Bevor morgen 500 Jahre Reinheitsgebot gefeiert werden – am Freitagvormittag hatte ja schon die Kanzlerin in Ingolstadt auf der Festveranstaltung des Brauerbundes das deutsche Bier gelobt -, wollen wir im Bierblog noch einmal eine kritische Stimme zu Wort kommen lassen.
Matthias Neidhart, in Baden-Württemberg geboren, gilt als bedeutendster Importeur für deutsche Biere in den Vereinigten Staaten. Sein Portfolio liest sich wie das Who is Who des europäischen Biers, seine Partner in Deutschland wie Uerige, Schlenkerla oder Schneider Weisse schwärmen von der Zusammenarbeit mit dem akribischen Arbeiter und exzellenten Kenner der internationalen Bierszene.
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F.A.Z. Wann haben Sie Ihr Importunternehmen für Spezialbiere, B. United International gegründet – wie kam es dazu?
Matthias Neidhart: Ich habe es 1994/95 gegründet, vor gut zwanzig Jahren. Ich hatte schon eine gewisse Zeit in den Vereinigten Staaten gelebt, damals wurden die Microbreweries gerade immer stärker. Wenn man abends mit Freunden ausging, hat man schnell mitbekommen, dass Biere ganz anders sein können. Das hat angefangen, mich zu interessieren. Ich hatte eigentlich keine Ahnung von Bier, außer dem bisschen, was man in Deutschland über Bier weiß. Dann haben die Amerikaner angefangen, aggressiv Werbung zu machen, etwa mit der Behauptung, dass die besten Biere der Welt jetzt in den Vereinigten Staaten gebraut werden, alles andere sei rechter Mist. Ein bisschen stimmt das auch, aber auf der anderen Seite hat es mich geärgert, weil die ganzen Klassiker jedes Bierstils aus Europa kommen. Nicht, weil Europa smarter ist als Amerika, aber Europa ist älter. Ich habe es dann für eine gute Idee gehalten, ein Unternehmen aufzubauen, dass sich auf Biere konzentriert, die im höchsten Bereich der Geschmacks- und Aromakomplexität angesiedelt sind. Ich habe mit den Klassikern zu jedem Bierstil angefangen. Dabei habe ich mich von dem bekannten, leider verstorbenen Bierautor Michael Jackson inspirieren lassen. In seinem „Pocket Guide“ hat er eine inoffizielle Wertung zwischen einem und vier Sternen eingeführt, wobei letztere für ihn die “World Classics” darstellten.
Wie denken die Vereinigten Staaten über deutsches Bier? Hat es noch den gleichen Stellenwert wie vor Jahren?
Das ist eine schwierige Frage. Die Beantwortung wird dadurch erschwert, dass, wie mir immer auffällt, wenn ich nach Deutschland komme, so viele Emotionen im Spiel sind. Das verblüfft mich immer wieder. Wir mit der Perspektive des amerikanischen Marktes, von dem wir natürlich stark beeinflusst sind, schauen sehr stark auf empirische Verifikation. Nach unserer Erfahrung sind viele deutsche Brauereien der Meinung, es sei für ihr Produkt schon ausreichend, wenn es nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut ist, man geht davon aus, dass das auch international beeindruckt. Für die Vereinigten Staaten ist das aber total irrelevant, das hat keinerlei Wettbewerbsdimension. Für die amerikanischen Kunden, die sich für besondere Biere interessieren , ist lediglich relevant, wie das Geschmacksprofil des Bieres ist. Dass ein Bier aus Deutschland kommt, ist sicher nicht negativ, aber der amerikanische Markt ist ungemein dynamisch im Moment, Italien spielt zum Beispiel eine immer größere Rolle, Südkorea.
Was interessiert Amerikaner an deutschem Bier?
Es ist im Moment in Amerika nicht ganz leicht, in dem Segment, in dem wir uns befinden, mit deutschem Bier in die Konkurrenz zu gehen. Deutsches Bier gilt als eindimensional in seiner Aroma- und Geschmackskomplexität.
Das sind viele ja auch ganz bewusst.
Es wird schon auch experimentiert in Deutschland, wenn man die Aroma- und Geschmackskomplexität aber als Maßstab nimmt, sind viele deutsche Betriebe aus Sicht der Amerikaner fast schon benachteiligt. Man kennt die klassischen Stile: Pilsner, Bockbier und Weizenbier, innerhalb dieser Kategorien gibt es die Klassiker, die hoch angesehen sind. Als Rauchbier haben wir zum Beispiel „Aecht Schlenkerla“ in unserem Portfolio, das ist wahnsinnig angesehen, Uerige ist ein Klassiker, Aventinus von Schneider. Die haben einen enormen Ruf, nicht, weil sie nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut sind, sondern weil sie angesehen werden als die Klassiker in ihrem Stil.
Würden Sie sagen, dass die amerikanischen Kunden das Reinheitsgebot inzwischen mit geschmacklicher Eindimensionalität verbinden?
Ja. Aber das hat auch eine andere Ursache. Die großen deutschen Bierkonzerne, ich meine jetzt die der Industriebiere, haben durch ihr ganzes Marketing in Amerika, die Niedrigpreise etwa, den Eindruck erweckt, dass deutsches Bier relativ seppelig ist. Auf der anderen Seite weiß der Amerikaner inzwischen, dass deutsche Biere durch das Reinheitsgebot limitierter sind. Damit ist die Wertschätzung auch geringer.
Haben die Amerikaner recht?
Ein Braumeister hat mal zu mir gesagt: Wir müssen das Reinheitsgebot gar nicht aufheben. Wir haben so viele Hopfensorten und können mit Hefe und Malz so viel variieren, da brauchen wir die anderen Sachen nicht. Meine Antwort war, das ist die Analogie, die ich in solchen Fällen immer ziehe: Wenn Sie zu einem Sternekoch sagen, er darf nur vier Zutaten benutzen, dann wird er wahrscheinlich weniger interessante Sachen zusammenstellen können als einer, der alles benutzen darf, was erlaubt ist in der Welt. Nicht notwendig, sage ich, aber das Potential ist einfach größer. Ein Chefkoch wird heute doch auch nur durch Zutaten limitiert, die gesundheitsgefährdend sind. Das Ziel für einen Chef ist, ein ganz tolles Gericht zusammenzustellen. Ich frage mich, warum es im Bierbereich anders sein sollte. Bei italienischen oder chinesischen Restaurant heißt es ja auch nicht: Die dürfen nicht in Deutschland kochen, weil das mit der deutschen Essenskultur nicht vereinbar ist.
Ich schaue mir auch gerne die Reaktionen im Netz an, in den sozialen Medien, auf den Bierrating-Websites, die Ergebnisse beim World Beer Cup, der alle zwei Jahre stattfindet, die European Star Awards. Die Biere gewinnen dort, weil sie eine hohe Geschmacks- und Aromakomplexität haben, nicht, weil sie dem deutschen Reinheitsgebot entsprechen. Auch in den sozialen Medien spielt das Reinheitsgebot keine Rolle.
Wenn sie sich das deutsche Reinheitsgebot historische anschauen, war es ein Konsumentenschutzgesetz im Jahr 1516, das nötig war, weil die Brauereien aufgrund ihres geringen Wissens alles Mögliche ins Bier reingetan haben, um es schmackhaft zu machen. Es war niemals ein Gesetz, das sicherstellen sollte, dass die besten Biere herauskommen, es ging niemals um Geschmackskomplexität. Heute habe ich bei den emotional geführten Diskussionen, die ich erlebe, das Gefühl, dass Deutsche denken, beim Reinheitsgebot ginge es um den besten Geschmack.
Überschätzen die Deutschen ihr Bier?
Wenn Deutsche Brauer sagen, sie brauchten nicht mehr als das Reinheitsgebot, die deutschen Biere seien auch so gut genug, dann habe ich damit ein Problem. Eine größere Zutatenpalette bedeutet nicht notwendigerweise, dass die Biere besser werden, die können sogar sehr viel schlechter sein. Aber ich darf einem Unternehmer nicht die Möglichkeit nehmen, sie einzusetzen. Sie werden immer Verbände, Unternehmer und Endverbraucher finden, die sagen, mehr als das Reinheitsgebot brauchen wir nicht. Aber dürfen sie das Recht haben, andere zu limitieren – innerhalb eines wissenschaftlich unbedenklichen Bereichs? Die Wissenschaft hat sich in den letzten Jahrhunderten derart weiterentwickelt, dass man fragen kann: Benötigen wir noch das alte Schutzgesetz? Für mich geht es dabei auch um ein Freiheitsrecht.
Mein zweites Problem, dass ich habe: Wenn das deutsche Reinheitsgebot tatsächlich so viel besser ist, warum muss man es dann erlassen? Wenn es so viel besser ist, überzeugt es jeden Endverbraucher. Dann brauche ich kein Gesetz. Gibt es aber Gesetze, um den Status quo aufrecht zu erhalten, dann signalisiert das für mich: Da hat jemand Angst, vor anderen Wettbewerbern im globalen Vergleich. Ich vergleiche das mit technologischen Veränderungen in anderen Industrien.
Zwei Gründe werden in Deutschland darüber hinaus für das Reinheitsgebot angeführt. Der eine ist: Traditionspflege, der andere besagt, dass der Verbraucher nicht getäuscht werden darf. Wenn er deutsches Bier kauft, gibt es gewisse Erwartungen, die erfüllt werden müssen. Die Frage ist, ob der Verbraucher nicht mündig genug ist, um unterscheiden und Deklarationen verstehen zu können. Sonst schmort er ja im immer gleichen Saft.
Ich bin ein Freiheitsfanatiker. Darf ich einem deutschen Brauer die Möglichkeit nehmen, kreativ zu sein? Ich finde: nein. Wenn das, was herauskommt, katastrophal schmeckt, dann wird er schlicht nichts verkaufen.
Muss man nicht sagen, dass sich der Biergeschmack in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat? Man könnte ja auch den Standpunkt vertreten: Ich will ein Bier, das geradeaus ist. Das könnte man, sagen wir im Sinne einer Zen-Philosophie, sogar als Errungenschaft darstellen.
Ich stimme Ihnen zu. Die Definition von Bier in Deutschland ist ganz anders als die in Amerika, in unserem Segment. Die Definition in den Vereinigten Staaten greift über in die Welt der Weine, ganz massiv. Zu unseren Kunden gehören die besten Restaurants in New York, Chicago und Los Angeles. Die haben inzwischen eine eigene Bierliste mit außergewöhnlichen Produkten, die zu vielen Gerichten besser passen als Weine. In Deutschland ist Bier vor allem etwas, das den Durst löscht und relativ billig ist. Wenn man etwas wirklich Geschmackvolles und Gehaltvolles trinken will, geht man über zum Wein. Das hat sich in den Vereinigten Staaten in den letzten 10 bis 15 Jahren ganz anders entwickelt.
Wie bewerten Sie das Abschneiden deutscher Biere bei den Word Beer Cups der letzten Jahre?
Wenn Sie sich die Wettbewerbe der letzten Jahre anschauen, fällt auf, wie viele neue Kategorien es gibt. Manchmal muss ich darüber schmunzeln. Bei den klassischen deutschen Bierstilen sind die Deutschen weiter vorne. Wenn Sie sich aber die ganzen anderen Bereiche anschauen, ob das Barrel Ales sind, Lambics, Souer Ales, ob das Porter und Stout sind, dominieren die anderen. Das reflektiert auch die Marktdynamik. Der Biermarkt schließt in den Vereinigten Staaten zunehmend Frauen ein. Und die sind an den klassischen, historischen Stilen nicht so sehr interessiert. Die begeistern sich für die neuen Stile, die massiv an Wein erinnern. Das öffnet ein ganz neues Segment. Diese Leute sind interessiert an komplexen Geschmacksnoten, und mit denen darüber zu sprechen, ist außergewöhnlich interessant. Das ist eine ganz andere Welt von Bier. In den neuen Spezialbieren wird Holz eingesetzt, Granit, Ton, um neue Aromen und Geschmacksstoffe zu erhalten. In diesem Bereich gibt es keine deutsche Brauerei.
Was ist vom chinesischen Markt zu erwarten, dort gibt es ja gar keine Bier-Tradition?
Die fehlende Bier-Tradition spielt überhaupt keine Rolle. Sie sehen es an Italien. In Italien findet gerade eine Bier-Revolution statt, und Italien hat auch keinerlei Bier-Tradition. Man kann es positiv sehen: Italien hat kein Reinheitsgebot, denen steht alles offen. Die können sagen: Wir definieren Bier, wie wir wollen. Das gleiche passiert in China, Japan oder in Südkorea. Die dortigen Bierenthusiasten schauen sich alles an, sie kosten sehr viel, kommen nach Europa und Amerika, gehen nach Hause und fangen zunächst damit an, amerikanische Biere zu imitieren, sehr hopfige, hochprozentige Biere. Die eigene Handschrift wird in einem zweiten Schritt kommen, mit Zutaten, die nur in den jeweiligen Ländern wachsen.
Gibt es eigentlich schon gelungene Kombinationen von Tee und Bier? Man kommt auf die Idee, weil einige Hopfenpellets fast ein Matchatee-Grün aufweisen und es auch Hopfensorten gibt, die nach Tee riechen. Andererseits habe ich neulich ein Jasmin-IPA probiert, in dem man den Jasmin kaum schmeckte.
Wir arbeiten mit einer kleinen japanischen Brauerei zusammen, schon seit 15 Jahren. Dort arbeitet man schon relativ lange an einem Rezept, Teeblätter einzusetzen. Es ist aber enorm schwer, einen bestimmten Charakter herauszuarbeiten. Aber das ist genau die richtige Herausforderung. Wenn es leicht wäre, könnte es jeder machen.
Schneiden sich deutsche Brauer ins eigene Fleisch mit dem Reinheitsgebot?
Was sie sich wegnehmen, ist die opportunity, sie nehmen sich die Möglichkeit, etwas zu entwickeln, was phänomenal sein kann. Ich glaube nicht, dass deutsche Braumeister notwendigerweise talentierter sind als die anderer Nationen. Ich glaube nicht, dass es dafür einen empirischen Beweis gibt. Jedes Land hat tolle Talente. Schränkt man sie in Deutschland ein, werden sie in ein anderes Land gehen. Das fände ich schade.
Ist es nicht klug von deutschen Brauern, auf der Tradition aufzubauen?
Das ist auch unser Ansatz, wir haben die Klassiker. Die Tradition des deutschen Reinheitsgebots bringt aber nicht zwingend höchste Aromen- und Geschmacksvielfalt hervor. Die verdankt sich vielmehr einer Kombination aus Talent, den richtigen Zutaten, der Fähigkeit, den Brauprozess intelligent zu variieren – und der Bereitschaft, Neues zu lernen. Wären wir bereit, deutsche Biere aufzunehmen, die außerhalb des Reinheitsgebots stehen? Absolut. Es kommt nur auf die Aromen und den Geschmack an.
Die Fragen stellte Uwe Ebbinghaus