Reinheitsgebot

Reinheitsgebot

Das Blog zum Bier

Craft ist ein besonderer Saft

An diesem Samstag feiern deutsche Biertrinker fünfhundert Jahre Reinheitsgebot. Aber die Stimmung ist getrübt, weil die Zukunft vor der Tür steht.

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Der fünfhundertste Geburtstag des deutschen Reinheitsgebots kommt ungelegen für das deutsche Bier. Nach außen hin läuft zwar alles fast reibungslos. Es kam eine Sonderbriefmarke heraus, wenn auch nur für Postkarten, die Kanzlerin lobte das deutsche Bier auf der großen Festveranstaltung der Brauerbünde in Ingolstadt als „Erfolgsgeschichte“, bevor sie zu Erdogan abflog, und heute, dem Tag des deutschen Biers, wird im ganzen Land gefeiert. Auf Schloss Kaltenberg veranstaltet Prinz Luitpold einen kolossalen Trachtenumzug, am Bierbrunnen in München wird Freibier ausgeschenkt, überall gibt es Fassanstiche, Schaubrauen und Zechen mit Musik. Was wäre auch naheliegender, als mit Bier das Bier selbst und damit das Getränk der Deutschen schlechthin zu feiern? Einen performativeren Akt als ein Prost aufs deutsche Bier kann man sich kaum vorstellen.

Der amerikanische Filmemacher Matt Sweetwood hat es in seiner sehr komischen Dokumentation „Beerland“ treffend gesagt: Die Deutschen hätten es irgendwie geschafft, zu suggerieren, Bier sei eine Art Wellness-Getränk, das „von heiligen Mönchen gebraut“ wird und das man sich verdientermaßen nach Feierabend genehmigt.

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Doch unter der Oberfläche gärt es. Denn zum ersten Mal seit einem halben Jahrtausend regt sich anhaltender und wahrscheinlich aussichtsreicher Widerstand gegen den knappen Erlass der bayerischen Herzöge, die am 23. April 1516 bestimmt hatten, dass in Bier „allain Gersten / hopffen / und wasser“ gehört – eine Bestimmung, welche deutschlandweit mehrfach gegen nördlich-preußischen Widerstand durchgesetzt wurde und zwei Weltkriege überlebt hat, so dass sie noch heute die aktuelle Biergesetzgebung dominiert.

Und dann auch noch Glyphosat im Bier

Das wiederum interessiert die deutschen Craft-Bierbrauer, einen bunten Haufen von experimentierfreudigen, meist handwerklich arbeitenden Kleinerzeugern, herzlich wenig. Seit Monaten mosern sie darüber, dass sie ihr Bier nicht ohne weiteres „Bier“ nennen dürfen, wenn sie ein paar Orangenschalen und Koriander hinzugeben oder den Geschmack mit Zucker abzurunden gedenken, so wie es den berühmten belgischen Bieren und inzwischen auch den Brauern in der ganzen Welt erlaubt ist, die damit ein neues, junges Bierpublikum erreicht haben. In Amerika wächst die Craft-Bier-Bewegung seit Jahren und macht inzwischen vierzehn Prozent des gesamten Biermarkts aus. Die deutschen Craft-Brauer aber müssen erst einmal damit drohen, die Sache vor Gericht ausfechten zu wollen, und laden am heutigen Tag zu Gegenveranstaltungen.

Damit nicht genug des Gegenwinds, meldete doch vor ein paar Wochen das Münchner Umweltinstitut, dass in den vierzehn meistverkauften deutschen Bieren Glyphosat gefunden worden sei, ein Unkrautbekämpfungsmittel, von dem noch nicht abschließend geklärt ist, ob es krebserregend ist. Zwar relativierte ein Chor aus Bundeslandwirtschaftsminister, dem Brauerbund und dem Bundesinstitut für Risikobewertung die Dramatisierung des Umweltinstituts umgehend und rechnete vor, dass man zum Erreichen einer nach deutschen Grenzwerten gesundheitsgefährdenden Menge tausend Liter Bier am Tag trinken müsse. Doch weiteres Misstrauen gegen das Bier war in die Welt gesetzt. Die spürbare Häme des Instituts gegen das vermeintlich reine deutsche Bier verstimmte Liebhaber des Getränks dabei auch deshalb so nachhaltig, weil das Herbizid natürlich auch in fast allen anderen landwirtschaftlichen Produkten nachzuweisen ist.

###Moderne Brauanlage / Foto uweb

Die deutschen Brauer sind an dieser Häme aber nicht ganz unschuldig. Sie haben über Jahrzehnte hinweg den Eindruck erweckt, monstranzartig die Reinheit eines Produkts vor sich her zu tragen, das eine konsequente Industrialisierung und Preisoptimierung durchlaufen hat. Vor allem die Großbrauereien verwenden bei der Bierherstellung inzwischen ganz selbstverständlich Klärungsmittel mit so furchteinflößenden Namen wie Polyvinylpolypyrrolidon (PVPP), welches Trübstoffe aus dem Bier aufnimmt, bevor es anschließend wieder herausgefiltert wird. Dank ingenieurtechnischer und auch juristischer Tüftelei gehorcht das zwar alles dem Reinheitsgebot, aber für die Gedankenwelt des Biertrinkers ist es nicht gerade berauschend. Immerhin gehen die deutschen Brauer inzwischen offen mit diesen Praktiken um: Auf der Verbands-Homepage werden sämtliche dieser Verfahren aufgeführt, und auch in der „Bier“-Ausstellung des Technoseums in Mannheim, die in enger Zusammenarbeit mit dem baden-württembergischen Brauerbund erstellt wurde, waltet vorbildliche Bier-Transparenz.

Welche Getränke dürfen künftig Bier heißen?

Die ganz spitzfindigen Gegner führen jetzt noch an, dass im Reinheitsgebot von 1516 ja nicht einmal von (Gersten-)Malz und Hefe die Rede sei, es also streng genommen noch nie gegolten habe; und das Weizenbier habe ohnehin schon immer eigenen Regeln gehorcht. Spätestens an dieser Stelle wäre das Reinheitsgebot komplett ad absurdum geführt, wenn es denn noch gelten würde.

Vergessen wird in der Diskussion aber meist, dass das Reinheitsgebot – ein Begriff, der übrigens erst seit 1918 auf den Gerstensaft angewendet wird – in der aktuellen Biergesetzgebung längst nur noch als symbolischer, wenn auch sehr mächtiger Platzhalter dient. Seit der Europäische Gerichtshof 1987 erzwang, dass ausländische Brauerzeugnisse, die in ihrem Herkunftsland als Bier bezeichnet werden, auch in Deutschland als solche verkauft werden dürfen, ist es in der absoluten Auslegung offiziell überholt in Deutschland. Eine weitere Breitseite kam von der Europäischen Union, die in den neunziger Jahren dafür sorgte, dass die Zusatzstoff-Zulassungsverordnung auch in Deutschland gilt.

xxAngela Merkel auf der Festveranstaltung des Deutschen Brauerbunds in Ingolstadt / Foto dpa

Die Lage sieht momentan in Deutschland vereinfacht ausgedrückt so aus: Die konventionellen Brauer erzeugen ihre Biere nach dem Reinheitsgebot und diskriminieren sich damit völlig freiwillig selbst, während sich Craft- und andere Kreativbrauer vom Reinheitsgebot diskriminiert fühlen, weil sie bei der Verwendung bestimmter Zutaten beantragen müssen, dass ihr Bier überhaupt als „besonderes Bier“, so die Fachbezeichnung, zugelassen wird. Wobei in jedem Bundesland andere Kriterien für diese Zulassung gelten. Man hat fast den Eindruck, als sei der Tag des deutschen Bieres in Wahrheit einer der diskriminierten Brauer. Am meisten unterdrückt dürfen sich übrigens die bayerischen Craftler fühlen, denn in ihrem Bundesland ist die Kategorie „besonderes Bier“ bis heute nicht vorgesehen.

Das soll sich jedoch ändern. Bereits im vergangenen Jahr hat der Vorstand des Bayerischen Brauerbunds beschlossen, dass ein Kompromiss zu finden und darauf einzuwirken sei, das deutsche Bierrecht zu vereinheitlichen. Ein Zugeständnis, das in der öffentlichen Diskussion allerdings noch nicht recht angekommen ist, weil der Verband die Angelegenheit im Jubiläumsjahr diskret behandelt sehen wollte. Die spannenden und für die Zukunft des deutschen Biers entscheidenden Fragen werden also wohl erst in einigen Monaten beantwortet werden: Welche Getränke dürfen künftig Bier heißen? Welche natürlichen Zusatzstoffe werden zugelassen? Wird die Kennzeichnungspflicht auch bei konventionellen Bieren verschärft?

Rock’n’Roll auf der Zunge

Was aber gibt es an diesem 23.April wirklich an Unbedenklichem zu feiern? Die deutschen Brauer, die es wissen sollten, antworten auf diese Frage oft mit einer Variation des Reinheitsgebots-Lobpreises: Zu feiern sei die Kunst, mit nur vier Zutaten ein so anerkanntes und täglich millionenfach überprüftes Produkt wie das Bier zu produzieren: stabile Schaumkrone, lange Haltbarkeit, gleichbleibender Geschmack. Der deutsche Produzent könne sich, so die verbreitete Lehre, darauf verlassen, die Biersorte, die er liebt, nach jedem Kauf beim Antrunk wiederzuerkennen, egal, wie stark der Sommer der Gerste zugesetzt hat und wie viel Hopfen dem Hagel zum Opfer gefallen ist.

xxxEin Pils, serviert in Pilzen / Foto dpa

Und man muss ihnen recht geben: Die Aufrechterhaltung des immer gleichen Geschmackserlebnisses ist in der Tat eine beachtliche Leistung. Doch das deutsche Bier hat noch eine andere, viel lebhaftere und spannendere Geschichte zu erzählen. Eine von Zufällen und Zwängen, welche der Innovation und der Kunst oft viel eher zugrunde liegen als absichtsvolle Theorien. Man denke nur an die Erfindung des Pils durch den bayerischen Braumeister Josef Groll, dem es im böhmischen Pilsen 1842 wegen des weichen Wassers in Verbindung mit neuer Mälztechnik völlig überraschend gelang, ein klares, blondes Produkt zu präsentieren, während ringsum das Bier noch dunkel war. In den gleichzeitig massenhaft aufkommenden Wirtshausgläsern muss das Pils einen Effekt ergeben haben wie das iPhone von Steve Jobs, sein Erfolg hält bis heute an.

Nicht zu vergessen sind auch die Schöngeister und Querköpfe an den Sudkesseln der großen Brauerfamilien, die dem Bier entscheidende Impulse gaben. So etwa die Figur des Michael Graser in der Bamberger Brauerei Schlenkerla, ein gebildeter Mann, der historische Stiche in Venedig kaufte und, während fast alle anderen in Bamberg auf neue Sorten umstellten, beim markanten Rauchmalz blieb. Heute ist Rauchmalz in der internationalen Bierszene wieder so angesagt wie vor zweihundert Jahren. Und auch bei Schneider Weisse in Kelheim gibt es seit Generationen eine stark kreative und risikobereite Ader. Als es dem Unternehmen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts schlechtging, brachte die damalige Firmenchefin Mathilde Schneider als Innovationsprodukt den wahrscheinlich ersten Weizenbock der Welt auf den Markt – unter Kennern gilt der Aventinus heute als „eines der besten Biere der Welt“, sie sprechen von „Rock’n’Roll auf der Zunge“.

Ist doch schön, könnten jetzt die Verfechter des Reinheitsgebots sagen, auch diese Beispiele zeigen doch, welche Flexibilität selbst unter dem vermeintlich strengen Reinheitsgebot möglich ist. Das wird aber, siehe oben, für eine flächendeckende Befriedigung der Kundenwünsche in Zukunft nicht mehr genügen. Die erwähnten Traditionsunternehmen etwa haben ihre Produktlinien zuletzt vor einem Jahrzehnt mit markanten Neuinterpretationen wie dem Eichenrauchbier bei Schlenkerla oder dem Hopfenweissbier bei Schneider weitererzählt – und was ist wirklich gegen die Bereicherung des Biers durch natürliche Zutaten einzuwenden? Sicher, bestimmte Hefen können auch einen Geschmack nach Erdbeeren erzeugen, aber viele bevorzugen eben echte Erdbeeren.

Ein echter Fortschritt

In einer Zeit, in der Länder ohne eigene Biertradition wie Italien die originellsten Kreationen auf den Markt bringen und damit bei dem renommierten World Beer Cup in neu eingeführten Kategorien triumphieren, sollte auch Deutschland in der experimentellen Weltelite mitspielen können. Die durch das Reinheitsgebot verdrängten traditionellen Kräuter-, Gewürz- und Sauerbiere wie die Leipziger Gose oder das Gruit-Bier, die zum Teil schon vor dem Biererlass von 1516 getrunken wurden, liefern viele neue Ansatzpunkte.

Die Deutschen hätten, so schrieb einmal der verstorbene britische Autor Michael Jackson, keine echte Bierkultur entwickeln können, weil Bier immer etwas Selbstverständliches für sie gewesen sei. Die Befreiung von dieser Unbefangenheit, die sich nach der Kritik der letzten Monate in die Festivitäten zum fünfhundertsten Jahrestag des deutschen Reinheitsgebots eingeschlichen hat, wäre in diesem Sinne ein echter Fortschritt.