Drei ärztliche Gutachter haben innerhalb eines Jahres den Pflegebedarf von Jonas ermittelt. Der erste war der Auffassung, der geistig behinderte junge Mann benötige 69 Minuten Grundpflege täglich. Nach einer Beschwerde kam der zweite, bei ansonsten unveränderten Bedingungen, auf einen Pflegebedarf von 93 Minuten täglich. Im Gerichtsverfahren vor dem Sozialgericht – übrigens gar nicht so weit vom Tegernsee entfernt – ermittelte der dritte Gutachter dann doch einen Grund-Pflegebedarf von 113 Minuten am Tag. Zu Jonas Ziel, in Pflegestufe 2 eingestuft zu werden, fehlten damit aber immer noch sieben Minuten – ein Klacks sollte man meinen, angesichts der 44 Minuten, die zuvor, einfach durch wiederholte Begutachtung, schon erreicht werden konnten – aber wen wundert es: an den letzten sieben Minuten scheitern die meisten Verfahren dieser Art. So auch das von Jonas. Das Gericht zeigte sich vom Einwand, dass die Zeitwerte offenbar recht beliebig seien, nicht beeindruckt und sah keinen weiteren Aufklärungsbedarf. Das Privatgutachten, das jetzt noch hätte helfen können, war für Jonas aber nicht zu bezahlen.
Gerade die Art von Pflege, oder nennen wir es besser: Assistenz, die Menschen mit geistigen Behinderungen oder Demenzen benötigen, wird im Pflegeversicherungsesetz (SGB XI) kaum abgedeckt – weswegen das Bundessozialgericht vor etlichen Jahren einmal darüber sinnierte, ob das nicht verfassungswidrig sei, dann aber doch so grundsätzlich nicht werden wollte und auf die Einsichtsfähigkeit des Gesetzgebers hoffte.
Zu recht, könnte man meinen, wenn man dieser Tage die Seiten des Bundesgesundheitsministeriums aufruft und dort den 158 Seiten starken Bericht zur Überprüfung des Pflegebegriffs vorfindet. Den überaus gründlichen und materialreichen Bericht hat im Auftrag des Bundesgesundheitsministerium ein aus honorigen Experten bestehender Beirat erarbeitet. Die ersten Reaktionen der Pflegekassen und der Organisationen der Kommunen auf die Veröffentlichung fielen positiv aus, vielleicht müsste man besser sagen erleichtert: „praxistauglich.“ Der Beirat hat sich nämlich strikt an seinen mit vielen Anführungszeichen versehenen Arbeitsauftrag gehalten:
„Die Überarbeitung des geltenden Pflegebedürftigkeitsbegriffs muss aus Sicht des Bundesgesundheitsministeriums „Akzeptanzprobleme“ bei den Versicherten ebenso wie „Finanzierungsrisiken“ für die Pflegeversicherung vermeiden. Unter der Prämisse, dass die Pflegeversicherung auch in der Zu-kunft ein „Kernsicherungssystem“ bleibt, kann und soll sie auch zukünftig nicht den gesamten Hilfebedarf pflegebedürftiger und alter Menschen übernehmen und finanzieren.Daher umfasste der Auftrag insbesondere auch die Beantwortung der Frage,wie sich die Änderung vor allem finanziell auf die Pflegeversicherung und/oder andere Sozialleistungsbereiche auswirkt.“
Die Umsetzung des neuen Pflegebegriffes, anders ist das kaum zu verstehen, darf also nicht mehr oder zumindest nicht viel mehr kosten… (weswegen in diesem Blog auch die Kosten im Vordergrund stehen sollen). Mit seinem Vorschlag hat der Beirat seine Pflicht getan, oder, im sozialrechtstypischen Juristendeutsch etwas gestelzter formuliert:
„Der Beirat stellt fest, dass es möglich ist, auf der gegebenen gesetzlichen Basis unter bestimmten Bedingungen einen Lösungsvorschlag zu erarbeiten, der dem gegenwärtigen Leistungsvolumen weitgehend entspricht. Insofern sieht der Beirat, ohne damit eine Vorentscheidung treffen zu wollen, seinen Auftrag als erfüllt an.“
Der Trick ist einfach und wird im Bericht des Beirats anhand von fünf Szenarien schnell durchgerechnet: Ab welchem Schwellenwert kommt jemand in die nächste der insgesamt fünf Bedarfsstufen. Und: Was für Leistungen erhält er dann? Im für die Kostenträger schlimmsten Fall errechnen die Autoren des Berichts Mehrkosten von 3,4 Milliarden EURO, es geht aber bei Bedarf auch kostenneutral.
Zurück zu Jonas: Wenn er, und mit ihm viele anderen Menschen mit geistigen Behinderungen, künftig mehr Leistungen bekommen sollten, weil er statt in der alten Pflegestufe 1 mit etwas Glück künftig in Bedarfsstufe 3 landet, müssen die Gelder dafür irgendwoher kommen. Aber woher?
Die Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt möchte die Pflegeversicherung künftig als Bürgerversicherung mit einem Beitragssatz von 1,95 Prozent ausgestalten, dann, so ist sich die Ministerin sicher, wäre „bis weit ins Jahr 2034″ genug Geld für alles da – was vor allem die Frage aufwirft, wieso eigentlich gerade 2034? Der Paritätische Wohlfahrtsverband und der Sozialverband Deutschlands haben andere (wie mir scheint realistischere) Ahnungen, und warnen davor, dass es keine „reinen Umschichtungen“ geben dürfte. Dazu passt auch die Mahnung des Beirats, dass es für Menschen, die heute schon Leistungen beziehen, Bestandsschutz geben müsse.
Der Beirat erwist sich in seinem Gutachten zudem auch selbst als kreativ und stellt Leistungen zur Disposition, die gerade erst mit dem neuen Pflegeversicherungs-Weiterentwicklungsgesetz eingeführt worden sind: Es geht dabei um zusätzliche Betreuungskosten, die Pflegeheime für die Betreuung von Bewohnern mit Demenzen erhalten sollen, wenn sie dafür Pflegeassistenten beschäftigen (eine angesichts der konkreten Ausgestaltung ohnehin umstrittene Maßnahme, deren denkbare Folgen hier sehr anschaulich beschrieben werden) ; außerdem geht es um zusätzliche Betreuungskosten, die für die ambulante Versorgung von Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen geltend gemacht werden können.
So, zum neuen Pflegebegriff selbst habe ich jetzt noch gar nichts geschrieben. Das wird den Beirat nicht überraschen, hat er in seinem Bericht doch schon freundlich vorweggenommen, dass die Materie so komplex ist, dass sie den Medien kaum verständlich zu machen sein wird:
„Die Arbeitsgruppe sieht die sich hieraus ergebenden Schwierigkeiten, die nicht nur darin bestehen werden, das neue Begutachtungsassessment den Medien zu vermitteln, sondern die sich auch auf die Entscheidung durch die Verwaltung und den Rechtsschutz auswirken.“
Aber weil ich ehrgeizig genug bin, dem Beirat zu widerlegen, folgt hier demnächst ein Blog zum neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff selbst. Schließlich muss auch der Rechtsschutz für Jonas sichergestellt werden, wenn er auch nach der nächsten Reform des SGB XI nicht mehr Leistungen erhalten sollte, als heute…