Im Fußball ist Belgien seit Jahrzehnten ein Geheimtipp. Beim Bier – ja, was ist es da? Anhaltende Inspirationsquelle, das glatte Gegenteil von Deutschland? Ein Gespräch mit dem Bierübersetzer Frank Geeraers.
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F.A.Z.: Sie sind Belgier und leben als Übersetzer, unter anderem für Bierimporteure, in Freiburg. Wie sehr fehlt Ihnen in Deutschland belgisches Bier?
Frank Geeraers: Ich lebe bald fast mein ganzes bewusstes Biertrinkleben, seit Anfang 20, in Deutschland. Belgisches Bier hat mir erst gefehlt, als ich vor etwa zehn Jahren für längere Zeit in Stuttgart gewohnt habe, wo ein Kahlschlag der Bierkultur stattgefunden hat. Im Schwäbischen habe ich zum ersten Mal eine Berufung als Vorzeigebelgier gespürt und angefangen, für den eigenen Gebrauch und für Besucher Lieblingsbiere und Biere mit Wiedererkennungswert aus der Heimat zu importieren.
Sie haben auf der Bier-Bewertungsplattform „Ratebeer“ inzwischen mehrere tausend Biere getestet. Warum macht man das?
Ja, fast 5000. Damit gehöre ich zu den eher kleinen Fischen, die dort eine Art Biertagebuch führen. Es gibt Besessene, die die Bierbewertung sehr sportlich sehen, sie kommen oft aus dem IT-Bereich oder den exakten Wissenschaften und pflegen ein erotisches Verhältnis zu Excel-ähnlichen Tabellen. Auf Bierfestivals sind sie mit einem Mobilgerät unterwegs, mit dem sie Bierproben auf die Schnelle live testen können. Sie sind dadurch kaum ansprechbar und wirken eher wie Pokemon-Go-Jäger. Für mich ist das Bierbeschreiben eher eine „emotion recollected in tranquility“, wie es William Wordsworth mal in Bezug auf die romantische Poesie ausgedrückt hat. Mir macht es Spaß, anschließend zu Hause darüber nachzudenken, was ich da eigentlich getrunken habe. Was konnte das Bier mir mitteilen?
Sie sind seit sechs Jahren dabei, damit kommen Sie am Tag auf zwei bis drei Biere.
Ja, wenn man es umlegt. Am Montag und Dienstag trinke ich meistens nichts. Unter der Woche nehme ich mir oft Zeit für ein paar „Arbeitsbiere“, die in aller Ruhe getestet werden. Und am Wochenende gibt es öfter mal sogenannte Bottle-Shares, wo man mit fünf, sechs Leuten ein paar Flaschen der kaum mehr zu bewältigenden Neuerscheinungen oder Kellerschätze teilt, die man alleine nicht köpfen mag. Oder man geht zu Festivals, auf denen man vielleicht zwanzig 15cl-Pröbchen trinkt, auch um mit den Brauern ins Gespräch zu kommen – da kommt dann schon etwas zusammen.
Die Bestnoten haben Sie hauptsächlich an belgische Biere vergeben.
Ach, das stimmt glaube ich nicht ganz, vielleicht in der Anfangszeit. So etwas kommt zustande, wenn man zum Beispiel ganz stolz ist auf die belgische Sauerbierkultur und findet, jeder, vor allem hier im Südwesten, sollte sie langsam mal kennenlernen. Mit den Jahren reift der Gaumen aber mit und dann lässt man sich gerne auch mal von einem bescheidenen Lagerbier belehren, dass ein subtil-süffiges Bier, zu dem man immer wiederkehren möchte, eine höhere Punktzahl verdient, auch wenn es beim ersten Hinschmecken vielleicht nicht gleich alle Geschmacksknospen umhaut.
Der Brauwissenschaftler Fritz Briem hat in diesem Blog einmal gesagt, die Deutschen müssten wegen ihrer ebenso hochwertigen wie niedrigpreisigen Biere eigentlich den ganzen Tag Freudentänze aufführen. Was fällt Ihnen als Belgier dazu ein – gibt es für Sie solche deutschen Bier-Schnäppchen?
Dazu fällt mir sehr viel ein, weil mich das lokale Denken und Trinken derzeit sehr beschäftigt, und ich froh bin, mir die meisten deutschen Biere noch leisten zu können. Mittlerweile sind selbst die amerikanischen Craftbrauer so weit, Lager-Bier als den „next frontier“ anzusehen. Amerikanische Brauer kommen jetzt massenhaft nach Deutschland und wollen lernen, wie sie gutes, süffiges Lager günstig einbrauen können. Auch im Südwesten kann man vor der Haustür genug solcher Biere entdecken. Ich trinke zum Beispiel gerne von der eher vorsichtigen lokalen Familienbrauerei Ganter hier in Freiburg das „Urtrunk“, ein naturtrübes Pils, das auch durch Tettnanger Aromahopfen wunderbar herb und trotzdem extrem süffig ist. Da kostet die Kiste etwa 17 Euro – es ist eines unserer Hausbiere. Auch das Elzacher Löwen Pils mag ich sehr. Man sollte es mit den Auswüchsen einer importierten Craftbierkultur nicht übertreiben und sich nicht weismachen lassen, dass „drink local“ nur in kleinsten Chargen bewerkstelligt werden kann und der Liter gleich neun Euro kosten muss.
Wie sind die Bierpreise in Belgien?
Die sind auch recht günstig, wenn man bedenkt, welche Alkoholwerte die Biere teilweise aufbringen. Der Eindruck von belgischen Bieren in Deutschland ist etwas verzerrt, weil man jetzt auch in Supermärkten Trappistenbiere bekommt, die gut drei Euro für die 0,33-Flasche kosten. Aber in Belgien sind die meisten Trappisten für maximal 1,50 Euro zu haben. Der Hauptunterschied in Belgien ist die konsumierte Menge. Ich berate auch mal Importeure von deutschen Bieren in Belgien und die sagen: Hier will kein Mensch Bier in Halbliterflaschen – und schon gar nicht von einem Bockbier nach Reinheitsgebot, das schnell mastig wird, weil es so vollmalzig ist. Die vielen heimischen Spezialbiere trinkt man in Belgien mit einer ganz anderen Attitüde – als Aperitif oder zu einem bestimmten Essen wie Rodenbach zu Nordseekrabben. Das zu beobachten macht dann für deutsche Normaltrinker oft einen Kulturschock aus. Bei Verkostungen benutze ich daher gerne den Einstieg: Die beiden gegenseitig unverträglichsten Bierkulturen sind die belgische und die deutsche.
Warum trinken die Belgier so anders?
Historisch wichtig für die belgische Bierkultur war das sogenannte „Vandervelde“-Gesetz von 1919, in dem eine Art Schnaps- und Spirituosenverbot in Bars erlassen wurde. Da haben die Brauer, die bis dahin eher leichte Biere im Stil von englischen Ales und später deutschen Lagerbieren produziert haben, angefangen, auf starke Spezialbiere zu setzen. Von da kommt auch der Anspruch, dass belgisches Bier per se ein gastronomisches Getränk sein soll. Ich kenne das auch von zu Hause, dass man Bier, meist zum Essen, aber nicht als Durstlöscher trinkt. Nach dem Marktgang setzt man sich noch in das Café nebenan und süffelt eine halbe Stunde an einem Trappistenbier herum und beobachtet die Leute. Aber insgesamt werden natürlich auch in Belgien zu 80 bis 90 Prozent schlichte Lagerbiere wie Jupiler oder Stella getrunken, die übrigens schlechter sind als die deutschen. Ich selbst habe auf den belgischen Musikfestivals das Biertrinken gelernt, da gab es zur Auswahl immer ein einfaches Lager – und ein Bier, das ähnlich unschuldig hellgelb aussah, aber Duvel hieß. Als Sechzehnjähriger denkt man zunächst: das ist aber süffig – bei seinen 8,5 Umdrehungen kam es dann aber vor, dass man den Auftritt der Lieblingsband verpasst hat.
Man unterschätzt Duvel, weil es so schlank wirkt.
Vor allem durch den hohen Gehalt an Kohlensäure, durch die Nachgärung und die Zugabe von Zucker entsteht ein sehr schlanker Körper. Diese Schlankheit trotz hohem Alkoholgehalt war für belgische Spezialbiere immer sehr wichtig – bis zu einem Punkt, an dem es mich fast schon ein bisschen nervt, weil man sich irgendwann fragt, ob denn diese extra Alkoholprozente noch von einem aromatischen Mehrwert gedeckt werden.
Was können die deutschen Brauer von den belgischen lernen?
(lacht) Das ist ein heikles Politikum. Darauf kann man auf verschiedene Arten antworten. Eigentlich sehe ich das Verhältnis der beiden Biergroßmächte eher als Dreiecksbeziehung. Direkte Einflüsse gibt es nach den zwei Besatzungswellen mit Kupferbeschlagnahmungen nur noch wenige. Wobei die Mätresse der beiden heutzutage die amerikanische Craftbierkultur ist. Die Deutschen sind wie die Tschechen und Belgier auf ihre eigene Bierkultur fixiert. Wenn aber der große, coole Bruder Vereinigte Staaten belgische Biere massenhaft importiert und an seine Zapfhähne hängt, sind sie schon eher geneigt, mal genauer hinzuschauen. Das ist im Moment der Fall. Wenn zum Beispiel Westvleteren oder Cantillon auf den Ratingplattformen in den Himmel gelobt werden, müssen sie doch auch mal schauen, was dran ist an den mächtigen Trappisten- oder sauren Lambic-Bieren.
Ich würde also nicht von „Lernen“ sprechen, sondern von einer wachsenden Neugierde gegenüber der furchtlosen Mentalität belgischer Brauer. Der belgische Brauer hat sich, gerade bei der offenen Gärung, noch einen Funken von Überraschung und Unkontrolliertheit bewahrt. In Deutschland hingegen dominierte schon früh das Ingenieurstum, das alles kontrollieren will. Das war übrigens auch der Befund der UNESCO-Jury, als sie sich für die belgische und gegen die Aufnahme der deutschen Bierkultur entschieden hat.
In Belgien gäbe es also einen Rest von Wein-Anarchie beim Bier.
In Belgien hat Bier immer schon die Funktion von Wein mittragen müssen. Es gab keinen nennenswerten Weinanbau, und der Wein importiert aus Frankreich war zum Teil historisch belastet. Bier musste also gleich mehrere Funktionen erfüllen.
Was wäre aus Ihrer Sicht ein sinnvoller deutsch-belgischer Gemeinschaftssud?
(lacht) Ich wäre da für alles offen und auf alles gespannt, was noch kommen mag, weil das mein Bierverständnis im Sinne einer europäischen Utopie trifft und sich Craftbrauer sowieso ungern Grenzen setzen. Ich denke, beim Tripel, beim einfachen Blonde Ale und vor allem beim angesagten Saison ist viel zu holen: obergärig hochvergoren, trocken, aber nicht zu hochprozentig, das passt gut zum deutschen Gaumen, der es ansatzweise mit einem besser gehopften und nicht-bananigen Kristallweizen oder spannenderem Pils vergleichen kann. Bei süßeren und stärkeren Bieren wie den heftigen Quadrupel mit über 12% – denke: Schwarzwälder Kirschtorte mit ordentlich Schnaps -, liegt die Einstiegsschwelle bedeutend höher für den deutschen Durchschnittsgaumen.
Das scheint ein wichtiges Thema für Sie zu sein: Traditionsbier contra Craft.
Ich betrachte das Ganze eher kulturwissenschaftlich. Wie die deutsche Klassik das Ideal einer Weltliteratur hatte, entsteht jetzt so etwas wie eine Weltbierkultur, auch gerne eventmäßig aufgeladen im Sinne von „1001 Beers You Must Try Before You Die“. Die Trinkerschaft von heute entwickelt eine Neugierde für die vielen verschiedenen regionalen Bierstile aus aller Welt. In Rom findet jedes Jahr eines der größten Frankenbier-Feste statt, der Veranstalter fährt dafür persönlich im Transporter jedes kleine Kaff von Mönchsambach bis Pegnitz-Leups ab. Auf dem Festival kann man dann um die hundert der besten fränkische Kellerbiere probieren, die man in dieser Breite nirgendwo in Bamberg trinken könnte. Man steht dann dort unter teilweise von weit hergereisten zwanzigjährigen Hipstern, die mehr über die fränkischer Bierkultur wissen als mancher Oberfranke. Das sind für mich als Kulturwissenschaftler und Übersetzer interessante Themen: Wie gelingt es Bieren, den Brückenschlag zwischen verschiedenen europäischen Regionen herzustellen? Ich selbst habe manche Ecken von Deutschland kennengerlernt, die mich ohne die dort ansässigen Biere nicht interessiert hätten. Die Opferpfalz zum Beispiel hätte mich ohne das Zoigl-Bier nicht besonders angezogen. Aber einmal dort, teilt man sich in einer schlichten Wirtschaft in Windischeschenbach mit Ortsansässigen einen Tisch oder stößt auf skandinavische oder italienische Bierfreaks, die sich für die Aromenkomplexität des seltenen, naturbelassenen Bieres begeistern, das nur 2,10 Euro die Halbe kostet. Das ist ein postmodernes Setting wie aus einem Thomas-Pynchon-Roman, aber für mich ist das vor allem gelebtes Europäertum.
Sie sind Philologe und Übersetzer. Wird über Bier in Fachkreisen aus Ihrer Sicht angemessen gesprochen, gerade im Verkostungsumfeld herrscht ja oft eine formelhafte Sprache, die schnell langweilig wird und das Wesentliche oft zu verfehlen scheint?
Das ist eigentlich das Herzstück dessen, woran ich gerade arbeite. Biere und Bierstile bei Verkostungen so mit ihrer regionalen Aura aufzuladen, dass sich jeder eingeladen fühlt und einbringen kann, ohne gleich mit diesem Teku-Glas schwenken und die typischen Diplom-Sommelier-Adjektive draufklatschen zu müssen: Okay, das Hefeweizen hat etwas von Gewürznelke, das IPA etwas von Maracuja und so weiter. Die Deutschen, das muss man schon sagen, steigen gerne auf diese formelhafte Sprache ein. Dabei ist der Diplom-Sommelier-Kurs ein deutscher Sonderweg. Ich versuche bei Verkostungen, erstmal Interesse dafür zu wecken, aus welcher Kultur ein bestimmtes Bier hervorgegangen ist. Die Frage, ob Bier Terroir haben kann wie Wein, ist für mich eine der spannendsten und breit gefächertsten und daher komme ich auch immer wieder auf sie zurück. Warum muss oder darf dieses Bier süßsauer schmecken, wieso so herb? Bei Verkostungskreisen, die in Alter, Geschlecht und vielleicht auch international durchmischt sind, bringt jeder einen anderen Hintergrund oder ein anderes Geschmacksempfinden mit und so entsteht oft eine eigene Dynamik, die Lust aufs Entdecken macht.
Sie haben gerade eine Tour durch das Bamberger Land gemacht – was sind Ihre neuesten Erkenntnisse, die Sie von dieser Reise mitgebracht haben?
Zuerst, dass das Klischee stimmt: In Franken hat wirklich noch fast jedes Dorf sein eigenes Bier. In Hallerndorf oder Litzendorf trinkt man sein herbes „Ungespundetes“ und wenige Kilometer weiter geht der Geschmack wieder in Richtung dunklere, malzigere Kellerbiere. Das finde ich immer schön, wenn die Bierkultur so tief verwurzelt ist, dass sich einfach jeder auskennt. In Belgien sind Brauereien trotz Mittelalter-Abteien-und-Mönche-Marketing nicht mehr so tief in der Kultur verwurzelt, dafür sind die Spezialbiere nach den Weltkriegen zu speziell und schon zu sehr zum Exportfetisch geworden. Die fränkische Bierkultur scheint mir hingegen vor allem eine lokal gelebte, die nicht unbedingt auf weltweite Exportmärkte angewiesen ist, um zu überleben.
Was sind ihre nächsten Pläne, wohin soll ihre nächste Bierreise führen?
Ich möchte öfters mal nach England. Ich habe Verwandte in Sheffield, eine der Hochburgen des Real Ale und dieser typisch britischen, lebhaften Pubkultur. Der belgische Sonderweg bestand bisher darin, einmalig komplexe, oft hochprozentige Biere zu produzieren, die zur gastronomischen Kontemplation einladen. Ich möchte gerne mehr darüber erfahren, wie die Engländer es schaffen, cask ales, bitters und milds trotz maximal vier Alkoholprozent so einzigartig schmecken zu lassen. Was die geringe Kohlensäure und vollmalzige Qualität des Real Ale angeht, gibt es übrigens interessante Berührungsflächen mit dem fränkischen „ungespundeten“ Kellerbier oder sogar mit dem spontanvergorenen Brabanter Lambic. Ich hoffe, dass neben längst wiederentdeckten Slow-Brew-Techniken wie der Holzfasslagerung und dem Hopfenstopfen in der Wiederentdeckung dieses europäischen Kontinuums eine Zukunft für die Craftbierkultur liegen kann.
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Frank Geeraers, Jahrgang 1979, aufgewachsen in Ostflandern. Studium der Anglistik, Germanistik, Vergleichenden Literaturwissenschaft in Gent, Salzburg und Tübingen. Seit 2003 im Ländle: Tübingen, Stuttgart, Freiburg i.B. Arbeit als freier Übersetzer (Niederländisch, Deutsch, Dänisch, Englisch) für europäische Unternehmen, in der akademischen Recherche (neue Berner Humboldt-Ausgabe) und gelegentlich als Copywriter/Verkoster für Brauereien und Bierimporteure. Erweckungserlebnis zum Bierreisenden während einer Reise in die Vereinigten Staaten 2008, Bierverkostungstagebuch auf ratebeer.com als bartlebier seit 2012, @bartlebeer.