Biopolitik

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Prost Neujahr! Auf bessere Pflege 2009?

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Vor zwei Tagen ist die Mutter einer guten Freundin gestorben. Es war, wie man so sagt, ein guter Tod: Die fast 90 Jahre alte Frau war zu Hause, ihre Familie war...

Vor zwei Tagen ist die Mutter einer guten Freundin gestorben. Es war, wie man so sagt, ein guter Tod: Die fast 90 Jahre alte Frau war zu Hause, ihre Familie war bei ihr, sie litt keine Schmerzen. Die meisten Menschen, wenn sie gefragt werden, sagen, sie wollten genau so sterben. Sehr viel seltener wird gefragt, wie die Menschen die Zeit bis zu ihrem Tod leben wollen. Frau S. war seit langem dement, ein paar Jahre lang hatte sie im Heim gelebt, war dort offensichtlich unglücklich, so dass die Familie sich schließlich entschlossen hat, sie nach Hause zu holen. Zu Hause musste sie regelmäßig fixiert werden: Sie war unruhig, ging sonst im Nachthemd auf Wanderung. Während freiheitsentziehende Maßnahmen im Pflegheim richterlich genehmigt werden müssen, können Betreuer, meistens sind das dann die Kinder, ihre Eltern zu Hause ohne jede Kontrolle fixieren, wenn Sie es für erforderlich halten.

Die Pflege hatten Pflegekräfte aus Polen übernommen, nur so war die erforderliche Rund-um-die-Uhr-Versorgung auf Dauer zu finanzieren, ohne dass – mit allen Konsequenzen, die das gehabt hätte – das Sozialamt eingreifen musste: Die Gelder aus der Pflegeversicherung reichen für eine so umfangreiche Versorgung allenfalls als Zuschuss.

Trotz des Versuchs die Pflege extrem kostengünstig zu organisieren und obwohl Frau S. während ihres Arbeitslebens gut verdient und Rücklagen gebildet hatte, ging das Geld allmählich zur Neige. Hätte Sie noch ein Jahre länger gelebt, wäre der Weg zum Sozialamt wohl unvermeidlich gewesen. Wäre sie zuvor länger im Heim geblieben, hätte sie schon viel früher finanziell aufgeben müssen.

Eine Familie, die einen pflegebedürftigen Angehörigen hat (oder sogar mehrere), hat ein beträchtliches soziales Problem: der erforderliche persönliche und fürsorgliche Einsatz kostet Zeit, psychische und physische Kraft; sie muss sich aber mindestens so dringlich mit den finanziellen Konsequenzen dieser Situation auseinandersetzen.

Und die pflegebedürftigen Menschen, die Familien haben, sind noch verhältnismäßig gut dran. Was ist mit kinderlosen Singles, die pflegebedürftig werden? Um die sich niemand kümmert, die für diesen Ernstfall nicht vorgesorgt haben oder, warum auch immer, nicht vorsorgen konnten? 2008 war das Jahr der großen Pflegeversicherungsreform. Von den großen Problemen der Pflege ist dabei kein einziges gelöst worden. Weder ist die finanzielle Absicherung der Pflege gelungen, noch ist in den Blick genommen worden, dass es bei Pflege um mehr (und anderes) geht, als darum, morgens und abends zu füttern und zu waschen. Der Kriterienkatalog, mit dessen Hilfe die etwa 10.500 Pflegeheime, die es in Deutschland gibt, ab 2009 bewertet werden sollen, zeigt zwar Ansatzpunkte: wie die Pflegeheime angesichts ihrer Rahmenbedingungen den qualitativen Sprung nach vorne schaffen sollen, wird dadurch aber gerade nicht deutlich. Vor allem wird eine bessere Pflege, die mehr den Charakter einer Assistenz haben müsste, nicht durch Bewertungspunkte in Kriterienkatalogen begründet. Dass gerade auch Pflege aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen und sein muss, ist von Politik und Rechtsprechung, aber auch in der Gesellschaft heute nicht anerkannt. Noch irrritierender erscheint mir, dass auch kaum darüber geredet wird –   wenn die Pflege nicht gerade zum Skandal wird, Mißhandlungsfälle in Pflegeheimen in die Schlagzeilen kommen oder das geldträchtige Wirken einer Pflegemafia an den Pranger gestellt werden kann.

Gute Vorsätze zum Neuen Jahr? Kaum jemand wird sich darunter vorstellen, auch einmal darüber nachzudenken, wie man leben möchte, wenn man vieles nicht mehr selber machen kann (das Sektglas mit den eigenen Händen schwenken zum Beispiel). Aber wer, dem Geist der Zeit folgend, 2009 seine Patientenverfügung machen möchte, sollte vielleicht auch darüber nachdenken, wie er die Wochen, Monate, vielleicht auch Jahre davor verbringen möchte – und was er oder sie heute schon tun muss, damit das gelingen kann.

Nachtrag: In der Post der Kanzlei, für die ich arbeite, wenn ich gerade keine Blogs schreibe, liegt eine Todesanzeige. Der 46jährige, schwerstpflegebedürftige Mandant ist kurz vor Weihnachten gestorben. Drei Tage zuvor hatten wir noch Termin vor dem Sozialgericht. Seine Klage richtete sich gegen das Sozialamt, das ihm die seit langem begehrte Aufstockung der Pflege von 12 auf 16 Stunden am Tag nicht bewilligen wollte. Der Mandant konnte kein Glas alleine hochheben und nicht einmal die Fernbedienung selbstständig bedienen. 12 Stunden alleine, bewegungslos im Bett liegen fand das Sozialamt nicht unangemessen. Sonst, so hieß es, müsse er halt ins Heim gehen (wo er natürlich nicht mehr Versorgung bekommen würde, aber die dann fürs Sozialamt kostengünstiger). „Gekämpft – Gehofft – Erlöst“ hat die Familie die Todesanzeige überschrieben. Erlöst – wovon? Auf jeden Fall wohl von seinem individuellen Pflegenotstand.

 

 

 


1 Lesermeinung

  1. Wolfgang sagt:

    Alle Artikel über Pflege oder...
    Alle Artikel über Pflege oder Pflegeheime sowie über das Sterben und Leiden von Angehörigen sind in der Regel ähnlich. Den Heimen geht es in erste Linie ums Geld.
    Bei den staatlichen Stellen ist man Bittsteller und mit seinen Sorgen und Ängsten ist man oft alleine. Auch wenn es jetzt mehr Geld für die Pflege gibt, so ist das immer noch völlig unzureichend.

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