Im Mittelalter war Hamburg das Brauhaus Europas. Heute gehören die letzten Traditionsmarken zu Carlsberg, und die Craft-Brauer suchen noch ihren eigenen Stil. Immerhin gibt es hier das beste Alkoholfreie.
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Vor Ostern, könnte man böse sagen, gibt es für Bierfaster kaum eine bessere Großstadt als Hamburg. Denn hier gibt es aus Hopfen-und-Malz-Sicht wenig zu verpassen. Holsten und Astra, die inzwischen beide zum Carlsberg-Konzern gehören, bekommt man ohnehin in jedem Getränkemarkt – beides gute Biere, die man aber sicher nicht im Stammhaus trinken muss. Und außerdem ist, zurück zur Fastenzeit, das im Moment wahrscheinlich interessanteste neue Hamburger Bier ein alkoholfreies. Es heißt “ü.NN”, wird von Oliver Wesseloh seit einigen Monaten in der Hamburger Kehrwieder-Brauerei erzeugt und ist, so steht es mit vollem Recht auf dem Etikett, das erste deutsche alkoholfreie IPA. Wobei IPA für India Pale Ale, also einen besonders stark gehopften Bierstil steht, der ursprünglich für die englischen Kolonien entwickelt worden war und durch die Craftbeer-Bewegung in den letzten Jahren weltweit eine Wiederentdeckung erfahren hat. Die Bezeichnung “Alkoholfreies IPA” verspricht also eine Menge Hopfenaroma bei nur 0,4 Prozent Alkohol. Das klingt verlockend – warum ist in Deutschland eigentlich noch niemand auf diese naheliegende Idee gekommen, der Markt wächst ja?
Wir haben Oliver Wesseloh auf der Gastronomie-Messe Internorga in Hamburg in der sogenannten Craftbeer-Arena getroffen, wo der Buchautor und frühere Biersommelier-Weltmeister in seinem charakteristischen Outfit mit Schiebermütze, Spitzbart, Weste und Pferdeschwanz drei Sorten Bier ausschenkte: Seinen “Prototyp”, ein kalt gehopftes, recht starkes, aber betont süffiges Lager – Wesseloh bezeichnet die ungewöhnliche Kombination als “Hamburg Style” -, sein hervorragendes “Shipa”, ein Single-Hop-IPA, das immer nur eine bestimmte Hopfensorte in den Vordergrund stellt, und eben “ü.NN”, was, ziemlich originell, für “über Normal Null” steht.
Alles drängt sich in die Craftbeer-Arena
Der Trick des tatsächlich fast wie ein echtes IPA riechenden Alkoholfreien liegt dabei in der Hefe: Es ist eine, die Malzzucker nicht vergären kann, den Alkoholgehalt somit niedrig hält, allerdings den Nebeneffekt hat, dass “ü.NN” zwar äußerst vollmundig und gehaltvoll schmeckt, diesen Eindruck aber mit relativ hoher Restsüße bezahlt. Manche mögen das und können rundum zufrieden sein, uns war es eine Idee zu viel, und trotzdem kann man klar sagen: “ü.NN” ist das mit Abstand beste deutsche alkoholfreie Bier. Die bisher angebotenen gestoppten oder alkoholentzogenen Weizen- und Lagerbiere schmecken im Vergleich zu ihm einfach nur metallisch und nach Mangelverwaltung. Oliver Wesseloh, der seine Produkte mit griffigen Kommentaren an den Mann zu bringen versteht, formuliert es so: “Das ist das erste Alkoholfreie, das ich nicht trinke, weil ich es muss, sondern, weil ich es will.” Da ist was dran.
Die Mischung aus den Hopfensorten Simcoe und Mosaic, welche Gerüche von Grapefruit und Maracuja aufkommen lassen, bleibt lange in der Nase – und man würde nicht zögern, es bei der nächsten Gelegenheit allein aus Neugier wieder zu bestellen, auch statt eines normalen Biers. Wenn Oliver Wesseloh die Restsüße bei diesem, wie er sagt, “Zufallsrezept” noch etwas stärker drosseln könnte – er selbst warf den Einsatz von Sauermalz ins Rennen – hat dieses Bier ein immenses Potential; in der Gastronomie könnte es manches Frustrations-Problem lösen.
Die Internorga muss man sich insgesamt als eine sehr inspirierende Messe mit vielen Produktinnovationen und Probierständen vorstellen, Massenandrang aber herrscht nur vor den Bierständen, an denen Männer mit Anzug und weißen T-Shirts unter dem blauen Hemd schon nachmittags mit roten Wangen schäumende Gläser durch die Hand gehen lassen. In der Craftbeer-Zone, in der Maisel einen eigenen kleinen Biergarten aufgebaut hatte (dabei kommt einem eine Liedzeile der Rodgau Monotones in den Sinn: “Hamburgs heller Stern versinkt, wenn der Fischmarkt erst nach Handkäs stinkt”) war sogar besonders viel los. Aber Hamburg hatte außer Kehrwieder, das auf der Bierbewertungsplattform Ratebeer zum Teil exzellente Bewertungen erhält, Blockbräu und den unvermeidlichen Craftbeer-Mitmischern von Ratsherrn, deren Spezialbiere einen schon im Bahnhofskiosk empfangen, nicht viel zu bieten, vor allem wenig Regionaltypisches.
Ausgerechnet Störtebeker
Dazu passt, dass am Jungfernstieg, dort wo einst die Malz-Mühlen für die Bierproduktion der Hanse klapperten, schon seit langem eine große Hofbräuhaus-Filiale residiert. Und bereits die Brauerei, die das Astra-Pils erfand, bevor sie an Holsten und dann an Carlsberg überging, die Bavaria-St. Pauli-Brauerei, war ihrerseits schon Symptom eines verlorenen Verdrängungswettbewerbs, bereits ihr Name verwies darauf, dass das aus Bayern kommende Lager-Bier selbst den äußersten Norden erobert und das obergärige Hamburger Bier (Braunbier, Rotbier, Weizenbier), das über Jahrhunderte hinweg den Markt dominierte, verdrängt hatte.
Was ist aus Hamburg und seiner einstmals so lebendigen Bierkultur nur geworden? Bis vor wenigen Wochen führte eine Bier-Ausstellung im “Museum für Hamburgische Geschichte” noch vor Augen, dass die Stadt über Jahrhunderte hinweg dem Namen “Brauhaus der Hanse” alle Ehre machte. Am Alstersee haben schon vom 13. Jahrhundert an Mühlen das Bier-Malz geschrotet. Im 14. Jahrhundert sollen in Hamburg jährlich bereits mehr als 500.000 Hektoliter erzeugt worden sein, im 16. Jahrhundert gab es noch mehr als 500 Brauereien. Auf die Initiative der Hamburger Brauer sollen außer dem ersten Wasserwerk sogar die Gründung der Börse und die erste Feuerversicherung zurückgegangen sein.
Und dann, neben der verflossenen Herrlichkeit, auch noch das: Wer momentan nach Hamburg kommt, muss natürlich die Elbphilharmonie besichtigen. Und was sieht der Besucher, nachdem er zwei Minuten lang auf einer interessant gebogenen Rolltreppe, durch die sogenannte “Tube”, hinauf in Richtung Aussichtsplattform gefahren ist? Als erstes das Logo einer Biermarke: Störtebeker. Ausgerechnet “Störtebeker”, der Schrecken der Hanse, der gefürchtete Feind Hamburgs. Und das Hopfenbitterste an der ganzen Angelegenheit für die Stadt: Störtebeker, eine Brauerei mit Craftbeer-Hintergrund und vielfach preisgekrönten Bieren hat ihren Standort in Stralsund. Da haben früher die Hamburger das Bier hin verschifft. Naja, nicht ganz so, denn Stralsund hat selbst eine 800-jährige Braugeschichte. Der entscheidende Punkt aber ist: Nach der Wende hat man in Stralsund zu günstiger Zeit das Ruder herumgerissen und steht jetzt mit einem breiten, wohldurchdachten und “auf Nordisch” getrimmten Sortiment als Hanse-Spezialbier-Primus glänzend da.
In der Speicherstadt ist noch viel Platz
Und weil die Angelegenheit so kurios ist, haben die Elbphilharmonie und Störtebeker sie gleich noch auf die Spitze getrieben. Denn, was sich hinter dem Brauerei-Logo befindet, ist eine auf mehrere Ebenen verteilte, restlos durchdesignte markengebundene Brau-Erlebniswelt mit Tasting-Lounge, Growler-Abfüllstation und allem Pipapo – und das alles in nächster Nähe zur Hochkultur. Was für das Image des Biers insgesamt natürlich hervorragend (und vollkommen angemessen) ist. Ein Elbphilharmonie-Besucher brachte es nach dem Eintritt in die Störtebeker-Markenwelt auf seine Weise auf den Punkt: “Polar-Weizen: geil!”
Den vielen Hamburger Bierenthusiasten vom Pauli-Fan bis zum Schanzenviertel-Hipster wird hier vorgeführt, welches Potential die eigene Stadt unausgeschöpft lässt. Selbst das Bier, das eigens für die oben erwähnte Hamburger Bierausstellung entwickelt wurde, ein Rauchweizen “nach alter Hanse-Rezeptur”, stammt von Störtebeker aus Stralsund.
Hamburg liebt doch ganz offensichtlich das Bier – warum entdeckt es nicht konsequent die eigene Tradition? Es geht dabei ja nicht um dumpfen Städte-Patriotismus, sondern um den Erhalt von Biervielfalt. In Hamburg, heißt es zum Beispiel im Katalog zu der leider schon ausgelaufenen Ausstellung “Kein Bier ohne Alster”, sei sogar das erste Weizenbier Deutschlands gebraut worden. Rezepte sind, wie der Kurator der Ausstellung sagt, zwar nicht überliefert, die kann man aber bekanntlich rekonstruieren und neu interpretieren.
Im Moment ist Hamburg die deutsche Hätte-Wäre-Bierstadt schlechthin. Vor drei Wochen haben wir es fast unwidersprochen über Berlin geschrieben, auf Hamburg bezogen stimmt es auch: Der Millionenstadt fehlt ein eigenes unverwechselbares Referenz-Bier. Dabei ist in der Speicherstadt nahe der Elbphilharmonie noch so viel Platz. Sie wäre der ideale Ort, um bemerkenswerte Biere aus aller Welt mit neuen, typischen Kreationen der Hansestadt zusammenzubringen.