An der Gastronomie hängen viele Arbeitsplätze und Sehnsüchte. Jetzt darf sie in der Corona-Krise wieder öffnen. Wie gut kann sie sich nach der Ischgl-Lektion berappeln? Ein Spaziergang durch Deutschlands Bierhauptstadt.
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Eine Reise nach Bamberg ist dieser Tage ein trauriges Unterfangen. Schon die Hinfahrt in die Bierhauptstadt Deutschlands ist ungemütlich. Im kaum gefüllten Regionalzug von Würzburg überprüft die Polizei geflissentlich, ob der von den Fahrgästen angelegte Mund-Nase-Schutz auch tatsächlich über letztere reicht. Eine Sitznachbarin mit umgewickeltem Schal muss sich anhören: „Nicht über die Ohren, über die Nase!“
Nach dem Ausstieg am Hauptbahnhof, auf dem Weg zu Bambergs ältestem Gasthaus, kann man wieder frei atmen. Dafür sind die Bürgersteige in der Luitpoldstraße stellenweise verstopft. Vor den Schnellrestaurants mit Außer-Haus-Verkauf haben sich kleine Schlangen gebildet. Die Kunden halten den Sicherheitsabstand von 1,5 Metern so einigermaßen ein, aber wer überprüft hier eigentlich so regelmäßig wie in der Bahn, ob die Hygieneregeln in der Küche und beim Verkauf eingehalten werden? Welcher Kunde könnte auch nur einige dieser Regeln aufzählen? Der Einkauf ist hier reine Vertrauenssache, und davon gibt es offenbar eine Menge in Bamberg – und nicht nur dort.
Eine Schlange auch vor dem Kiosk am Schönleinsplatz, nur das Sternla direkt um die Ecke mit seiner schmalen rosafarbenen Außenfassade und dem riesigen Dach darüber, in dem sich noch das Gebälk des 14. Jahrhunderts befindet, ist geschlossen, seit sieben Wochen. An der Tür hängt ein Zettel mit einer Mobilnummer für Anlieferer.
Wir sind mit Uwe Steinmetz verabredet, Wirt im Sternla seit 1999, Besitzer seit 2008. Ein Brauer-Lehrling öffnet die Tür und führt uns in den Schalander, den Pausenraum der erst im letzten Jahr eröffneten schmucken Hausbrauerei im Obergeschoss. In Maßarbeit wurde hier eine 750-Liter-Anlage mit 10 Lagertanks in das Gebäude eingepasst.
Steinmetz, ein ideenreicher, immer gut gelaunter Vollblutwirt, hat mit einem Mal wieder viel zu tun. Mit der Eröffnung der Gastronomie hatte er eigentlich erst „nach Pfingsten“ gerechnet, die Ischgl-Lektion schien in der bayerischen Politik gehörig nachzuwirken. Doch dann verkündete Söder, der sich am Vortag noch skeptisch gezeigt hatte, in einer Pressekonferenz unerwartet die Öffnung der Gastronomie in knapp zwei Wochen. Wenige Minuten später wurden im Sternla bereits die ersten Tische für den 18. Mai reserviert, den Tag, an dem die Außenflächen in Bayern öffnen dürfen. Ein Stammkunde hat sich gleich von 11 bis 20 Uhr einen Tisch gesichert, über die gesamte erlaubte Öffnungszeit. Er werde sich dort anketten, sagte er spaßeshalber am Telefon. Aber wird er mit seinen Kumpels in gewohnter Stärke Platz nehmen können? Fragen wie diese sind noch offen – und so wird es wohl auch noch eine Weile bleiben.
Das Sternla ist mit Kurzarbeit und Notbetrieb einigermaßen durch die letzten Wochen gekommen. „Wir haben in Bamberg null an Motivation verloren“, sagt Uwe Steinmetz, der kurz nach der Investition in die Brauerei erhebliche finanzielle Verluste hinzunehmen hat. Immerhin konnte er jede Woche mindestens einen Kessel Bier brauen und die Vorräte mit seinem umgebauten Löschwagen in der Stadt und über Land verkaufen. Zudem hat er aus einem offenen Gasthausfenster hinaus wöchentlich knapp tausend Literflaschen über die Fensterbank gereicht – auch Seidla (Halbliterkrüge) mit Bier direkt aus dem Hahn für 80 Cent und Fünfliterfässer für 20 Euro waren zu bekommen, dazu fränkische Gögerla (Hähnchen).
Und da es in Bamberg für ziemlich alles, was man mit Bier machen kann, schon einen Namen gibt, oft mit einem „-la“ hintendran, musste man mit dem Direktverkauf nur an die alte Tradition des „Fensterla“ erinnern. Natürlich kann man in Corona-Zeiten einfacher und günstiger an sein Bier kommen, die Bamberger aber kamen wohl auch, um einen Tribut an das Sternla und die Zukunft ihrer Stammkneipe zu entrichten.
Vom Schalander ziehen wir ins Wirtshaus um, wo die Leitungen der Brauerei direkt in die Zapfanlage münden. Auf den Tischen zur Fensterseite stehen schon wieder Hunderte Flaschen für den nächsten Verkaufstag bereit.
Ganz schön kalt ist es in dem Gastraum, der vor Corona immer schon um 11 Uhr mit Leben gefüllt war. Dort hat sich Uwe Steinmetz gerade mit Hans Wächtler getroffen, einem befreundeten Braumeister und IHK-Dozenten, der auch Servicekräfte und Sommeliers ausbildet. Die beiden haben darüber nachgedacht, wie die zu erwartenden Hygieneauflagen am besten zu erfüllen sind. Wächtler, ein staatlich geprüfter Getränketechniker, ist der Meinung, eine Öffnung der Gastronomie in der Corona-Krise ergebe langfristig nur Sinn, wenn ein absolut sicheres Hygienekonzept dahinter stehe. Ihn hat erstaunt, dass die betroffenen Verbände in dem wochenlangen Dornröschenschlaf der Gastronomie nicht schon die wichtigsten Detailfragen geklärt haben. „Ich verstehe auch nicht, dass die Politik entsprechende Sondermaßnahmen nicht schon längst von den zuständigen Ämtern und Behörden eingefordert hat.“ Die im Umlauf befindlichen Hygienepläne von Dehoga und Brauerbund seien ja tadellos, nur berücksichtigten sie nicht die besondere Situation einer Pandemie.
Im Moment warten alle Wirte auf eine Verordnung des Ministeriums. Fast alle Detailfragen, die über künftigen Öffnungszeiten oder die Maskenpflicht hinausgehen, sind noch offen. Dabei müssten aus Wächtlers Sicht, um den Corona-Virus in Schach zu halten, über die gängigen Hygienepläne hinaus nur einige Kleinigkeiten umgesetzt werden.
Wächtler denkt an ein Zwei-Kreislauf-System. Inspiriert von den Hygienekonzepten der Krankenhäuser soll es auch in Gaststätten einen „reinen Weg“ geben, auf dem die Bestellung aufgenommen, der Gast betreut und Essen und Bier gebracht wird (die Speisekarten hängen an der Wand, die Bestellungen werden elektronisch übermittelt). Flankiert wird der „reine Weg“ von einem „unreinen“, der aus dem Abräumen von Gläsern, Geschirr, Besteck und dem Kassieren besteht. Beide Wege werden von unterschiedlichen Personen abgedeckt. Mit einem speziellen, farbverändernden Sprühgel kann regelmäßig überprüft werden, ob sich nach der Reinigung noch organische Verschmutzungen am Glas oder auf dem Teller befinden. Das Gel wird dann einfach abgewaschen.
Das Sternla ist kürzlich auf eine Spülmaschine umgestiegen, in der die Gläser auf mehr als 80 Grad erhitzt werden, das überlebt das Virus nicht. In Österreich und der Schweiz sind diese Maschinen bereits verpflichtend. Wie aber verhält es sich künftig in den vielen deutschen Gasthäusern, die noch mit kaltem Wasser spülen? Genügen hier Chlorspülmittel, um die Corona-Hygiene zu gewährleisten?
Frisch vom Zwickel serviert Uwe Steinmetz das erste Pils des Sternla, eine mit der Hopfensorte Hüll Melon gestopfte Aromabombe, die auf etwa 40 Bittereinheiten kommt – etwas verspielt, aber sehr verführerisch. Daneben wird ein Zwickel mit klarer Zitronennote ausgeschenkt, hoch vergoren und mit betonter „drinkability“. Am besten verkauft sich bisher das kraftvolle Export. Für eine Überraschung sorgt das erfrischende Schwarzbier, in dem man die besten Weyermann-Malze und schönste Kaffeenoten riecht. Um die Zukunft muss dem Sternla bei diesen Bieren nicht bange sein, die Zukunft muss jetzt nur noch mitspielen.
Für Steinmetz gibt es jetzt noch eine Menge zu tun. Desinfektionsmittelspender werden aufgehängt, zusätzliche Automaten mit Einmalhandtüchern installiert, die das Öffnen der Toilettentüren ohne direkte Berührung ermöglichen. Außerdem hat Steinmetz eine Großbestellung Plexiglas aufgegeben – für die Theke, aber vielleicht auch zur Abtrennung der Wirtshaustische. Wobei für ihn jeder Schritt von dem Gedanken geleitet wird, dass der Gast sich, umringt von Hygienemaßnahmen, noch wohlfühlen muss.
Reservieren kann man im Sternla und überall sonst momentan nur Tische, ohne zu wissen, wer sich bei der Eröffnung alles daran niederlassen darf. Welche Kontaktbegrenzungen werden bis dahin genau aufgehoben, wie verteilt man Einzelpersonen? Wird es Mindestzahlen geben? Wie ist es mit dem Rücken-an-Rücken-Sitzen, das in der Bahn zum Beispiel längst erlaubt ist?
Die Frage, ob sich die Wiedereröffnung für die Wirte lohnt, tritt zunächst noch in den Hintergrund – Betriebe, die Kurzarbeit angemeldet haben, müssen öffnen. Doch rechnen Experten mit einem weiteren Wirtshaussterben in Folge der Corona-Krise, von mehr als 20 Prozent ist die Rede.
Vom Sternla ziehen wir weiter zum Schlenkerla in der Dominikanerstraße, Bambergs Bierinstitution schlechthin zu Füßen des Doms. Gerade hat Matthias Trum, Bräu in sechster Familiengeneration, die Tür zum Wirtshaus einen Spalt weit aufgestoßen, bleiben schon die ersten Passanten stehen und erkundigen sich nach dem Zeitpunkt der Wiedereröffnung. Wer das Schlenkerla im normalen Betrieb mit seiner unbeschreiblichen Mischung aus Touristenströmen und einheimischen Stammkunden kennt, staunt über die gespenstische Stille in den Räumen des früheren Franziskanerklosters, die nur von Trums Kindern durchbrochen wird. Doch die Gaststube zeigt auch eine besondere Schönheit an diesem Tag.
Matthias Trum muss für das über mehrere Gebäude zusammengewachsene Areal des Schlenkerla keine Pacht zahlen, mit Kurzarbeit, Reparaturen und Wartungen hat er den Betrieb am Leben gehalten. Das Supermarktgeschäft hat leicht zugenommen, ebenso wie der Flaschenverkauf in der Brauerei am Oberen Stephansberg. Der Export ist zurückgegangen, aus dem nach dem Shutdown unverkäuflichen Bier in den Holzfässern hat er Bierbrand erzeugt. Um den Gerstensaft in den Lagertanks musste er sich keine Sorgen machen, er wird täglich besser.
Trum wirkt gelassen in der angespannten Situation. Das Schlenkerla hat schon andere Krisen überstanden. Mit den Geschichten über den Wiederaufbau nach dem Krieg ist er groß geworden. Jetzt sieht der Mittvierziger seine eigene Generation am Zug, die, wie er sagt, noch nichts Schlimmes erlebt hat. Eine unbequeme Frage beschäftigt Trum allerdings schon: Wie wird sich die Bierkultur, die für ihn eine „Geselligkeitsgeschichte“ ist, durch die neuen Distanzgebote verändern?
Wir verlassen das Schlenkerla in Richtung Bahnhof. Auf der Kettenbrücke ist an diesem sonnigen Tag viel los, mit gekühlten Flaschen aus der Bierothek prostet man sich von Sitzbank zu Sitzbank zu, und ein älterer Herr ruft einem anderen entgegen: „Am 25. macht das Schlenkerla auf, dann öffnet ihr bestimmt auch wieder.“ Das hört sich dann fast nach Švejks Verabredung “nach dem Krieg um halb sechs im Kelch!“. Irgendwie beruhigend. Bleibt zu hoffen, dass man in der verwickelten Corona-Situation nicht zu voreilig war, dass alle mitspielen und das Ergebnis noch Spaß macht.
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Ein anderes berühmtes deutsches Traditionslokal, der Uerige in Düsseldorf, darf sogar schon am kommenden Montag öffnen. Erfahren hat das der Besitzer, Micheal Schnitzler, erst am Mittwoch. Auch er warte noch auf eine Verordnung aus dem Ministerium, sagt er am Telefon. Auch er hat mehr an Supermärkte verkauft, aus seinen Bierresten hat er unterdessen Desinfektionsmittel gebrannt, die Schlange vor seinem Flaschenverkauf wurde immer länger. Eine Gastronomie ohne Nähe – ja, das könne eine Zeitlang funktionieren, dann aber müssten alle wieder zu der direkten Ansprache finden, für die der Uerige so geliebt wird. Schnitzler wird den Neustart ruhig angehen lassen, die neue hygienebedingte Logistik müsse sich erst einspielen, die Köbesse sich an die neue Situation gewöhnen. Das Wichtigste aber sei, dass die Infektionszahlen in der nordrhein-westfälischen Hauptstadt so ermutigend blieben wie zuletzt.