Für Bierkenner gibt es nichts Öderes als das Oktoberfest. Doch jetzt mischt ein neues Weißbier-Gütesiegel München auf – und nach 130 Jahren Exklusivclub könnte eine siebte Brauerei die Wiesn erobern.
***
Es war ein denkwürdiger Auftritt am Vortag der Wiesn-Eröffnung. Da standen die Inhaber dreier namhafter Weißbierbrauereien – Georg Schneider VI., Werner Brombach von Erdinger Weißbräu und Jeff Maisel von der Brauerei Gebr. Maisel – im Stammhaus von Schneider Weisse im Münchner Tal gemeinsam auf der Wirtshausbühne und warben, obwohl sie eigentlich Konkurrenten sind, vor Presseleuten für ein neues, von ihnen selbst eingeführtes Weißbier-Gütesiegel. Es trägt die Aufschrift „Bayerische Edelreifung“, betont damit den Umstand, dass das Bier dieser drei Brauereien, statt nach der ersten Gärung pasteurisiert und abgefüllt zu werden, ein zweites Mal mit frischer Hefe und Getreidesaft (Würze) versorgt wird, bevor es in der Flasche oder im Fass weiter gelagert wird.
Jetzt könnte man als Außenstehender fragen: Warum der Aufwand, dieses traditionelle Verfahren mit einem selbst kreierten Siegel öffentlich hervorzuheben? Entweder man schmeckt die Mehrarbeit der drei Brauereien, dann werden die Kunden ihre Produkte kaufen und ihnen treu bleiben – oder eben nicht. Warum sollte man im Falle nicht allzu großer Geschmacksunterschiede zugreifen? Werner Brombach vom Marktführer Erdinger machte in seinem Podiumsstatement bei der Vorstellung des „Edelreifungs“-Siegels die besondere „Verträglichkeit“ der nach diesem Verfahren gebrauten Biere geltend, sie ist aber wohl, wie die „Bekömmlichkeit“, ein schwer zu fassender Begriff. Und ob ein doppelt gereiftes Bier den Kopf tatsächlich klarer hält, wer wollte das medizinisch belegen?
Dies zu behaupten war aber nicht die Intention des Auftritts der Weißbier-Traditionsbetriebe am Vortag des Oktoberfests. Es handelte sich um einen symbolischen Akt. Deutlich gemacht werden sollte wohl, dass gutes Bier, welches sich nicht bis in den letzten Rationalisierungsschritt hinein der Industrie unterwirft, seinen Preis hat (der in den letzten Monaten übrigens recht unbemerkt ganz ordentlich gestiegen ist). Und mehr als das. Denn möglicherweise ist es gar nicht so viel kostenintensiver, ein Bier zwei Mal reifen zu lassen, wenn man im Gegenzug auf die recht teure Pasteurisierung, die vor allem in den reinen Industriebrauereien üblich ist, verzichten kann. Das Geld, das man durch Weglassen der Pasteurisierung spart, wird allerdings in menschliche Arbeit und Geschmackskontrolle gesteckt, was dem Kunden grundsätzlich sympathisch sein sollte. Sehr bemerkenswert, dass die drei Traditionsbrauer die Lage in Zeiten nachlassenden Bierkonsums als so ernst ansehen, dass sie über ein natürliches Konkurrenzdenken hinaus ein Zeichen für handwerkliches Bier und ein Brauen, das Geschichte bewahrt, setzen zu müssen glaubten.
Von einem nachlassenden Bierkonsum in Deutschland war freilich einen Tag später nichts mehr zu spüren in der Stadt. München war wie immer im späten September pickepackevoll mit durstigen Menschen aller Zungen. Man hätte wohl noch den gesamten Viktualienmarkt mit Bierbrunnen pflastern können, und die Nachfrage hätte nicht befriedigt werden können. Fast kann man den Eindruck gewinnen, mit dem Sterben so vieler Gasthöfe und Kneipen in Deutschland werde das Biertrinken in traditionellen Kontexten und zu bestimmten Anlässen zu einem größeren Event als je zuvor. Zur Wiesn-Eröffnung am Wochenende kamen dann bei bestem Wetter 200.000 Besucher mehr als im letzten Jahr.
Ein neues “Münchner Bier” – Brauereibesuch bei Giesinger
Von einem eigenen Zelt auf der Theresienwiese können Georg Schneider (dessen Vorfahren bereits eines besaßen, wegen empfindlicher Kriegsschäden aber 1945 von München nach Kelheim ausweichen mussten), Werner Brombach aus Erding und Jeff Maisel aus Bayreuth nur träumen. Denn Voraussetzung dafür wäre, dass sie ein „Münchner Bier“ produzierten und damit einer geschützten geographischen Angabe entsprächen, die unter anderem dadurch definiert ist, dass sämtliche Verarbeitungsschritte in den Grenzen der Stadt München durchgeführt werden und das Wasser aus einem Brunnen stammt, der bis zu 250 Meter tief zum Tertiär-Wasserspiegel in der Münchner Schotterebene hinabführt.
Dieses Kriterium traf zuletzt nur noch auf die Brauereien Augustiner, Spaten, Staatliches Hofbräuhaus, Paulaner, Hacker-Pschorr und Löwenbräu zu. Jetzt aber darf noch eine siebte Brauerei, die sich bisher – wie so viele in Deutschland – aus der städtischen Wasserversorgung speist, einen Brunnen auf Münchner Gebiet graben: die kleine Brauerei Giesinger, die kurz davor steht, eine zweite Produktionsstätte im Stadtteil Feldmoching/Lerchenau zu eröffnen.
An einem bautechnischen Vorstoß zugunsten einer möglichen Wiesn-Teilhabe hat sich seit 1889 keine Münchner Brauerei mehr herangetraut. Und Giesinger Bräu, das sich mit einem Ausstoß von zwölftausend Hektolitern im vergangenen Jahr schon als zweitgrößte Privatbrauerei Münchens (nach Augustiner mit 1,5 Million Hektoliter) bezeichnen darf, kann sich die Brunnenbohrung für 700.000 Euro wohl nur erlauben, weil die typische Statdtteilbrauerei seit Jahren in großen Schritten ihre Kapazität steigert – in den letzten fünf Jahren wurde der Ausstoß verzehnfacht – und eines der erfolgreichsten Crowdfunding-Unternehmen Deutschlands ist. Mit den auf diese Weise eingenommenen fast zwei Millionen Euro konnte die Brauerei bisher zwanzig Prozent aller Investitionen bestreiten.
Alles begann mit einer Garagenbrauerei in Untergiesing, Brauereigründung war 2005. Neun Jahre später erfolgte der Umzug in das für fünf Millionen Euro umgebaute frühere Umspannwerk in Obergiesing, direkt gegenüber der Heilig-Kreuz-Kirche, die auch das Etikett ziert.
Der Stadtteil Giesing hat sich den Charme des früheren Arbeiterviertels bewahrt, ist eher „Löwen“ als „FC Bayern“ und hat in der von Steffen Marx gegründeten Kleinbrauerei schnell eine Gegenkultur zum Großbrauereiwesen von Paulaner und Co. gefunden.
Betritt man das Giesinger Anwesen, meint man auf dem alles verbindenden Hof in einen Bienenschwarm geraten zu sein. Da fahren Autos vor, um an einer sehr urigen Rampe Bierkästen für den Feierabend zu verladen, später kommt eine Hochzeitsgesellschaft hinzu, die in der angrenzenden lichten Schänke mit eigener Bühne feiert. Die Brauerei grenzt direkt an ein Bräustüberl mit großem Balkon, in dem Dauerbetrieb herrscht. Und zwischen all diesen Koordinaten saust der Chef herum, Steffen Marx, ein sehr humorvoller früherer Berufssoldat aus Mecklenburg-Vorpommern. Er schleppt Kästen, faltet Servietten, sorgt für gute Laune und beantwortet Fragen zu den Wiesn-Plänen.
Geschäftsführer Marx, ein Zahlenmensch, ist zu klug, um seine Ambition derzeit an die ganz große Glocke zu hängen. Er weiß, dass er sich an die Mitgliedschaft im exklusiven Verein Münchener Brauereien erst herantasten muss, auch wenn dieser durch den Einfluss der Schörghuber-Gruppe und Heinekens auf Paulaner und Hacker-Pschorr, den von Anheuser-Busch InBev auf die Spaten-Löwenbräu-Gruppe und den des Staates auf Hofbräu allerdings so zünftemäßig münchnerisch, wie er sich darstellt, längst nicht mehr ist. Und Marx ist auch klar, dass Ausstoß und Kapazität seiner Brauerei noch nicht ausreichen, um bisher auch nur ein kleines Zelt auf der Wiesn zu versorgen, in dem normalerweise innerhalb von zwei Wochen locker tausend Hektoliter über die Theke gehen. Aber das wird sich mit dem neuen Werk in Lerchenau ändern, das die Kapazität vervierfacht. Marx rechnet vor, dass für eine entsprechende Steigerung des Ausstoßes in den nächsten Jahren schon ein Marktanteil von ein bis zwei Prozent in München ausreichen würde.
Die Biere geben das allemal her. Neben der sehr süffigen, trüb-goldenen „Erhellung“ gibt es ein sehr gutes Dunkles, Märzen, Pils und Weißbier, allesamt nicht pasteurisiert und nicht stabilisiert. Hinzu kommt ein erstaunliches Craftbier-Programm – mit einem Red Ale, das wunderbar-fruchtig nach roten Beeren schmeckt, einem interessanten Triple, bei dem man sich fragt, ob man gerne noch länger der Hefe nachgeschmeckt hätte, bevor der Hopfen durchdringt, und auch der untergärige Bock „Munique“ oder das Doppel-Alt erreichen eine geschmackliche Tiefe, die man in dieser Breite selten in einer Brauerei erlebt. Zurückzuführen ist das auf den in Weihenstephan ausgebildeten Braumeister Simon Rossmann, einen originellen Kopf, der im Gespräch sehr differenziert, geradezu philosophisch argumentiert.
Ein außergewöhnliches Teamdenken wird bei Giesinger greifbar, eine gute Laune abseits vom immer auch bedrückenden Massentourismus auf der Wiesn. Giesingers Underdog-Image, kombiniert mit hervorragender Bierqualität und einem gehörigen Zukunftsoptimismus kontrastiert so auf erfrischende Weise mit einer in München in Bierbelangen kaum noch steigerungsfähigen Abgrenzungstendenz.
Soll man Giesinger das Oktoberfest wünschen? Fest steht, dass die Brauereien auf der Wiesn längst nicht so viel wie die Wirte verdienen. Die Brauereien partizipieren vor allem vom Imagegewinn, der im Falle Giesinger mit einer kaum vorauszusehenden Steigerung der Nachfrage verbunden sein dürfte.
Bei Giesinger kostet die Mass „Erhellung“ momentan im Zuge der Aktion “Bierpreisbremse” nur 5,90 Euro. Auf der Wiesn müssten sie sich da schon mehr einfallen lassen, am besten etwas, das den in Sachen Bier festgefahrenen Laden „Oktoberfest“ ein wenig aufmischt, ohne dass sich das sympathische Graswurzel-Projekt dabei verbiegt.