Die Münchner Wiesn ist das größte Volksfest der Welt, aber kaum einer versteht es. Kurz vor Eröffnung kann man eine logistische Meisterleistung beobachten – und die permanente Erfindung eines Mythos.
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Was gibt es über eine Veranstaltung, für die seit 1996 keine Werbung mehr gemacht wird, die aber von unbezahlbarem Werbewert für Bayern und seine Landeshauptstadt ist – München macht während des Oktoberfests mit Hotellerie, Gastronomie, Souvenirs und Taxis einen Umsatz von einer Milliarde Euro – eigentlich noch zu erzählen? Wenig – und zugleich viel. Denn wiedergekäut werden zum Wiesn-Beginn meist dieselben alten Geschichten, und die unzähligen Statistiken, die den logistischen Kraftakt zu begreifen versuchen, bleiben wegen der vielen Nullen am Ende doch nur abstrakt.
Am besten verstehen kann man das 1810 anlässlich der Hochzeit von Kronprinz Ludwig und Prinzessin Therese erfundene Oktoberfest aber vielleicht, wenn man sich einige Tage vor der Eröffnung auf der Wiesn umschaut.
Aus Biersicht ist bemerkenswert, dass von den ungefähr sechs Millionen Besuchern, die zum größten Teil aus München und Bayern herbeiströmen – 51 Prozent sind übrigens Frauen -, im Durchschnitt jeder nur wenig mehr als eine Maß Bier trinkt. Diese wird bei der kommenden Wiesn satte 10,60 Euro aufwärts kosten, der Kauf ist aber angesichts der Tatsache, dass die Maß Wasser schon mit 8,50 Euro zu Buche schlägt, fast schon wieder empfehlenswert. Für den Bierjahreskonsum, der in Deutschland bei ungefähr neun Milliarden Litern liegt, spielt das Oktoberfest, das weniger als 0,1 Prozent dazu beiträgt, aber kaum eine Rolle, aller Kraftmeierei zum Trotz. Das Bier steht zwar als Aushängeschild im Mittelpunkt, aber selbst die Wiesn-Wirte machen mit dem Essen inzwischen mehr Umsatz als mit dem Gerstensaft.
Der Mythos “Wiesn”
Das Oktoberfest ist eine Institution, die am 15. Juni eines jeden Jahres auf einem 42 Hektar großen Schotterplatz aufgebaut und Anfang Oktober wieder komplett demontiert wird, denn auf der Theresienwiese darf es keine permanenten Gebäude geben. Die Wiesn-Zelte und die Fahrgeschäfte müssen ihren angestammten Platz nach dem Abbau wieder frisch schottern, dann verschwinden auch die Betonböden, die für die Zeltküchen eigens eingezogen wurden. Wahrscheinlich macht auch das den Reiz der Wiesn aus: dass sie 50 Wochen im Jahr wie vom Erdboden verschluckt oder im Auf- und Abbau begriffen ist.
Das Oktoberfest ist aber auch sonst eine durch und durch unpraktische Angelegenheit. Wer kam eigentlich auf die Idee, Bier in diese großen, unhandlichen Glaskrüge abzufüllen und mit großen Fleischstücken, an denen noch ein Knochen hängt, zu kombinieren, fragen sich vor allem die ausländischen Besucher? Wobei letztere wohl eine Art germanischen Lebensstil darin erahnen und sich fasziniert vor ihrem Bajuwaren-Gedeck ablichten lassen.
Und das Bier selbst, das in die klobigen Krüge abgefüllt wird, ist ebenfalls eine sonderbare Angelegenheit. Es nennt sich Märzen-Bier und hat seine Ursprünge in einer Zeit, in der die Brauereien noch ohne künstliche Kühlung auskommen mussten. Um ein untergäriges Bier, das im Sommer nicht fachgerecht gelagert werden konnte, im Oktober servieren zu können, musste es bereits im Frühjahr mit etwas mehr Stammwürze (mehr als 13,5 Prozent) und damit auch mehr Alkohol (rund 6 Prozent) erzeugt werden.
Die relativ unbekannte Märzen-Tradition in Verbindung mit dem Maß-Kult hat jedoch den unerfreulichen Nebeneffekt, dass viele ausländische Besucher wie die Lemminge in die bajuwarische Bierfalle tappen. Wenn man es nicht gewöhnt ist, legt das süffig-malzige Oktoberfestbier einen nach dem ersten Glas einfach lahm – und die überall sich drehenden Fahrgeschäfte tragen eher noch zur Verschlechterung des körperlichen Befindens bei.
Wenn es aber nun die Literkrüge unbedingt sein müssen, ist das Märzenbier für all jene, die regelmäßig Bier trinken, keine schlechte Erfindung. Denn ein starkes, malziges Bier macht im Maßkrug länger eine gute Figur als ein dünneres, zumal es auf der Wiesn oft mit eigentlich unstatthaften 4 Grad Celsius serviert wird, also recht lange kühl bleibt. Allerdings wird sich auch der trainierte Besucher, je nachdem, was er noch vorhat, gut überlegen, ob er eine zweite Maß bestellt – die bei vielen Reservierungen allerdings Pflicht ist.
Der Wiesn-Wirt
Eigentlich wollte sich der fast 78 Jahre alte “Wiggerl” Hagn, dessen Familie seit 1979 das Löwenbräu-Festzelt führt – davor war es das Schützenzelt – mit 50 zur Ruhe setzen. Da hätte er, weil sein Vater bereits mit Ende Vierzig verstorben war, schon mehr als dreißig Dienstjahre auf dem Buckel gehabt. Doch er machte immer weiter, weil es ihm, der inzwischen von seiner Tochter und deren Familie unterstützt wird, einfach Spaß macht, wie er sagt.
Schon bei seinen kurzen Erklärungen überträgt sich die ungeheuren Ruhe und Professionalität des Mannes mit dem hochgezwirbelten Schnurrbart, der mit 400 Mitarbeitern mehr als 8000 Sitzplätze und 36.000 Maßkrüge im Auge haben muss. Sieht man, wie er schon vor Eröffnung der Wiesn von vereinzelten Gästen umschwärmt wird, prägt sich der nicht ganz fernliegende Eindruck auf, dass die Wiesn-Wirte die eigentlichen Gastgeber des Oktoberfests sind, oder zumindest für solche gehalten werden. Es sind oft Vaterfiguren mit eigentümlicher street credibility und großer Menschenkenntnis. Vieles an ihrer Tätigkeit ist reine Psychologie: Wie erstickt man Aggression im Keim, wie organisiert man Laufwege, welche Neuerungen sind sinnvoll, wie muss die Speisekarte erweitert werden, wie gehen die Leute zufrieden nach Hause? Fragt man “Wiggerl Hagn”, ob man ihn fotografieren darf, sagt er: “Natürlich.”
Seelenruhig erzählt Hagn, dass er vor einigen Jahren mal ein Buch über die vielen bürokratischen Hürden habe schreiben wollen, die Maß und Hendl auf dem Oktoberfest zu nehmen haben. Beim Überarbeiten habe er mit einiger Distanz jedoch erkannt, dass die vielen Bestimmungen im Grunde ihn selbst schützen. Das Oktoberfest bezeichnet er als das meist-kontrollierte Fest der Welt. Ein normaler Gastronom sehe den Bezirksinspektor von Zeit zu Zeit, er hingegen treffe ihn auf dem Oktoberfest manchmal sogar mehrfach am Tag. Inzwischen habe er sogar einen Hygienebeauftragten.
Die Ringleitung
Erstaunlich allerdings, dass sich ausgerechnet die Beziehung der Wiesn-Wirte zum Bier recht distanziert ausnimmt. Dass sie sich über genaue Mengen nicht äußern wollen, ist nachvollziehbar, sowohl Wiggerl Hagn als auch Thomas Roiderer vom Hacker-Zelt aber verweisen darauf, dass die Volumina ohnehin von den Brauereien bestimmt würden, die dafür Berechnungs-Spezialisten hätten. Hagn und Roiderer schwören dabei auf das Containerbier, das morgens ab 1.30 Uhr von der jeweiligen Brauerei geliefert wird. Es könne gut gekühlt werden und nach dem Transport besser ausruhen als das in Fässern.
Vom Organisationsaufwand sind die Wiesn-Wirte, von denen niemand außer ihnen selbst weiß, wie man es wird und was man in den wenigen Tagen im Herbst netto verdient (wir werden es im nächsten Jahr allerdings herauszufinden versuchen), ansonsten im September kaum zu beneiden. Da baut man drei Monate an seinem Zelt herum, dann beginnt das Oktoberfest, und in wenigen Minuten sind auf den großen Flächen alle fünf- bis zehntausend Plätze voll. Jetzt muss man auf den Punkt genau in einer Großküche mit schwindelerregenden Ausmaßen den eigenen großsprecherischen Ansprüchen an Frische, Sauberkeit und Sicherheit genügen.
Und der Bedienungsjob ist schon geradezu unmenschlich. Sechzehn Tage schleppen die Kurzzeit-Angestellten meist im Dirndl schwere Krüge durch die Gegend, werden angelallt und angetatscht, und wenn sie Pech haben, müssen sie draußen bedienen, im Regen. Immerhin soll sich das Schmerzensgeld im Durchschnitt zwischen sechs- und zwölftausend Euro bewegen. Wiggerl Hagn setzt seit Jahren, wie er sagt, fast durchweg die selben Kräfte ein. Krankmeldungen gibt es keine.
Das Herz der Wiesn
Bei dem ganzen logistischen Aufwand des Oktoberfests stellt sich natürlich die Frage: Warum können die Bayern das eigentlich so gut – und dann auch noch “in groß und schwer”? Liegt es, um einmal tief in die Küchen-Ethno- und -Psychologie zu greifen, an der agrarischen Prägung der Bayern, die wegen ihrer landwirtschaftlichen Wurzeln besonders zur Massenverpflegung prädestiniert sind? Noch heute gibt es alle vier Jahre auf der Wiesn das Bayerische Zentral-Landwirtschaftsfest, das auf die Ursprünge des Oktoberfests zurückverweist…
Ein Übriges tut die Bereitschaft der Münchner zur wohl bemessenen Selbstüberschätzung. Gerne spiegelt sich der lokale Charakter in der Figur des Franz Xaver Krenkl, der nicht nur dadurch berühmt wurde, dass sein Stall beim Oktoberfestrennen vierzehn Mal den Meistertitel errang, sondern auch, weil er es wagte, mit den Worten “Majestät, wea ko, dea ko” die Kutsche von Kronprinz Ludwig im Englischen Garten zu überholen. Er hat Recht behalten: Einen bayerischen König gibt es heute nicht mehr, das Oktoberfest schon.
Von seiner Struktur her ist das Oktoberfest eine Art “Stadt in der Stadt”. Vom persönlichen Umgang her ist es, wie man gerade vor der Eröffnung erleben kann, eher ein Dorf in der Stadt, in dem sich jeder duzt, weil jeder jeden kennt. Fast alle betonen, man sei eine große Familie, womit vielleicht unbewusst die Tatsache in Schach gehalten wird, dass das Oktoberfest eine fast unvergleichlich große Ansammlung von Dynastien ist, eine Veranstaltung, bei der das Bier ausschließlich aus München kommen darf, eine Goldgrube, zu der jeder hinströmt, obwohl es im Grunde etwas Unerfreuliches hat, wenn die Claims schon seit Jahrzehnten abgesteckt sind.
Die Veranstalter wissen, wie man jedes Jahr von Neuem ein soziales Ereignis schafft, das durch Hinzusetzen, Miteinanderanstoßen, Miteinandersprechen und -Singen geprägt ist. Dazu bedarf es eines Talents, das man nicht unterschätzen sollte und das man wahrscheinlich am besten auf der Wiesn selbst ausprägen kann. In dieser Hinsicht ist die Wiesn vielleicht auch eine Art permanenter Neuerfindung Bayerns.
Der Bunker
Die These von der Stadt in der Stadt lässt sich leicht noch dadurch untermauern, dass es auf dem Oktoberfest ein eigenes Behördenhaus gibt, in dem Polizei, Feuerwehr, Rotes Kreuz (mit eigenem OP), TÜV, ein Jugendamt, ein Fundbüro und sogar ein Finanzamt untergebracht ist. Zwar darf es auf der Wiesn eigentlich keine feststehenden Gebäude geben, in diesem Fall wurde aber eine Ausnahme gemacht. Das Behördenhaus, auch Bunker genannt, verfügt über ein mit Kupfer beschlagenes Erdgeschoss, vor allem aber über mehrere unterirdische Geschosse, welche die Stadt München zusammen 13 Millionen Euro gekostet haben. Die mehr als 2000 Sanitäter, die hier zum Einsatz kommen, melden sich alle freiwillig, die Polizei ist an den Wochenenden mit 350 Kollegen und nochmal 300 im Umfeld vertreten. 7500 Mittagessen sind bereits vorbestellt.
In dem Gebäude befinden sich auch mehrere Verwahrzellen für auffällig gewordene Wiesn-Besucher. Im Bild zu sehen ist eine Gemeinschaftszelle, deren Gitterstäbe schon mehrmals verstärkt werden mussten, denn immer wieder gelang es Insassen, sie zu verbiegen und sogar den Kopf hindurchzustecken. Inzwischen hat sich bei den oktoberfest-erfahrenen Polizisten die Einsicht durchgesetzt: “Es gibt nichts, was ein Betrunkener nicht kann.” Bei ihren Einsätzen scheint ihnen keine menschliche Regung fremd geblieben zu sein.
Die Oide Wiesn
Etwas enttäuschend ist es schon, dass es auf dem superlativen Oktoberfest so wenig Abwechslung gibt. Immerhin scheint die im Jahr 2010 auf der Südseite ins Leben gerufene “Oide Wiesn”, auf der man mit größerem Formwillen an echte Traditionen anzuknüpfen versucht, aus dem Bedürfnis einer Selbsterneuerung heraus entstanden zu sein. Hier gibt es zum Beispiel ein Volkssänger-, ein Museums- und ein Kleinkunstzelt, der Eintritt kostet drei Euro, die Zelte sind dafür großzügiger angelegt, familien- und kinderfreundlicher, man sieht echte Trachten aus ganz Bayern und ein erstaunliches Mitsingbedürfnis. Das Oktoberfestbier gibt es hier aus Tonkrügen.
Eine Schande aber bleibt, dass das sagenumwobene Jubiläumsbier aus dem Jahr 2010, für das eigens alte Braurezepte konsultiert wurden und von dem viele heute noch schwärmen, keine Dauereinrichtung wurde und erst 2110 wieder eingebraut werden soll. Wir freuen uns zwar schon drauf – die Vorfreude ließe sich allerdings noch durch eine Ausnahmeregelung für das Jahr 2060 steigern. In der Zwischenzeit würde ein “Oides Oktoberfestbier” den auf der Wiesn stark privilegierten Münchner Brauereien gut zu Gesicht stehen.
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Die Eindrücke für diesen Artikel entstanden bei einem Rundgang von Gastronomie-Auszubildenden über die Wiesn vor der Eröffnung, geführt von Manfred Newrzella, Geschäftsführer des Vereins Münchner Brauereien e.V.