Fritz Briem ist einer der versiertesten deutschen Brauwissenschaftler. Im Interview findet er klare Worte über Craft-Bluffer, die Bierpreis-Inflation und das löchrige Reinheitsgebot.
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F.A.Z.: Herr Briem, warum wollen Sie über Bier momentan eigentlich nicht mehr sprechen?
Fritz Briem: Mit der Diskussion über das Bier, die wir im Augenblick führen, möchte ich nichts zu tun haben und halte mich sehr stark raus. An den Verbraucher wird momentan kommuniziert, dass erst jetzt, mit der deutschen Craft-Szene, erstmals die wahren Biere auf den Markt kommen. Für mich als Brauer ist das, auf Bayerisch gesagt, a Watschn. Wir waren, nicht nur als Bayern, sondern auch als Deutschland insgesamt, die einzigen auf der Welt, die vernünftige Brauer ausgebildet haben. Bei uns ist das ein Lehrberuf, ein Studium, du kannst promovieren drauf. Das heißt, wir haben in der Regel ein sehr fundiertes Wissen darüber, was wir tun. Das gleiche erwarte ich von jedem, der sich auch Brauer schimpft und an der Diskussion teilnimmt. Aber momentan ist es so: Sobald jemand erfolgreich ist als sogenannter Craft-Brewer – oft ist das gleichbedeutend mit Gipsy-Brewer, man mietet sich in einer herkömmlichen Brauerei ein -, beteiligt er sich aktiv an der Qualitätsdiskussion. Das ist für mich der absolute Humbug. Das Brutale dabei ist, dass sich die traditionellen Brauer eigentlich über Jahrzehnte hinweg das Grab selbst geschaufelt haben, weil wir nicht darüber gesprochen haben, wie gut eigentlich unsere traditionell hergestellten Biere sind und welche Vielfalt es gibt. Oft wird gesagt, Craft bedeute Vielfalt, ich sage: Craft bedeutet null Vielfalt. 90 Prozent der Craft-Biere sind IPAs und Double-IPAs. Und der Ottonormalverbraucher kennt nicht mal den Unterschied, der sagt nur: Mensch, ist das bitter.
Mit wem immer ich in den letzten Monaten über Bier gesprochen habe, jeder sagt mantraartig, dass er die Craft-Bewegung begrüßt, weil sie „die Wertigkeit des Biers“ erhöhe.
Sehen Sie, und hier schließt sich der Kreis.
Würden Sie dem zustimmen?
Dem stimme ich definitiv zu. Die Frage ist nur, wie es so weit kommen konnte, wo wir doch die Chance gehabt hätten, vor fünfzig Jahren das Bier gescheit zu vermarkten und, mit den entsprechenden Informationen dahinter, einen höheren, angemesseneren Preis zu verlangen.
Das Bier hätte teurer werden müssen?
Ja – müssen! Stellen Sie sich mal in einer Brauerei hin und machen das vernünftig. Was da eine Arbeit dahinter steckt. Für einen Kasten Limonade zahle ich fast das gleiche wie für eine Kiste Bier, höchstens mal ein Drittel weniger. Was soll das? Das ist doch nicht mehr normal. Was mich stört, ist folgendes: Wir sind jetzt dankbar, dass das Bier wieder Wertigkeit bekommt und nennen den Trend dahinter „Craft-Trend“. Warum brauche ich dafür ein Wort aus dem Amerikanischen, das ich erstmal ins Deutsche übersetzen muss? Und da geht es schon los, die Übersetzung ist ein Riesen-Problem. “Craft” bedeutet im Grunde nach Definition der „Brewer Association“: erzeugt werden „weniger als x-Millionen Hektoliter“, Millionen wohlgemerkt, außerdem wird „private ownership“ vorausgesetzt, das heißt, der Begriff schließt nach amerikanischer Definition im Grunde die Beteiligung eines anderen Großunternehmens aus. Was hat denn das mit „Craft“ im eigentlichen Sinn zu tun? Für mich ist „Craft“ Handwerk. Für mich geht es um handwerklich hergestelltes Bier, mit der entsprechenden Wertschätzung.
Wann genau hat in Deutschland die Fehlentwicklung begonnen? Oder würden Sie sagen: Die Produkte, die bei uns momentan auf dem Markt sind, für dieses kleine Geld, sind immer noch richtig gut.
Diese Aussage ist richtig. Für das kleine Geld, das in Deutschland für Bier gezahlt wird, ist die Qualität inflationär. Dass jemand diese hohe Qualität für diesen Preis anbieten kann, ist unglaublich.
Der Kunde macht ein Super-Schnäppchen?
Ein brutal gutes. Unsere Kunden müssten eigentlich jeden Tag im Kreis springen und sagen: Wir leben hier im Paradies! Und das zieht sich durch, es geht nicht allein um den Marktführer in Sachen Preisgestaltung mit fünf Euro pro Kiste. Hinzu kommt, dass alles unter dem gleichen Qualitätssiegel steht, dem Reinheitsgebot. Jedes Bier in Deutschland ist Reinheitsgebots-Bier, und in Bayern ist die Definition „Bier“ sogar noch enger gefasst – und das bedeutet im Grunde „Top-premium-sonstirgendwas“-Qualität. Wenn Sie im Ausland jemanden fragen: Was sind die besten Biere, sagt jeder: die nach dem Reinheitsgebot gebrauten, obwohl teilweise gar nicht genau gewusst wird, was das bedeutet. Der Begriff aber ist ein Qualitätssiegel.
Wir hatten in diesem Blog einmal Matthias Neidhart interviewt, einen amerikanischen Händler für Spezialitäten-Biere, für den Sie ja auch brauen. Der leugnete diese Einschätzung. Er sagte, bei seinen Kunden sei es so, dass das Reinheitsgebot für Eintönigkeit stehe.
Ja, Matthias Neidhart ist radikal in seiner Einstellung. Ich bin mir auch sicher, dass seine Aussage für sein Kundenklientel stimmt, weil er im Grunde Nischen füllt. Für mich ist das Urteil aber nicht ganz in Ordnung, weil ich innerhalb des Reinheitsgebots durchaus Biervielfalt erzeugen kann. Nur: Es ist extrem schwer, und hier kommt wieder mein Punkt: Ein Craft-Brewer, der sich im Ausland und nicht in Deutschland befindet, der kann sich sehr einfach diversifizieren, ohne großes Wissen. Nehmen wir mal das Hopfenstopfen im Lagertank. Das ist „Brewing for Dummies“. Da schmeißen sie hinten so viel Hopfen rein, dass alles überdeckt wird, was vorne falsch gemacht wurde. Was brauche ich da noch für ein Technologieverständnis? Da kaufe ich mir irgendein Restbier, stopfe das gehörig mit Hopfen und habe anschließend ein Super-IPA.
Nun brauen Sie ja selbst auch extreme Sorten.
Na, so extrem sind die nicht.
Es sind größtenteils vergessene traditionelle Sorten, die sie in kleiner Menge für den amerikanischen Markt erzeugen.
Berliner Weisse, Grätzer und Gruitbier.
Warum gibt es die nicht auf dem deutschen Markt? Das wäre doch für Biertrinker hochinteressant.
Ja. Ich gehe davon aus, dass es früher eigentlich nur Gruitbier gab. Das Grätzer kommt mehr aus dem Osten. Die Berliner Weisse ist stark regional, die dürfte ich hier in der Hallertau gar nicht als solche herstellen, die müsste in Berlin erzeugt sein.
Wie gehen Sie dem aus dem Weg?
Indem ich es “Ale” nenne, Berliner Weisse Style.
Und dafür braucht der amerikanische Händler einen so hochspezialisierten Erzeuger wie Sie?
Ja, das Problem war, dass die Berliner Weisse als Bierstil nahezu ausgestorben war. Die Berliner Brauereien haben daran kein großes Interesse mehr gehabt und haben es im Grunde nur noch ausgemischt mit biologisch gesäuerter Würze. Wenn man Berliner Weisse allerdings traditionell herstellt, hat man das Problem, dass man den Geschmack nicht standardisieren kann. Berliner Weisse schmeckt Monat für Monat anders, die entwickelt sich, mir ist sie sogar alt lieber als frisch. Da ein vergebenes Mindesthaltbarkeitsdatum aber voraussetzt, dass sich das Produkt nicht signifikant verändern darf, bekäme ich mit abgefüllter Berliner Weisse theoretisch Probleme mit den Behörden.
Ich habe noch nie eine echte Berliner Weisse getrunken – wie schmeckt die?
Als relativ junges Bier hat es überwiegend saure, schwefelige, teilweise sogar leicht essigartige Noten, mit der Zeit wird es dann sehr ausgewogen fruchtig, sehr balanciert in der Säure und vor allem trocken im Trunk. Sie können aber nicht eine Halbe nach der anderen Trinken. Ich sehe das eher als einen Aperitif. Man könnte das schon gescheit vermarkten, aber das wäre dann mehr als ein Hobby. Dafür fehlt mir inzwischen der Antrieb. Übrigens: Die Berliner Weisse wäre reinheitsgebotskonform.
Wie stehen Sie zum Reinheitsgebot?
Für mich ist nervig, dass man das Reinheitsgebot von Behördenseite her nicht hinterfragt. Meiner Meinung nach haben die Behörden das Reinheitsgebot nicht verstanden. Die Idee des Reinheitsgebots ist für mich genial: Ich schaffe ein Qualitätskorsett, das dem Verbraucher versichert, dass dieses Produkt ein reines Produkt ist. Über Gebote, die bei der Produktion berücksichtigt werden müssen, wird das Produkt kontrolliert. Ein Super-Gedanke! Nur heute ist es so: Was im Rahmen des Reinheitsgebots inzwischen zugelassen ist, das hat mit Reinheit nichts mehr zu tun.
Was gehört nicht ins Bier? PVPP, aufbereitetes Wasser?
Ja, wie kann sowas sein? Der Verbraucher versteht doch unter „Reinheit“, dass reine Rohstoffe verwendet werden, das, was auf dem Etikett steht. Dass im deutschen Bier aber etwas drinstecken darf, was nicht auf dem Etikett steht, das ist für mich Blasphemie.
Meinen Sie PVPP?
Ja. Das ist ein Stabilisierungsmittel, letztendlich ist es Plastik, ein Absorptionsmittel, das Gerbstoffe bindet.
Aber es heißt doch immer, davon verbleibe nichts im Bier.
Das ist unter Umständen ein Trugschluss. PVPP wird durch einen Filter, oft Kieselgur, was für sich genommen schon so eine Sache ist, mechanisch in einem Sieb zurückgehalten und entfernt. Letzteres ist das Argument dafür, dass es bei der Biererzeugung zugelassen ist. Jetzt zeigen Sie mir aber mal einen Filter, der ein mechanisch vermahlenes Pulver zu hundert Prozent zurückhält. Es gibt eine Gaußsche Normalverteilung, bei der es x Prozent größere und x Prozent kleinere Poren gibt. Also schlüpft ein Teil durch. Darum hat jede vernünftige Brauerei vor dem Abfüller nochmal einen Trap-Filter, einen sogenannten Partikelfänger, das ist aber auch wieder nur ein mechanischer Filter, bei dem wieder was durchgeht.
Dieser Punkt wird stark heruntergespielt.
Und das ärgert mich. Der Konsument wird eigentlich belogen und ruhig gestellt. Das deutsche Reinheitsgebot müsste von den Verbänden neu definiert werden, ohne Stabilisierungs- und Filterhilfsmittel. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin der Meinung, dass selbst mit dem bestehenden Verständnis des Reinheitsgebots unser Bier in einer Qualität auf den Markt kommt, die kaum ein anderes Lebensmittel bieten kann. Ich finde aber auch, dass in bestimmten Bereichen die Messlatte noch höher gehört.
Würde das nicht bedeuten: Reinheitsgebots-Bier wäre ungefiltertes Bier?
Ja. Das heißt, nicht zwangsläufig. Man könnte es massefiltrieren. Sie können das Bier so lange im Tank liegen lassen, bis sich alles abgesetzt hat, dann kommt das Bier quasi blank heraus. Nur haben Sie dann Tankbelegungszeiten, die so lang sind, dass man zehn Mal so viele Tanks bräuchte.
Also müsste ein bezahlbares Reinheitsgebots-Bier unfiltriert sein.
Ja. Wobei, wenn man Bier über einen mechanischen Filter ohne Absorptionsmittel filtriert, der mir nur Partikel rausholt, das Ergebnis nicht richtig trüb ist. Wir reden bei filtriertem Bier ja inzwischen von „glanzfein“, was bedeutet, dass das Bier funkelnd erscheint und nicht matt. Wenn Bier heute leicht opak ist, gilt es schon als trüb. Das ist vollkommen übertrieben. Und andererseits ist es so: Wenn Sie auf ein Bieretikett „kellertrüb“ draufschreiben, erwartet der Verbraucher gleich „supertrüb“. Und das ist für den Brauer auch schon wieder ein Problem: Wie wollen Sie so eine Trübung stabil halten?
Würden Sie sich eigentlich auch der Forderung anschließen, dass ein Bier immer gleich schmecken muss?
Definitiv. So ist Qualitätskonstanz ja definiert. Es geht ja nicht darum: Schmeckt es einem oder nicht, sondern: Ist es immer gleich? Das erwartet der Konsument. Wenn ich allerdings so ein Standing auf dem Markt hätte, dass ich sagen könnte: Ich bin der, bei dem das Bier immer leicht anders schmecken könnte, aber generell sind die Biere immer gut, würde ich als Verbraucher sagen: Ah, interessant. Als Brauerei hätte ich dann sogar die Möglichkeit, meinen Kunden stärker zu binden. Ich hätte eine Art Kinderüberraschungseffekt.
Das würde allerdings einen mündigeren, wissenderen Kunden voraussetzen.
Ja – wenn man „unmündig“ nicht als Abwertung herzieht. Es wäre ein verständnisvollerer Kunde. Und jetzt kommt für mich das Allerwichtigste. Unsere Konsumenten sind zu wenig aufgeklärt, sie wissen nicht, was für einen Diamanten sie in der Hand haben. Geh‘ in München in eine Wirtschaft und diskutiere übers Bier, da kommst Du aus dem Staunen nicht heraus. Die Leute kennen nicht einmal den Unterschied zwischen Gerste und Gerstenmalz. Das ist das größte Versäumnis unserer Brauereien, dass man nicht vernünftig kommuniziert, was der Brauer tut. Allein die Herausforderung, dass die natürlichen Rohstoffe, die wir verarbeiten, auf der einen Seite jedes Jahr anders beschaffen sind, auf der anderen Seite aber das Bier, was herauskommt, immer gleich schmecken muss. Das ist eine Wahnsinnsaufgabe. Das können die meisten Craftbrauer gar nicht leisten. Bei den 5000 Craftbrauern in Amerika gehe ich davon aus, dass vielleicht 300 eine vernünftige Ausbildung haben.
(Wir haben mit Fritz Briem in Au in der Hallertau gesprochen – den zweite Teil des Interviews gibt es hier.)