Ein Sozialwissenschaftler, drei Ärzte, fünf Juristen – auch wenn es bei der Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am Mittwoch um Patientenverfügungen geht, steht doch offenbar in erster Linie ein Gesetz auf der Tagesordnung, und wer hat dazu in erster Linie etwas zu sagen? Ach ja, neun von den neun Experten sind Männer, kein einziger ist transexuell, keiner Zwitter, keiner Frau; benannt ist aber auch kein Muslim, kein Hindu, keine Behinderte, keine Patientin, kein Psychologe, kein Seelsorger (welcher Konfession auch immer), vermutlich ist keiner der Experten in der GKV pflichtversichert (natürlich haben auch beihilfeberechtigte, privatversicherte Beamte Probleme, aber doch etwas anders). Patientenverfügungen sollen individuell sein, das Selbstbestimmungsrecht sichern, aber die Zusammensetzung der Expertenrunde für die Anhörung zeigt ein anderes, recht wenig durch Diversity geprägtes Bild unserer Gesellschaft. Das ist deswegen nicht ganz nebensächlich, weil die Gesetzentwürfe, die dort verhandelt werden, gravierende Auswirkungen auf die medizinische Versorgung schwerstkranker und behinderter, armer und etwas weniger armer Menschen haben werden – insbesondere wenn, wie in zwei der drei Entwürfen vorgesehen, der mutmaßliche Wille mit dem in der Patientenverfügung geäußerten Willen gleichgesetzt werden. Das ermöglicht Entscheidungen über den Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung zu treffen, die natürlich – wie bewußt oder unbewußt auch immer – von wirtschaftlichen Motiven (mit)geprägt sein werden.Vor allem ändert es aber auch den Blick auf die Notwendigkeit medizinischer Maßnahmen und den Sinn eines bestimmten Behandlungsangebotes insgesamt. Wenn allerorten Patientenverfügungen verfasst werden, die ein Weiterleben im Zustand des sogenannten Wachkomas – unter dem sich viele Menschen wenig vorstellen können – ausschließen, dann wird das auf mittlere Sicht Auswirkungen auf die Rehabilitations- und Pflegeangebote in diesem Bereich haben, dann wird das auch die Bereitschaft der Sozialämter beeeinflussen, hier erhebliche Kosten in eine gute, individuelle Pflege zu investieren.
In den USA ist daher die Patientenverfügung in erster Linie ein Instrument der gutsituierten weißen Mittelklasse, Latinos und Schwarze sind weitaus zurückhaltender, weil sie wenig Anlaß haben, sich vor medizinischer Überversorgung zu fürchten, dagegen einigen Grund haben sich Sorge zu machen, dass Patientenverfügungen auch unerwünschte Begrenzungen von Behandlungsmaßnahmen legitimieren könnten. Dass in der deutschen Debatte, die just in der Phase so richtig in Gang kommt, da Rationierungen und Einschränkungen des Leistungsspektrums im Gesundheitswesen an erheblich an Bedeutung gewinnen, diese Aspekte keine Rolle spielen, ist wenig ermutigend.
Dabei geht es nicht darum, das Selbstbestimmungsrecht zugunsten einer abstrakten Sorge vor „Ökonomisierung des Gesundheitswesens“ gleichsam pädagogisierend einzuschränken. Aber es wäre ein Gewinn, wenn gerade in den kritischen Bereichen – insbesondere wenn kein wirklicher Akte der Selbstbestimmung zu beachten ist, sondern nur auf einen „mutmaßlichen Willen“ zurückgegriffen werden kann – mehr Gedanken an Sicherungsmaßnahmen verschwendet werden und nicht mit „Selbstbestimmungs“-Rhetorik alle Bedenken vom Tisch gewischt werden. Es ist in dieser Hinsicht wenig erfreulich, dass kein einziger der Experten auch nur Überlegungen anstellt, wo gesundheitspolitische Gefahren der aktuellen Entwicklung zu entdecken sind (Stefan Sahm ist immerhin der einzige, der wenigstens Bezüge zum Bildungsstand herstellt). Das ist umso unverständlicher, als die Beobachtung der Verhältnisse in den Bereichen stationäre Hospizversorgung oder spezialisierte ambulante Palliativversorgung zeigt, wie selbst dieses Leistungsgeschehen, durch Kostenüberlegungen der die Krankenkassen erheblich nahcteilig beeinflußt wird. Dabei sind beide Leistungsangebote nicht einmal ungewöhnlich kostenträchtig. Dennoch haben die Kassen insbesondere durch ihre Verzögerung der Verträge mit Leistungserbringern dafür gesorgt, dass eine neue Leistung, die die Qualität der medizinischen Versorgung am Lebensende verbessern würde, bislang so gut wie nicht erbracht wird.
In diesem Zusammenhang erscheint mir besonders pikant, dass nicht einmal die Linke, die sonst jedes passende und gern auch unpassende Thema als Anlaß für rhetorische Attacken gegen Neoliberalismus und Deregulierung nutzt, hier den gesundheitspolitischen Zusammenhang komplett ausblendet und sich vorzugsweise für Gesetzentwürfe engagiert, die in dieser Hinsicht recht bedenklich sind (was den Alt-, Spät- und Postsozialisten schon deswegen hätte auffallen können, weil sie hier plötzlich Seit an Seit mit den sonst wenig geliebten Parlamentskollegen der FDP schreiten).
Dass angesichts einer so einseitig auf fachmedizinische und fachjuristische Fragestellungen konzentrierten Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestages nochmal frischer gedanklicher Wind in die Debatte kommt, ist nicht zu erwarten (auch wenn einige der Expertenbeiträge durchaus bedenkenswerte Aspekte erörtern). Das ist bedauerlich, denn man kann nicht guten Gewissens sagen, dass einige der brisanten Probleme der Debatte in der Öffentlichkeit schon angekommen wären. Dass schon seit Jahren diskutiert und gestritten wird hat hier leider zu einer Engführung des Diskurses beigetragen statt ihn zu öffnen….
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