In den Vereinigten Staaten erlebt der Biermarkt momentan eine rasante Veränderung, die niemand vorhergesehen hat, sagt der Importeur Matthias Neidhart. Was kann Deutschland daraus lernen?
***
F.A.Z.: Vor zwei Jahren haben Sie sich an dieser Stelle sehr kritisch über das deutsche Bier geäußert.
Matthias Neidhart (lacht)
Haben Sie viele Reaktionen auf das Interview bekommen, in dem Sie nahelegen, dass die Deutschen ihr Bier überschätzen?
Ja.
Eher gute – oder schlechte?
Mehr schlechte. Aber das ist klar, das hatte ich erwartet.
Ist das deutsche Bier in der letzten Zeit besser geworden?
(lacht) Von dem, was ich in den Vereinigten Staaten mitbekomme, würde ich sagen: nein. Es ist allerdings auch unmöglich, innerhalb von zwei Jahren etwas fundamental am Markt zu verändern. Auf der anderen Seite hat sich die Situation von Craftbier in den Vereinigten Staaten in den letzten zwei Jahren dramatisch verändert. Und das hat natürlich auch Auswirkungen auf die deutschen Biere, die wir importieren. Aber ich kann keine Aussagen machen über deutsche Industriebiere. Das interessiert mich überhaupt nicht.
Was hat sich so dramatisch verändert in den Vereinigten Staaten?
Vor zwei Jahren war der Markt noch gewachsen, dieses Wachstum ist heute viel geringer. Der Craftbier-Markt in Amerika umfasst, gemessen am Ausstoß, ungefähr 12 bis 14 Prozent vom Gesamt-Biermarkt, was im internationalen Vergleich sehr viel ist. Und da sind noch keine Import-Biere eingeschlossen. Außerdem fallen die Craft-Brauereien, die von Riesenunternehmen gekauft wurden, aus dieser Statistik heraus. Man muss mit den Zahlen also vorsichtig sein. Aber, was wir wissen, ist, dass der Gesamtmarkt für Craftbier fast zum Stillstand gekommen ist. Die großen Craft-Brauereien, Sierra Nevada, New Belgium, alle, die eine zweite Brauerei an der Ostküste gebaut haben, liegen im negativen Wachstumsbereich.
Wir haben jetzt 6000 Brauereien in den Vereinigten Staaten, wir bekommen jedes Jahr mehr, kleine, lokale Brauereien, und die wachsen zum Teil stark, wobei es nicht so schwierig ist, zu wachsen, wenn man klein ist. Die Kleinen nehmen allerdings massiv Wachstumspotential von den Großen weg. Die Großen wissen momentan nicht, wie sie sich wehren sollen. Der Markt hier in Amerika ist brutal, der Kunde verlangt ständig neue Sachen. Die Dynamik ist unglaublich, es ist nicht mehr vorhersehbar, wie es weitergeht.
Wie steht es mit den Importbieren?
Dieser Markt hat sich in den letzten beiden Jahren ebenfalls massiv verändert. Absolut heiß waren bis vor kurzem in den zehn, fünfzehn zurückliegenden Jahren, die belgischen Biere, die Trappisten, die Golden Ales. Die Amerikaner haben das Interesse an diesen Bieren allerdings zum erheblichen Teil verloren.
Woran liegt das?
Wir können nur spekulieren. Vielleicht daran, dass die belgischen Biere für die amerikanischen Craft-Brauer lange die absolute Bezugsgröße waren. Zuletzt gab es in den Vereinigten Staaten eine Unmenge von Belgium-Style-Bieren. Ein anderer Grund ist, dass sich der amerikanische Biermarkt insgesamt in den letzten 12, 18 Monaten stark gedreht hat, weg von den obergärigen Bieren, zu denen die meisten belgischen Biere gehören, hin zu den untergärigen. Auch das hat kein Mensch vorausgesehen.
Das klingt nicht schlecht für Deutschland. Bei untergärigen Bieren denkt man ja stark an deutsche und tschechische Biere.
Natürlich, Pilsner, Helles, aber auch ungefilterte untergärige Biere, Kellerbiere.
Letztere sind auch in Deutschland im Kommen. Müssen es besondere Kellerbiere in Amerika sein?
Von den deutschen Industriebieren hat hier keines eine Chance. Der Endverbraucher trinkt das untergärige Bier seiner lokalen Brauerei. Wobei man sich darüber streiten kann, ob die Biere gut sind oder nicht. Wir sehen Chancen für deutsche Biere auf allerhöchstem Niveau in Geschmack und Aroma. Diese Biere sind enorm erfolgreich bei uns.
Welche genau sind das?
Zum Beispiel das Helle von Aecht Schlenkerla aus Bamberg. Das hat einen leichten Touch von Rauchbier, weil es durch das gleiche Brausystem geht und die gleiche „Aecht Schlenkerla Hefe“ benützt wird.
Das wirkt im Hellen von Schlenkerla eher wie eine gewisse Herbheit.
Ja, und dieser Geschmack macht dieses Bier einzigartig. Diesen Charakter kann man nicht nachmachen. Ein anderes Beispiel ist für uns bemerkenswert. Als wir 1994 angefangen haben, hatten wir ein Bier aus Buttenheim im Sortiment, in der Nähe von Bamberg, das Kellerbier von St. Georgen Bräu. Das hatte aber damals keine Chance auf dem Markt, es lief überhaupt nicht. Jetzt haben wir es wieder neu eingeführt. Wir bringen es nicht in Flaschen rüber, sondern in unseren gekühlten Tankcontainern, so dass es bei der Ankunft noch vollkommen frisch ist. Das läuft jetzt hervorragend, einfach, weil sich der Kontext geändert hat. Vor 22 Jahren war es die falsche Zeit.
Dem Kunden ist ja nicht unbedingt bewusst, ob er ein obergäriges oder ein untergäriges Bier trinkt. Manchmal kann man beide ja auch nur schwer auseinanderhalten. Aber der Trend scheint in Amerika offenbar weg vom Fruchtigen zu gehen. Geht er in Richtung Malz?
Es kommt darauf an. Süße Biere kommen in den Vereinigten Staaten nicht gut an. Ein Bier muss hier schon ausgewogen sein. Es muss einen schönen Hopfen haben, muss trocken im Finish sein. Was die obergärigen Biere ausmacht, ist das Estrige, die Fruchthaltigkeit, die fällt zunehmend weg.
Beim Blick auf Ihr aktuelles Sortiment fällt auf, dass sehr viele italienische Brauereien vertreten sind. Das schien mir vor zwei Jahren noch nicht der Fall zu sein.
Das ist richtig. Das hängt mit einer zweiten Entwicklung zusammen, die wir in Amerika sehen. Alle großen Craft-Brauereien hier fragen sich: Wie geht es weiter? Der Marktanteil liegt bei 12 bis 14 Prozent, prognostiziert worden waren zum Teil 20 bis 25 Prozent. Wie kommen wir dahin? Oder haben wir eine Grenze erreicht, über die wir nicht hinweg kommen? Das ähnelt der Diskussion in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren. Für uns in Amerika ist die entscheidende Frage: Kann Craftbier aus dem traditionellen Segment – mit IPA und den lokalen Bieren – ausbrechen und in neue Bereiche vordringen? Wir haben uns überlegt: Wo gibt es Bereiche, in denen Craftbier nicht existiert, aber existieren könnte. Und das führt zum Beispiel zu den italienischen Brauereien, die sich anfangs, die ersten zu Beginn der Neunziger, am traditionellen Craft-Segment orientiert haben. Inzwischen gibt es aber tausend von ihnen, die zunehmend ihren eigenen Stil entwickeln. Hinzu kommt: Italien ist weltberühmt für seine Essenskultur. Wenn Sie in den Vereinigten Staaten in italienische Restaurants gehen und auf die Getränkekarte schauen, finden Sie eine Weinliste und zwei, drei Massenbiere aus Italien. Unsere Überlegung war: Was macht der Craftbier-Trinker in dieser Situation? Er möchte hier nicht sein lokales IPA trinken, er möchte eine authentische Erfahrung machen. Es gibt hier ganz offensichtlich eine Lücke – Craftbier aus der entsprechenden Essensregion, und in diese Lücke gehen wir rein und sind damit sehr erfolgreich. Wir führen mit unseren italienischen Spezialbieren dabei keinen Wettbewerb mit lokalen Craftbieren, sondern mit Weinen. Und die gleiche Philosophie verfolgen wir bei asiatischen Restaurants. Die haben auch eine tolle Essenskultur, aber bisher fehlte das passende Craftbier.
Wie ist es mit deutschen Restaurants?
Wir würden liebend gerne das Gleiche mit deutschen Bieren machen, aber da gibt es ein Problem: Abgesehen von Bayern, das der Amerikaner versteht, gibt es in den Vereinigten Staaten keine deutsche Essenskultur, die von ihrer Wiedererkennbarkeit her mit Italien, Japan oder Vietnam vergleichbar wäre. Um ein Segment für tolle deutsche Biere zu öffnen, müsste man erst einmal eine deutsche Essenskultur in Amerika entwickeln. Davon abgesehen stecken viele deutsche Brauereien noch in der Welt traditioneller amerikanischer Craftbiere, die in ausländischen Restaurants keine authentische Erfahrung ermöglichen. Das ist manchmal sehr bedauerlich. Das Rauchbier von Schlenkerla passt zum Beispiel sehr gut zu mexikanischer Küche, es wirkt hier aber leider nicht authentisch.
Darüber hinaus schauen wir uns neuerdings die Welt von Aperitif, Digestif und Cocktail genau an. Da hat Bier noch nie eine Rolle gespielt, wir arbeiten jetzt mit verschiedenen Brauereien zusammen, um etwas Neues zu entwickeln. Wie bringen wir den Craftbier-Trinker dazu, in bestimmten Situationen etwas zu wählen, was theoretisch Bier ist, aber eigentlich total anders.
Was ich mich nur grundsätzlich dabei frage, provokativ gesprochen: Verrät man dabei nicht das Bier ein wenig, wenn man etwas macht, das eigentlich nicht Bier sein will?
Das ist eine tolle Frage. Denn diese Frage stellt nur einer, der aus Deutschland kommt – ich meine das nicht negativ – und Bier in einer gewissen Art und Weise versteht. Der denkt, Bier hat einen bestimmten Platz in der Gesellschaft, für andere Anlässe gibt es eigene Getränke. Ich glaube nicht an diese Philosophie. Ich bin nach unserem letzten Interview sehr angegriffen worden, weil viele gesagt haben, das, wovon ich spräche, sei kein Bier, sondern „crap“. Und, um nicht falsch verstanden zu werden, ich finde, jeder kann Bier so interpretieren, wie er es möchte. Ich persönlich glaube aber, dass Bier, wenn man es als etwas versteht, das auf Malzbasis erzeugt wird und wirklich kreativ sein darf, in den unterschiedlichsten Situationen einen eigenen Platz einnehmen kann, einschließlich Aperitif, Digestif und Cocktail. Ich muss auch sagen, es gibt ganz tolle Biere, die gebraut werden nach dem deutschen Reinheitsgebot, die sind phänomenal, niemand schlägt die. Es gibt aber auch solche, die würde ich nie anfassen, weil sie fad und langweilig sind. Das deutsche Reinheitsgebot ist für mich bedeutungslos, um dahin zu gelangen, wohin ich möchte. Die Italiener haben diese Limitierung nicht, denen steht die ganze Welt offen.
Ich habe das Gefühl, dass sich die Biere in Deutschland, die sich für den Aperitif oder Digestif eignen, auch deshalb so schwer tun, weil sie meist in alltäglichen 0,5er Flaschen daherkommen.
Das stimmt. Und man muss das auch noch aus der Sicht des Barkeepers sehen. Er braucht bei Cocktails oft nur wenig Bier für seine Kreation. Was macht er dann mit dem Rest? Er kann die Flasche nicht wie Wein oder Spirituosen ins Regal stellen, das Bier oxidiert ihm. Die Flaschengröße an sich ist schon falsch. Damit werden Sie in diesem Bereich nie einen Erfolg haben.
Wie kreiert man neue sinnvolle Situationen, in denen Bier eine Rolle spielt?
Man muss einfach den Konsumenten auf seiner täglichen Reise vom Aufstehen bis zum Ins-Bett-Gehen begleiten. In welchen Situationen sehnt er sich nach etwas Flüssigem? Welches Getränke kann man ihm anbieten, um einen bestimmten Job für ihn zu erledigen? Ein gutes Beispiel ist das Brotzeitbier von der Schneider Brauerei, die eigentlich für seine Weißbiere berühmt ist. Das haben wir neuerdings im Angebot, es wird mit wilden Hefen und einem Sauerteig-Starter gebraut, es ist kein weiteres Weizenbier, enthält auch zu 50 Prozent Roggenmalz. Das ist so ein Bier für Situationen, in denen Sie erschöpft sind, ein Bier, das Ihnen Energie zurückgibt, viel Geschmack hat, aber wenig Alkohol. Wenn Sie aus dem Büro kommen, vom Wandern, nach dem Workout, dann ist das das richtige Bier.
Es wundert mich nur, dass das Bier immerhin 4,3 Prozent Alkohol enthält. Wären die beschriebenen Situationen nicht eher solche für alkoholfreie Biere?
Alkoholfreie Biere spielen in Amerika im Moment keine Rolle, das ist lange vorbei. Wenn Sie einem Amerikaner sagen, das Bier hat vier Prozent Alkohol, dann lacht er, das ist nichts hier. Aus diesem Grund bin ich mit vier Prozent ganz zufrieden.
In Deutschland gibt es dieses Bier offenbar nicht, auf der Schneider-Webseite ist keine Rede davon. Wird es ausschließlich für den amerikanischen Markt produziert?
Ja, ich glaube schon.
Was kann Deutschland aus der Entwicklung, die sie beschreiben, lernen? Es würde wohl sehr lange dauern, im Ausland eine deutsche Gastronomie zu entwickeln, die vom Stellenwert her mit der italienischen oder asiatischen mithalten könnte.
Die deutsche Gastronomie an sich hat schon ein Problem, da es oft Exklusiverträge mit bestimmten Brauereien gibt, die an einer neuen Vielfalt kein Interesse haben, die möchten nur ihr eigenes Produkt ausschenken und das war’s. Das ist der eine Punkt, der andere: Es gibt ganz viel tolle neue deutsche Kleinbrauereien. Was die aber machen, ist, typische American-Style-Biere zu brauen: IPA, Pale Ale, Double IPA, all diese Sachen. In Amerika brauchen wir das nicht – und wenn es noch so toll ist. Wir haben 50.000 IPAs hier. Diese kleinen Brauereien müssten eine eigene Identität kreieren. Nachbacken ist einfach, etwas Neues zu kreieren ist enorm schwierig. Es ist leider so: Dem deutschen Bier fehlt der Bezug zu der kulinarischen Welt, von der ich eben sprach. Ich weiß auch nicht, wie man das ändern könnte, das wäre wahrscheinlich eine große, gemeinsame Anstrengung.
Die Fragen stellte Uwe Ebbinghaus.
***
Matthias Neidhart, in Baden-Württemberg geboren, gilt mit seinem Unternehmen B. United International als bedeutendster Importeur für europäische und deutsche Spezialbiere in den Vereinigten Staaten.