Anders als Wein muss man Bier bei der Verkostung herunterschlucken. Das ist aber nicht die einzige Freude bei der einwöchigen Ausbildung zum Bierbotschafter. Was bringt das Ganze?
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Wer in Gaststätten gelegentlich ein Bier ohne Schaum im warmen Glas serviert bekommt, das womöglich schon eine Nacht in der Zapfleitung verbracht hat, wer im Craftbeer-Shop schon einmal für viel Geld ein Porter erstanden hat, das wegen schlechter Lagerung nach Petroleum schmeckte; wer schon einmal eine Brauerei-Führung erlebt hat, bei der dem Präsentator der Brauprozess nur rudimentär vertraut war, wer schon einmal großes Erstaunen geerntet hat, weil er den Unterschied zwischen obergärigem und untergärigem Bier kannte, der wird bestätigen können, dass das Wissen über Bier in Deutschland nicht sehr ausgeprägt ist. Dabei trinken die Deutschen pro Kopf immer noch beachtliche 100 Liter im Jahr.
Für diesen schon seit längerem bekannten Widerspruch gibt es mehrere Erklärungsversuche. Der beliebteste ist, dass Bier in Deutschland so selbstverständlich ist und insgesamt auf so hohem Niveau ausgeschenkt wird, dass man als Verbraucher einfach nicht dazu gezwungen ist, sich über den Gerstensaft Gedanken zu machen. Gegen diese These würden allerdings nicht nur die Eingangsbeobachtungen sprechen, sondern auch die Tatsache, dass es sich im Nachbarland Tschechien, das weltweit beim Bier den höchsten Pro-Kopf-Verbrauch und eine vergleichbare Qualität aufzuweisen hat, ganz anders verhält. Da ist die Schanktechnik zum Beispiel noch ein beliebtes Kneipenthema: „Diese Halbe muss vom Fassboden stammen!“
Ist es nicht doch eher die zunehmende, durch industrielle Produktion verursachte Entfremdung vom ursprünglichen Brauereiprodukt bei gleichzeitiger Lockerung der Schankvorschriften, die dem Nichtwissen in Deutschland Vorschub leistet? Die Kneipen werden immer leerer, zu Hause trinken viele günstiges „Fernsehbier“ aus der Flasche, und unter Jugendlichen erfreuen sich Mix-Getränke, die den Biergeschmack eher verbrämen, besonders großer Beliebtheit. Am zuverlässigsten findet man eine Wirtshaus-Kultur, in der das Bier noch gepflegt und möglichst brauereinah, bei minimaler Gas-Zufuhr mit der optimalen Temperatur ins saubere Glas geschenkt und mit ordentlichen Speisen bezahlbar kombiniert wird, nur noch im Süden Deutschlands.
Auf der anderen Seite ist durch die zunehmende Präsenz von Craft- und Spezialbieren im deutschen Getränkehandel seit ungefähr fünf Jahren ein neuer Erklärungsbedarf entstanden. Der Kontakt zu amerikanischen Pale Ales oder deutschen Starkbieren mit rätselhaften Etiketten lässt sich kaum noch vermeiden. Und für große Brauereien gehört es heute fast schon zum guten Ton, ein eigenes “Erlebnis”-Museum einzurichten und Verkostungs-Events zu veranstalten. All das weckt Neugier: Welche Geheimnisse stecken hinter dem Bier?
Die Suche nach einer Antwort führt einen früher oder später nach Franken, in dem die Brauereidichte durch eine Vielzahl weltbekannter kleiner Hausbrauereien noch fast spätmittelalterliche Ausmaße erreicht. Man führe zum Beispiel einmal das unter Kennern sehr beliebte Huppendorfer Pils an die Nase, das im Geruch und Geschmack zu einem Lagerbier der Großkonzerne kaum eine Ähnlichkeit aufweist und man wird nicht umhin kommen zu fragen: wonach riecht und schmeckt dieses verführerische Getränk eigentlich? Ist das Heu … und Zitrone?
Die Brauereien müssen – viele Kunden wollen – das Sprechen über Bier erlernen. Ist es von seiner Geschmacks- und Geruchskomplexität mit dem Wein zu vergleichen?
Mit dieser Leitfrage im Kopf haben wir in der vergangenen Woche bei (in) ein(em )Bierbotschafter-Seminar in Kulmbach für einige Tage hineingeschnuppert. Bierbotschafter werden seit fünf Jahren von der IHK in Kooperation mit dem Getränkeinstitut Doemens ausgebildet. Die Nachfrage nach dem etwas hochtrabend klingenden Titel steigt beständig, inzwischen gibt es mehr als 300 Absolventen. Der knapp 1400 Euro kostende Kurs wird in Berlin, Kulmbach, Köln, Hamburg und Koblenz angeboten.
Schnuppern, Schlucken, ins Glas blasen
Als angehender Bierbotschafter findet man sich am ersten Lehrgangstag in einer Gruppe von ungefähr zwanzig Gleichgesinnten wieder, die vor sich, neben einer Mappe mit Arbeitsmaterial, vier leere Gläser stehen haben, welche in den kommenden Tagen immer wieder mit unterschiedlich farbigen Bieren gefüllt werden. Eine bunt durchmischte Gruppe hat sich in Kulmbach versammelt, in der sich der Justiziar einer großen Brauer-Vereinigung ebenso befindet wie der Erfinder einer neuartigen Micro-Brauanlage. Zugegen sind nicht nur die amtierende Hallertauer Bierkönigin, sondern auch ein fränkischer Bierprinz; neben interessierten Laien finden sich vor allem Semi-Profis, die unterschiedlich gezielt etwas mit Bier vorhaben: eine eigene Gaststätte oder einen Craftbeer-Shop eröffnen, ein neues Tasting-Programm etablieren. Einer wurde sogar von seinem Turnverein entsandt, um das erworbene Wissen zurückzutragen und unter den Sportsfreunden zu vermehren.
Die meisten hier würden wohl sagen, dass sie Bier lieben. Und selbst jene, die von einer Brauerei geschickt wurden, um künftig Führungen durch den Produktionsbetrieb zu veranstalten, müssen in sich auf irgendeine Weise die Begeisterung für Gersten- und Weizensäfte wecken. Denn ein Großteil der Abschlussprüfung ist rhetorischer Natur. Im Kern besteht sie aus einem zehnminütigen Vortrag über ein selbstgewähltes biervermittelndes Thema, in dem drei Biere besonders beleuchtet werden müssen. Hinzu kommt die fünf Minuten dauernde Vorstellung eines frei gewählten besonderen Bieres, das nach allen Regeln der Sensorik analysiert werden soll.
Der Rest der Abschlussprüfung besteht aus einem schriftlichen Fragentest (multiple choice) und der “halbblinden” Zuordnung dreier neutral ausgeschenkter Biere zu den Sorten: Helles, Export und Pils. Wobei diese letzte Prüfung zwar dadurch erleichtert wird, dass man die drei Biere vorher in mehreren Probedurchläufen schon kennengelernt hat. Schwierig genug bleibt sie aber trotzdem, denn zum Erstaunen vieler passionierter Biertrinker fällt eine Unterscheidung zwischen Hellem und Export je nach Tagesform und Kältegrad des Biers nicht immer leicht. Um auf Nummer Sicher zu gehen, wird man das Bier daher erwärmen und die Schaumentwicklung beobachten müssen.
All das führt dazu, dass die Seminaristen im Lauf ihrer Ausbildung recht sonderbare Rituale entwickeln, an allem möglichen schnuppern und mit allem anstoßen, was ihnen in die Finger kommt. Auch mitgebrachtes Selbstgebrautes wird immer wieder gereicht und analysiert. Während zu Beginn des Seminars bei Verkostungen noch munter durcheinander geredet wird, herrscht am dritten Tag konzentrierte Ruhe: Schnuppern, Schlucken, ins Glas blasen, Bier schwenken, Notizen machen. Welche Farbe hat das Bier, wie sieht der Schaum aus? Wie fühlt es sich im Mund an, wie viel Kohlensäure enthält es? Welche Malz-, Hefe- und Hopfennoten sind zu erkennen? Wie ist der Nachtrunk – bitter, langanhaltend oder kaum spürbar? All das lässt Rückschlüsse auf die Qualität und den Stil des Bieres zu und befeuert, angeleitet von dem versierten Seminarleiter Hans Wächtler sowie dem von ihm entwickelten “Aromabaum” (siehe die Abbildung am Textende), eine Erkenntnislust ganz eigener Art. Denn irgendwie ist das natürlich alles schon ein wenig strange, was hier vor sich geht. Zelebriert wird eine Wertschätzung, die das Bier wohl noch nie in seiner Geschichte genossen hat.
Und doch ist es ohne Zweifel faszinierend, das eigene Riechen und Schmecken zu erkunden und zu erfahren, dass Bier (mancher hat es schon immer gesagt) morgens am besten schmeckt, dass man Süße und Salz kaum riechen kann und welch komplexen Geruch Koriandersamen oder Honig in einem schwarzen Blindverkostungsglas verströmen. Wie köstlich belgische Fruchtbiere sind, die mit zunehmender Erwärmung immer neue Nuancen gewinnen! Und wie lange man der gerne als animalisch bezeichneten Geuze nachschmecken kann.
Der Höhepunkt der Veranstaltung aber ist die Einführung ins “Foodpairing” am vierten Lehrgangs-Tag. Dabei werden etwa 25 der besten und markantesten Biere aus aller Welt zusammen mit den unterschiedlichsten Speisen vom Fisch bis zur Schokolade verkostet. Wobei einige Überraschungen lauern: Pilsener Biere zum Beispiel vertragen, obwohl oft anders genossen, die Kombination mit salzigen Speisen überhaupt nicht. Die Tomate hingegen passt zu fast allen Bieren. Und was man so alles an Schokolade zum Bier wegknabbern kann … Zu fast jedem Bier passt irgendein gängiger Nachtisch, Weizenbier zum Beispiel harmoniert sehr gut mit Erdbeerkuchen. Und wer einmal einen einfachen, aber effektiven Selbstversuch in Sachen Foodpairing machen will, trinke einen kleinen Schluck Schlenkerla Rauchbier, esse darauf ein Stück Schwarzwälder Schinken und nehme einen weiteren Schluck. Er wird feststellen, dass sich die Rauchtöne geradezu aufheben und einem eher kakaoartigen Malzaromenspiel Platz machen, das man ohne Begleitung so nicht wahrgenommen hätte.
Oft gehen die Lehrgänge am Abend in den Gasthöfen Kulmbachs weiter, wo die Seminaristen wenigstens bis zu einer bestimmten Uhrzeit gern gesehene Gäste sind. Die schlechte Nachricht: Auch für Bierbotschafter gilt die Sperrstunde. In den Gesprächen verrät sich oft die Sehnsucht nach einer bestimmten Form von Geselligkeit, die viele noch als junge Menschen erlebt haben und die sie als bedroht empfinden. Der Hang zur Nostalgie verbindet sich dabei mit etwas eher Untraditionellem: Der Entschlossenheit zum Bier-Genuss, der ohne die Ansammlung von Wissen nicht zu haben ist. Ob Craft- oder Traditionsbier, das ist für kaum jemanden eine Entscheidungsfrage. Hauptsache, es stärkt die Vielfalt und bewahrt möglichst viel an handwerklicher Kunstfertigkeit.
Das bunte Häufchen, das sich künftig “Bierbotschafter” nennen darf, aber wohl auch gegen die Bezeichnung “lauter Verrückte” nichts einzuwenden hätte, verlässt Kulmbach mit einer Reihe fest eingebrannter Geschmäcker: Porter mit Schokolade, Weizenbock mit Räucherlachs, Geuze mit Blauschimmelkäse und vielen mehr. In ihrer Genussfähigkeit muss man sich diese fortgeschrittenen Bierkenner wohl als beneidenswerte Menschen vorstellen.