus auf dem Weg zum Kunden durchlaufen muss. Ale Mania ist mit seinen mehr als 300 Hektolitern Jahresproduktion – das entspricht 3000 Kästen Bier – einfach noch nicht groß genug, um sich etwas Komfortableres leisten zu können, und vielleicht ist die nicht-industrielle Flaschenabfüllanlage auch so etwas wie die Kehrseite von Wülfings vorindustriellen Idealen. Wenn er nicht freiwillige Helfer hätte, sagt Wülfing, würde er die Abfüllung Zehntausender Flaschen alleine kaum packen. Das verdrießt ihn aber nicht. Er blickt auf seine Anlage – und lacht.
Beim Bierkonsum scheint es ein ungeschriebenes Gesetz zu geben: Wenn das Bier in einem der traditionellen Trinkländer zu dünn und zu geschmacksneutral wird, entsteht eine Gegenbewegung. So war es schon bei der Kampagne für das fassgereifte, drucklos gezapfte Real Ale (CAMRA) im England der siebziger Jahre, einer der mitgliederstärksten Bürgerbewegungen des Landes überhaupt, und so verhielt es sich auch in den Vereinigten Staaten seit Beginn der achtziger Jahre. Inzwischen hat sich die Craft-Bier-Bewegung über die ganze Welt ausgebreitet, sogar China hat das Bierbrauen für sich entdeckt, ein Land ganz ohne eigene Tradition.
Nur Deutschland tut sich nach wie vor schwer mit seinen zwanzig bis dreißig bekannten Craft-Brauern. Woran liegt das? Ist das deutsche Industriebier zu gut (die spärliche Ausbeute bei den internationalen Bierauszeichnungen der letzten Jahre spricht eher dagegen), ist die Konkurrenz der regionalen Brauereien zu groß – oder ist das Reinheitsgebot ein Hemmschuh für notwendige Innovation? Wahrscheinlich stimmt alles zusammen. Feststeht, dass im Geist des Reinheitsgebots craft-bier-typische Experimente mit natürlichen Zusätzen wie Gewürzen oder Früchten von den etablierten Interessenverbänden energisch bekämpft werden. Wobei es im Endeffekt darum geht, dass die Craftler ihre Produkte je nach Abweichung vom „Vorläufigen Biergesetz“, wie es seit 1993 in Deutschland heißt, nicht Bier nennen dürfen sollen. Was letztere gehörig ärgert, weil sie sich meist als Bier-Traditionalisten sehen und einen eigenen, nicht minder strengen Reinheitsanspruch erheben.
All diese Unvereinbarkeiten bedeuten aber nicht, dass die Craft-Bier-Bewegung in Deutschland keinen bleibenden Eindruck hinterlassen hätte. Sie wurde bislang nur anders kanalisiert. Während der Markt für herkömmliches Bier schwächelt, haben Konzerne wie die Radeberger-Gruppe (mit Braufactum) oder Bitburger (mit Craftwerk) eigene kleine Craft-Schmieden gegründet, in denen auch mit internationalen Bierstilen experimentiert wird. „Das sind gute, nette Leute“, sagt Wülfing. Und auch Traditionsbetriebe, die seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten nach den immer gleichen Rezepten brauen, haben den Markt für Spezialbiere und den Aromahopfen für sich entdeckt. Selbst auf die Deklaration von Bier hat die Craft-Bewegung mit ihrem Transparenzideal abgefärbt. So finden sich auf immer mehr Etiketten Hinweise auf die verwendeten Hopfensorten oder Bittereinheiten.
Was Craft-Brauer wie Fritz Wülfing den industriellen Biererzeugern allerdings übel nehmen, ist, dass sie Haltbarkeitstechniken wie das Pasteurisieren, Klärtechniken wie die Verwendung des Kunststoffs PVPP, der anschließend aus dem Bier herausgefiltert wird, oder den Einsatz von konzentriertem Röstbier, das zur Herbeiführung einer bestimmten Bierfarbe eingesetzt wird, nicht deklarieren – mit der Begründung, all das verstoße nicht gegen das Reinheitsgebot. Wobei Wülfing nicht behauptet, dass diese Techniken verwerflich oder gesundheitsschädlich seien, allerdings findet er, dass die Verbraucher darüber aufgeklärt werden sollten, weil es sich nicht um natürliche Prozesse handelt, die mit dem Reinheitsgebot gewöhnlich assoziiert werden. „Der Brauer ist das Wichtigste“, lautet Wülfings knappe Maxime, und er nimmt es einem jeden persönlich übel, wenn er die verbindende Kraft des Bieres verrät oder „ohne Passion“ arbeitet.
Wir bewegen uns in die hintere Hälfte der Halle. Dort hat Wülfing in der linken Ecke eine Art Büro mit großer Stereoanlage eingerichtet, in der rechten stehen ein Gärtank und verschiedene Lagertanks aus Edelstahl.
An einem kleinen Tisch schenkt Fritz Wülfing sein Golden Ale aus, das er scherzhaft „sein Kölsch“ nennt, das aber vor allem englisch schmeckt, wenig Kohlensäure hat, geheimnisvolle, fruchtige Hopfennoten, und das man trotzdem, wie Wülfing treffend sagt, „einfach mal so wegschlabbern“ kann. Wülfing ist ein großer Verehrer des von deutschen Brauern gern geschmähten englischen Biers. Er schätzt es, weil es seit 200 Jahren fast unverändert auf hohem Geschmacksniveau besteht und industriell nicht deformiert wurde. Auch die Vorstellung, dass beim Real Ale der Gastwirt durch die Art der Lagerung den Geschmack beeinflusst, gefällt ihm.
Als nächstes zapfen wir einen Edelstahllagertank mit Wülfings hopfengestopftem India Pale Ale an. Sofort steigt ein extrem tropenfruchtiger, maracujahafter Geruch in die Nase, der von der Hopfensorte Simcoe stammt. Auch diese Komposition massiert mit seinen Hopfenaromen einige lange aus der Übung geratenen Geschmacksknospen. Ungemein belebend ist das Ganze, auch wenn noch die Kohlensäure fehlt, die erst bei der Flaschengärung entstehen wird. Wülfing, der auch ausgebildeter Bier-Sommelier ist, kommentiert lakonisch: „Ein typisches IPA“.
In den nächsten Monaten will sich Wülfing auf vier Sorten spezialisieren: Seine süffige Gose mit Milchsäure, Koriander und Meersalz, sein IPA, das Smoked Porter mit Rauchmalznote sowie das Imperial Red Ale, eine mächtig gehopfte Phantasiekombination, die den hochprozentig-malzigen Imperial-Stil mit dem irischen Red Ale verbindet. Die Drittelliterflaschen kosten bei ihm zwei Euro aufwärts. Seine Kunden seien „typisch urban“, nicht viel älter als dreißig, mit hoher Bildung und Leidenschaft in Sachen Bier, sagt Wülfing.
Was fasziniert ihn immer noch am Bier? Wülfings knappe Antwort: „Die Tatsache, dass es von Anfang an unsere Kultur bestimmt hat.“ Dann setzt er fort: Es sei erstaunlich, selbst seine Frau, mit der er ein sehr lesenswertes Buch über das Selbstbrauen geschrieben hat, die eigentlich aber Weintrinkerin ist, habe „irgendetwas in ihren Genen, das ihr sagt, dass Bier gut ist.“
Das würde auch erklären, warum die Welt so klein wird, wenn man über Bier spricht.
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Fritz Wülfing über das Reinheitsgebot:
“Das Reinheitsgebot ist eine Marketingidee, die zum ersten Mal 1918 auftaucht. Der Erlass von 1516 spricht weder von Malz noch von Weizen und ist daher nicht relevant. Die möglichen Zutaten für Bier sind im vorläufigen Biersteuergesetz von 1993 aufgeführt. Da ist auch von technisch reinem Zucker die Rede, vielleicht ist das ja mit Reinheitsgebot gemeint…?
Es ist okay, wenn man nur mit den vier Zutaten Bier braut. Die meisten Biere werden so hergestellt. Mit Reinheit hat das nichts zu tun. Entscheidend ist die völlige Transparenz aller Zutaten und Prozessschritte bis zum fertigen Produkt. Das deutsche Reinheitsgebot ist für mich völlig bedeutungslos.”