Biopolitik

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Menschenrechte nachts und leise – aber die Behinderten sind aufgewacht

Es war spät in der Nacht am Donnerstag (4. Dezember), die Bundestagsabgeordneten hatten schon über alle schwierigen Fragen des Lebens (z.B. das Gesetz...

Es war spät in der Nacht am Donnerstag (4. Dezember), die Bundestagsabgeordneten hatten schon über alle schwierigen Fragen des Lebens (z.B. das Gesetz zur Reform der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung) hinreichend viel gesagt, da legte Bundestagsvizepräsident Thierse den Abgeordneten nochmal rasch ein paar Menschenrechte vor: alle, die zustimmen wollen, sollen aufstehen … so wurde das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ vom bundesdeutschen Gesetzgeber in der Art einer  Standup-Politics aufrecht aber schweigend ratifiziert. Die Überzeugungsredner, die noch was zu sagen hatten, konnten ihre Rede zu Protokoll (ab)geben. Der programmatisch pathetisch überschriebene Antrag der Bündnisgrünen „Die historische Chance des VN-Abkommen nutzen“ wurde folgerichtig mit den Stimmen der großen Koalition gegen die Koalition der Kleinen (die FDP enthielt sich) und auch ohne ein weiteres gesprochenes Wort abgelehnt.

Angesichts der Tatsache, dass die Bundesregierung selbst das Menschenrechtsübereinkommen für Behinderte als Meilenstein der internationalen Menschenrechtspolitik beurteilte, eine bemerkenswerte Beiläufigkeit, die sich aber auch im Ratifizierungsgesetz findet. Dort heißt es lapidar „durch das Gesetz entsteht kein weiterer Vollzugsaufwand“ – die Menschenrechtspolitik, heißt das, soll  kostenneutral bleiben.

Bei den Behindertenverbänden, den Initiativen vor Ort und auch im Institut für Menschenrechte, das die Entwicklung dieses Übereinkommens mit Engagement begleitet hat, sieht man das anders: Immerhin ist Ziel des Übereinkommens die Schaffung einer barrierefreien, teilhabeorientierten und  durch Inklusion geprägten Gesellschaft, ein Ziel von dem die Bundesrepublik in vielen Bereichen, insbesondere aber im Bildungswesen weit entfernt ist – ein Dilemma, das der Bundestag mit einer das Ratifizierungsgesetz ergänzenden Resolution, anerkannt hat, möglicherweise mit dem Hintergedanken, dass Bildung ja in erster Linie etwas ist, deren Kosten die Länder zu tragen haben.

Tatsächlich birgt das nunmehr ratifizierte Menschenrechts-Übereinkommen mit seinen 50 Artikeln erhebliche Brisanz in sich, ist es doch der erste Rechtstext, der die Lebensverhältnisse von Menschen mit Behinderungen umfassend ins Visier nimmt: Vom Arbeitsleben bis zum Zur-Verfügung-Stellen geeigneter Hilfsmittel wird alles abgedeckt. Die bislang in Deutschland verabschiedeten Gleichstellungs- und Gleichbehandlungsgesetze, Kommunikationshilfeverordnungen, bau- oder schulrechtlichen Regelungen erfassen dagegen stets nur einen schmalen Ausschnitt – und suchen dafür oftmals zudem eher vorsichtige Lösungen.

Das Menschenrechtsübereinkommen bezieht zudem, selbst in der entschärften deutschen Übersetzung, in vielerlei Hinsicht klare und entschiedene Positionen – ein Grund, weswegen die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände bei der Anhörung nicht in die allgemeine Begeisterung einstimmte, sondern zu bedenken gab, ob damit nicht die „Überregulierung im deutschen Behindertenrecht“ verschärft würde.

Während die Arbeitgeber also immerhin damit rechnen, dass Ansprüche auf sie zukommen, könnte es andere kalt erwischen, weil ihnen offenbar nicht klar ist, wie weit das neue Übereinkommen reicht. Beispielsweise könnte sich die CDU/CSU-Fraktion in der Debatte über Spätabtreibung, die am 18. Dezember stattfinden wird, Unterstützung für ihren von SPD und Bündnisgrünen eher ungeliebten Antrag aus dem Konventionstext holen, der in Artikel 8 „Bewusstseinsbildung“ verlangt und die Vertragsstaaten verpflichtet, Kampagnen einzuleiten und dauerhaft durchzuführen, mit dem Ziel „eine positive Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen und eine größeres gesellschaftliches Bewusstsein ihnen gegenüber zu fördern.“ Das genau nämlich soll die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung nach dem Willen der konservativen Parlamentarierinnen und Parlamentarier künftig mit Blick auf Schwangerschaften und deren gezielten Abbruch wegen der Behinderung eines Fötus‘ künftig tun.

In der biomedizinischen Debatte dürfte das neue Menschenrechtsübereinkommen auch sonst noch für einigen Ungemach sorgen. In Artikel 15 verlangt es – damit in offenem Gegensatz zu Artikel 17 des europäischen, von der Bundesrepublik allerdings nicht gezeichneten Menschenrechtsübereinkommens zu Biomedizin – dass ausnahmslos niemand ohne seine freiwillige Zustimmung medizinischen oder wissenschaftlichen Versuchen unterworfen werden darf.

Auch für die Debatte um Patientenverfügungen und um Sterbehilfe hat das Übereinkommen in Artikel 25 eine bemerkenswerte Passage bereit, die verlangt, dass die Vertragsstaaten „die diskriminierende Vorenthaltung von Gesundheitsversorgung oder -leistungen oder von Nahrungsmitteln und Flüssigkeiten aufgrund von Behinderungen (verhindern).“ Was für den Menschen mit Patientenverfügung nicht viel heißen wird, kann bei schwerstbehinderten Menschen, die selbst nicht über ihre Behandlung verfügt haben, erhebliche Konsequenzen haben: Wachkoma-Patienten beispielsweise oder Menschen mit fortgeschrittener Demenz sollte eingedenk dieser Regelung ohne ausdrücklichen, wirksam formulierten Wunsch die Sondennahrung oder Antibiotika-Therapie einer Lungenentzündung kaum vorenthalten werden können.

Wir werden also aller Voraussicht nach von diesem Vertragswerk, das im Gegensatz zum deutschen Sozialhilferecht auch die stationäre Pflege im Heim von Menschen gegen deren Willen untersagt, in Zukunft mehr zu hören bekommen, als in dieser späten Nacht der Verabschiedung des entsprechenden Ratifizierungsgesetzes.