Reinheitsgebot

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Das Bier, das nach Pferdedecke riecht

Was beim belgischen Bier als Spezialität gilt, wird in Deutschland als Fehlgeschmack bewertet: das Aroma der Bierhefe Brettanomyces. Der Brauwissenschaftler Mathias Hutzler erklärt, was es mit dem eigenwilligen Pilz auf sich hat.

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© picture allianceMikroskopaufnahme einer herkömmlichen Bierhefe – eine Abbildung der Hefeart “Brettanomyces” findet sich am Ende des Interviews.

 

F.A.Z.: Biere, die mit Brettanomyces-Hefe hergestellt werden, liegen im Trend, woran liegt das?

Mathias Hutzler: Sauerbiere erleben im Zuge der Craft-Beer-Bewegung eine Renaissance. Vor allem belgische Biere, bei denen Brettanomyces eine große Rolle spielt, sind gefragt. Am Anfang der Craft-Bewegung stand eher der Hopfen im Vordergrund, der technologisch leichter zu handhaben ist, weil man ihn beim Würzekochen einfach dazu gibt. Eine Gärung mit Hefe, bei der man verschiedene Organismen wieder aufleben lässt, ist komplizierter. Damit wird jetzt sehr viel experimentiert.

Hat diese neue Beliebtheit auch mit dem Geschmack zu tun, der häufig als „funky“ bezeichnet wird?

Sicher. Brettanomyces-Biere weisen bestimmte Geschmacksnoten auf. Sie werden beschrieben als fruchtig, auch als – wie man im englischen sagt – „barnyard“, sie erinnern an Aromen auf einem Bauernhof. Auch von „nasser Pferdedecke“ ist die Rede, von gewürzartig, blumig, nelkig, lederartig, manchmal auch von medizinisch oder tropisch. Das liegt an den beteiligten Fettsäuren, Fettsäureestern, phenolischen Verbindungen oder Essigsäureestern. Besonders spannend ist: Brettanomyces wird erst aktiv, wenn nichts mehr zu beißen für die Brauerei-Hefen da ist. Brettanomyces ist gemächlich, kommt im Bier oft erst nach dem sechsten oder zehnten Monat zum Tragen und verarbeitet noch jene Restzucker wie Maltoetraose oder Maltopentose, oder andere Dextrine die die anderen nicht verwerten können – und die Hefe wandelt auch Säuren um, die Milchsäure (Laktat) zum Beispiel zu Ethyllaktat. Diese Säure zeichnet sich durch ihr besonders harmonisches Mundgefühl aus. Auch eine Berliner Weiße nach altem Rezept braucht in der Flasche noch einige Monate zur Reifung, dafür ist auch Brettanomyces verantwortlich.

Das führt zu der Frage: Warum ist „Brett“ so beliebt in Lambics und anderen Sauerbieren? Sauer macht er ja nicht in erster Linie.

© privatMathias Hutzler

Richtig, es produziert zwar auch ein wenig Essigsäure, die haben die belgischen Bauer aber gut im Griff. Sie achten darauf, dass nicht zu viel entsteht. Milchsäure wird durch Brett weicher, runder, fruchtiger. Entscheidend für das typische Brett-Aroma sind auch die Ethylaktate. Aber nicht jeder Brett-Stamm ist gleich, das ist sehr individuell, der eine ruft mehr Fruchtaromen hervor, der andere eher die gewürzartigen Komponenten. Jede Brauerei hat ihren eigenen Aroma-Fingerabdruck.

Das ist interessant. Die Aromen, die Sie am Anfang genannt haben, geben ja ein sehr breites Spektrum wieder, sie reichen von fruchtig bis Pferdedecke. Wie kann man trotzdem von einem typischen Brett-Aroma sprechen?

Das Typische ist schon die Fruchtigkeit, das leicht Gewürzartige bis Medizinale. Ausschlaggebend ist der Mix an chemischen Komponenten, also 4-Vinylguaiacol, 4-Vinylphenol, 4-Ethylguaiacol, 4-Ethylphenol, 4-Vinylcatechol, Fettsäureestern, Essigsäureestern, und so weiter. Je nach Stamm dominiert dann eines der Aromen. Das macht die Sache spannend: in welche Richtung geht es? Es gibt aber eine Grundnote, die sehr spezifisch ist. Das ist so ähnlich, wie wenn Sie ins Krankenhaus gehen oder zum Zahnarzt und diesen bestimmten medizinischen Geruch in der Nase haben. Auch verschiedenste Käsesorten einer Kategorie ähneln sich ja im Grundgeruch.

Ist das Besondere an Brettanomyces-Bieren vielleicht, dass sie so fremdartig riechen und schmecken, so wie nichts sonst?

Ja, definitiv. Deswegen macht es auch am meisten Sinn, das Aroma mit einem Mikroorganismus zu beschreiben. Nur er verursacht diesen Flavourmix, kein anderer Organismus erzeugt den.

Ist die Assoziation bei Brettanomyces-Bieren nicht auch eine bestimmte Spritzigkeit? Wenn man zum Beispiel ein Orval trinkt oder ein St. Bernardus 8, die haben wenig gemein, trotzdem meint man im Prickeln eine Gemeinsamkeit zu erkennen.

Das ist dadurch erklärbar, dass die Brettanomyces-Hefe das letzte Glied in der Fermentationskette, der Gärungsreihenfolge ist. Sie kommt am Schluss und verwertet, was noch übrig ist. Je mehr Mikroorganismen schon verstoffwechselt haben, je mehr bereits weggeknabbert ist von der Matrix, desto höher ist der Vergärungsgrad, wie wir Brauer es nennen. Es sind dann viel weniger Zucker und Kohlenhydrate vorhanden. Die Vollmundigkeit des Bieres verschlankt sich. Und wenn die Matrix schlanker ist, wirkt die Kohlensäure auch stärker. Die Rezenz, das Prickeln der Kohlensäure, geht in Richtung Sekt. Und natürlich produziert Brettanomyces auch noch zusätzliche Kohlensäure. Ein normales Bier hat etwa 5 Gramm Kohlensäure pro Liter, ein Brettanomyces-Bier, das meist auch eine höhere Stammwürze hat, also mehr Ausgangszucker, hat circa 7 bis 9 Gramm Kohlensäure pro Liter.

Woher kommt der Name “Brettanomyces” – er deutet auf England, wird aber heute hauptsächlich mit Belgien assoziiert?

1904 wurde von Niels Hjelte Claussen ein Hefepilz in der Carlsberg Brauerei Kopenhagen isoliert, der für die Nachgärung bei englischen Bieren verantwortlich gemacht wurde. Deswegen wurde er als „Brettano“ (für Britannien) „-myces“ (für Hefepilz) bezeichnet. Später, in den zwanziger Jahren hat man den Pilz in der Brüsseler Gegend häufig aus Lambic-Bieren isoliert. Deshalb hat man an den Namen ein „bruxellensis“ gehängt. Dadurch hat er zwei örtliche Bezeichnungen im Namen. Es gibt auch noch einen Brettanomyces “anomalus”, einen „nanus“ und eine „naadelensis“. Die letzten beiden spielen bei Bieren keine Rolle. Den „anomalus“ hingegen kann man auch oft in Spontanfermentationen finden, er ergibt aber oft einen unrunderen Geschmack, weist medizinale Noten auf und ist gefürchtet als Bierkontaminante, noch gefürchteter als „bruxellensis“.

Warum ist Brettanomyces in Brauereien ohne Sauer- oder Spezialbierproduktion so gefürchtet?

Der Pilz ergibt ungewollt einen Geschmack, den wir oben beschrieben haben und den man aus Lambics kennt. Das ist natürlich nicht gesundheitsgefährdend, wird aber als Beeinträchtigung des Produkts wahrgenommen, als Geschmack, der nicht der Verbrauchererwartung oder dem Biertyp entspricht. Bei Pilsner oder Hellen Bieren verursacht Brett darüber hinaus eine Nachtrübung. Außerdem kann durch Übervergärung zusätzliches CO2 gebildet werden, das Bier ist dann spritziger als man es haben möchte. Davon abgesehen schmecken manche dieser kontaminierten Biere aber richtig gut.

Wie kann es zu solch einer ungewollten Kontamination kommen?

Meistens durch Bierreste, die irgendwo hingelangen, wo sie nicht sein sollen. So wird zum Beispiel durch ein defektes Ventil oder eine kaputte Leitung Bier in die Kohlendioxid-Leitung gelenkt. Dieser Bierrest gammelt vor sich hin, und wenn Brettanomyces-Hefen in der Nähe sind, setzen sie sich an und vermehren sich. Wenn das Ergebnis jetzt zurück ins System gelangt, hat man eine Kontamination. Das Ganze hat viel mit Hygiene zu tun, war daher früher, zu Zeiten von Holzbottichen, ein weit größeres Problem als heute.

Kommen solche Kontaminationen häufig vor?

In meinem Labor haben wir tausend Brauereien und Getränkehersteller als Kunden, und wir haben circa fünf bis zehn Brettanomyces-Kontaminationen im Jahr. So selten ist es nicht. Die meisten Brettanomyces-Herde werden aber in den Brauereien ausgemacht, bevor sie ins Produkt durchschlagen können. Da gibt es viele Kontrollmechanismen.

Aufpassen muss man auf Brettanomyces also auch, weil unterschiedlichste Hefen überall herumschwirren und sich vermehren, wenn sie ein bestimmtes Umfeld finden?

Ja, Hefen sitzen zum Beispiel auf Insekten, Tieren allgemein, auf Blütenpollen, auf Bäumen, Moosen, Flechten, sie können auch einfach auf Partikeln am Boden haften. Je mehr Umweltkontakt eine Brauerei hat, gerade auf dem Land, im Herbst, wenn die Früchte von den Bäumen fallen, wenn die ganze Biomasse unter dem Einfluss von Organismen steht und vor sich hin gärt, desto mehr kommt sie in Kontakt mit Hefen. Da reicht dann eine Fruchtfliege auf einem Bierrest oder einem Holzpartikel, um die Vermehrung in Gang zu setzen. Daher gibt es in vielen Füllereien Luftfilter. Die Abfüllung des Biers auf Flaschen ist der kritischste Punkt, daher versucht man, so sauber und hygienisch wie möglich zu arbeiten.

Wie geht man vor, wenn ein System tatsächlich kontaminiert ist?

Man muss die Quelle finden und eventuell technisch beheben. Der Rest des Systems muss intensiv gereinigt werden, mit Lauge und Säure, gegebenenfalls mehrfach. Im schlimmsten Fall, wenn alte Maschinen nicht mehr richtig funktionieren oder ähnliches, muss man komplett umbauen.

Mikrobiologisch gesehen der Schwachpunkt einer jeden Brauerei: die Flaschenabfüllung.

Eine Kontamination ist also sehr unangenehm, aber handhabbar?

Ja, genau. Wichtig ist immer, die Ursache zu finden. Was bei Brettanomyces-Hefen heikel ist: Sie sind sehr langsam wachsend. So kann es passieren, dass sie einem bei der mikrobiologischen Kontrolle zunächst durch die Lappen gehen.

Sie sagten eben, kontaminierte Biere schmeckten manchmal richtig gut.

Ja, wir hatten schon Kontaminationen, da dachte man: Oh, das könnte jetzt auch ein tolles belgisches Bier sein.

Was passte gut zusammen?

Wir hatten schon Weizenbiere, deren würzig-fruchtiges Grundaroma hervorragend mit Brettanomyces zusammenpasste. Die betroffenen Lagerbiere schmeckten meist wie Weizenbiere mit einem besonderen Touch. Zum Teil sehr interessant. Wenn man es allerdings mit Brettanomyces anomalus zu tun hat, ergibt sich ein anderes Bild. Dann gehen die Aromen oft in den medizinalen Bereich bis hin zu verbranntem Plastik. Das ist zum Teil ungenießbar.

Warum gibt es in Deutschland so wenige „Brett“-Biere? Der Einsatz von Brettanomyces widerspricht ja nicht grundsätzlich dem Reinheitsgebot oder der Biergesetzgebung.

In Deutschland ist es so: Bei untergärigem Bier (z. B. Pilsener, Helles, Lager) darf man nur untergärige Hefe einsetzen, Brettanomyces ist per se ausgeschlossen. Bei den obergärigen Bieren fällt der überwiegende Anteil auf Weizenbiere, bei denen wäre es wohl so, dass der Konsument Brettanomyces als Fehlaroma wahrnehmen würde. Wir haben also nur wenige Spezialbiere, in denen Brettanomyces drin ist. In Deutschland handelt es sich fast ausschließlich um die Berliner Weiße. Es gibt aber auch einige Craft-Brauer, die zum Beispiel belgische Biere mit Brettanomyces nachbrauen. Es kann aber natürlich sein, dass sich die ein oder andere Brauerei in Zukunft mit Brettanomyces-Spezialbieren einen Namen macht. Das wird spannend.

Bei obergärigen Spezialbieren stünde dem nichts im Wege?

Da gibt es keine direkte Richtlinie. Es heißt, für obergärige Biere muss man obergärige Hefen einsetzen, für untergärige Biere untergärige Hefen. Untergärige Hefen sind genetisch betrachtet ganz anders als obergärige. Die beiden sind ganz klar abgrenzbar. Obergärige Hefen gehören zu den Saccharomyces cerevisiae, das ist bei den meisten deutschen obergärigen Bieren die Haupthefe, also bei Weizenbier, Kölsch und Altbier. Es hat aber immer Spezialbiere gegeben, bei denen neben Saccharomyces cerevisiae auch Brettanomyces bruxellensis, Torulaspora delbrueckii, Hanseniaspora uvarum, Debaryomyces hansenii und andere Hefen vertreten waren. Unsere Meinung am Institut ist, dass diese Hefearten aus historischer Sicht auch bei obergärigen Spezialbieren eingesetzt werden dürfen und damit dem Reinheitsgebot entsprechen.

© TU MünchenMikroskopische Aufnahmen (Polarisationsmikroskopie 1000fache Vergrößerung) von ovalen und länglichen Zellen der Hefeart Brettanomyces bruxellensis.

Ist Brettanomyces denn eindeutig eine obergärige Hefe – oder liegt sie irgendwo dazwischen?

Wenn man „ober- und untergärig“ auf der Grundlage des Einsatzes im Braubereich definiert, also anhand der Gär-Temperatur und des Absetzverhaltens, nach oben oder unten, ist die Brettanomyces-Hefe obergärig. Sie kann nicht bei so niedrigen Temperaturen wie die untergärige Hefe arbeiten, also bei 6 bis 8 Grad Celsius.

Warum kennen Sie sich als deutscher Brauwissenschaftler so gut aus mit Brettanomyces?

Ich bin am „Forschungszentrum Weihenstephan für Brau- und Lebensmittelqualität“ Leiter von zwei Abteilungen, einmal des Hefezentrums, dort verkaufen wir an Brauereien weltweit Hefereinkulturen, und in diesem Zusammenhang haben wir schon viele Forschungsprojekte durchgeführt, um diese Hefen besser zu charakterisieren. Meine zweite Abteilung ist die Mikrobiologie, da begutachten wir im Jahr circa 15.000 Proben aus Brauereien weltweit, die wir auf Kontaminationen hin analysieren. Anschließend geben wir Ratschläge zur Behebung.

Wie sehen Brettanomyces-Hefen eigentlich unter dem Mikroskop aus?

Sie sehen stark anders als Brauereikulturhefen  aus. Untergärige Hefen sind eher rundlich-oval und haben eine sogenannte Schultersprossung, seitlich treten Tochterzellen hervor. Brettanomyces ist eher schlauchförmig, zylindrisch, länger. Die Sprossung findet nicht nur oben, sondern auch zur Seite statt. Stand der Technik sind aber eigentlich DNA-basierte Methoden zur Erkennung.

Sind Brauereien auch deshalb so zurückhaltend mit Brettanomyces, weil die Sicherheitsmaßnahmen sehr kostenintensiv sind?

Ja, wirtschaftlich gesehen entsteht ein erheblicher Mehraufwand, weil man die Standardbiere nicht kontaminieren darf. Für bestehende Brauereien ist das eine Herausforderung. Es gibt aber viele, die in einem abgegrenzten Bereich ihrer Brauerei experimentieren. Am besten ist, wenn man die unterschiedlichen Hefewege beim Neubau einer Brauerei gleich mitberücksichtigen und komplett voneinander trennen kann. Oder man braut nur Brettanomyces-Bier, wie viele belgische Brauereien.

Die Fragen stellte Uwe Ebbinghaus.

 

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Mathias Hutzler

Geboren 1978 in Regensburg. Studium des Studienganges Technologie und Biotechnologie der Technische Universität München, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Technologie der Brauerei II (Prof. Geiger), Technische Universität München, Weihenstephan. 2009 Abschluss der Promotion. Titel der Dissertation: “Entwicklung und Optimierung von Methoden zur Identifizierung und Differenzierung von getränkerelevanten Hefen”. Seit 2009 Abteilungsleiter der Abteilungen Mikrobiologie und Hefezentrum des Forschungszentrum Weihenstephan für Brau- und Lebensmittelqualität der TU München (Prof. Jacob). Seit 2013 Lehrbeauftragter für die Fächer „mikrobielle Biodiversität des Brauprozesses“ und „Bierinhaltsstoffe und Humanphysiologie“ am Fachgebiet Brauwesen (Prof. Methner) der TU Berlin.