Biopolitik

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Zwischenergebnisse für Zwitter: Ärzte müssen umdenken

Hermaphroditen kannte man in der Antike; Zwitter hießen Menschen, die sich nicht in das Zwei-Geschlechter-Schema pressen ließen im Allgemeinen Preußischen...

Hermaphroditen kannte man in der Antike; Zwitter hießen Menschen, die sich nicht in das Zwei-Geschlechter-Schema pressen ließen im Allgemeinen Preußischen Landrecht, heute nennen sich viele von ihnen selbst Intersexuelle. Die aufgeschlossene Fraktion der scientific community, die sich mit dem Thema befasst, spricht technokratisch-neutral von DSD (wie Disorder of Sex Development wobei das von den Betroffenen gerügte „Disorder“ sprachlich eigenwillig akzentuierend übersetzt wird: Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung).

So unklar die Sprachregelung ist, so eindeutig war bis vor kurzem für Ärzte die Behandlungsstrategie: möglichst frühzeitig und konsequent wurde dem Kind, das weder eindeutig männlich, noch eindeutig weiblich war, ein Geschlecht zugewiesen. Und es wurde operiert, so gut oder nicht gut es ging: Scheidenplastiken, Klitorisentfernung oder -Beschneidung, Gonadektomie oder Kastration. Die Folgen waren verheerend. Wer es den Betroffenen, die sich seit Jahren über die Behandlungen empören, nicht glaubt, kann es jetzt bei den Expertinnen und Experten nachlesen.  Das «Netzwerk DSD/Intersexualität» ist eines von zehn bundesweiten Netzwerken für seltene Erkrankungen und wird seit 2003 vom BMBF finanziell gefördert. Jetzt hat es die ersten Auswertungen der weltweit größten klinischen Evaluationsstudie über die Behandlung von Intersexuellen im Internet veröffentlicht: Bericht für Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer und für Eltern.  Fast 81% aller Studienteilnehmer und -teilnehmerinnen wurden demnach mindestens einmal im Zusammenhang mit ihrer besonderen Geschlechtsentwicklung operiert, überwiegend vor der Einschulung. Die Zufriedenheit mit der Behandlung ist bei intersexuellen Erwachsenen und auch Eltern intersexueller Kinder minimal: „gering“ ist das Prädikat, das sie verleihen. Eltern beurteilen die behandelnden Ärzte und Ärztinnen deutlich schlechter als Eltern von Kindern mit anderen chronischen Erkrankungen. Ein „zentrales Ergebnis“ der Studie ist, dass sich insbesondere bei Intersexuellen, die operativ und hormonell dem weiblichen Geschlecht zugewiesen wurden, „in den Bereichen allgemeine Lebensqualität, psychische und körperliche Gesundheit deutliche Unterschiede zur Vergleichsgruppe“ finden.

Die Studienergebnisse zeigen auch, daß die psychische Gesundheit von intersexuellen Erwachsenen deutlich schlechter ist: „Insgesamt sind bei 45%, also fast der Hälfte der von uns untersuchten Erwachsenen psychische Probleme vorhanden, hierbei bestehen keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen.“ Auch für Jugendliche ist die Lage schwierig und die Behandlungsstrategien haben daran nichts verbessert, möglicherweise aber etwas verschlechtert.  „Über Dreiviertel der Jugendlichen zwischen 13 und 16 Jahren mit DSD hat keinen festen Freund oder feste Freundin. Über 75% haben bisher keine Erfahrungen mit Petting und 90% gaben an, noch keinen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Außerdem berichten Dreiviertel der Jugendlichen, sich noch nie selbst befriedigt zu haben.“ Bei nicht intersexuellen Jugendlichen sind der Studie zufolge die Verhältnisse gerade umgekehrt.

Diese weltweit größte empirische Studie über die wenig erfolgreichen Behandlungen bei Zwittern wurde durch viele Intersexuelle unterstützt. Im Blog „zwischengeschlecht“ gibt es aber auch Kritik an den Ergebnissen und ihrer Auswertung: „Dass sich evtl. Proband_innen nicht als ‚Mann‘ oder ‚Frau‘, sondern z.B. als ‚Zwitter‘ identifizieren könnten, wird meist gar nicht erst in Betracht gezogen, in diese Richtung weisende Feststellungen werden tunlichst vermieden.“