Biopolitik

Spätabbrüche, Selbstbestimmung und Diskriminierung Behinderter

Ziemlich genau vier Jahre ist es her, da fand die letzte Anhörung im Familienausschuss des Deutschen Bundestages zu „Konfliktsituationen während der Schwangerschaft“, insbesondere zum Problem der Spätabtreibungen statt. Die Experten-Anhörung damals dauerte zwei Stunden, an diesem Monatg (16. März 2009) ist sie auf vier Stunden angesetzt. Politische Veränderungen hatte die damalige Anhörung nicht nach sich gezogen – bei bioethischen Fragestellungen tun sich die Abgeordneten schwer, weil die quer zu den Fraktionsgrenzen verlaufenden Konfliktlinien, die zu Gruppenanträgen führen, statt zu Fraktionsanträgen, dem eher starren deutschen Politikverhältnis entgegenlaufen.  Dazu kommt, dass  die Politikerinnen und Politiker besonders zögerlich sind, wenn es an ein Thema geht, das in direktem Zusammenhang mit dem hart erkämpften rechtlichen Kompromiss zumSchwangerschaftsabbruch steht, der 1995 beschlossen wurde (und das grundsötzlich auch zu Recht).

Allerdings steht in den letzten Jahren, wenn es um Spätabbrüche und Schwangerschaftsabbrüche nach der medizinisch-sozialen Indikation geht, gar nicht das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung auf dem Prüfstand. Es hat sich vielmehr gezeigt, dass die im Zuge des damaligen Kompromisses abgeschaffte eugenische Indikation, die einen Abbruch wegen der Behinderung ermöglichte, in einer besonders bedenklichen Form wieder gekehrt ist. Es geht also nicht um das Recht von Frauen, überhaupt eine Schwangerschaft abzubrechen, sondern es geht um die Frage, wie damit umgegangen werden soll, dass in der Schwangerschaft nach Feten mit Behinderungen gefahndet wird, damit diese Schwangerschaften ganz gezielt abgebrochen werden können: „Hauptsache das Kind ist gesund.“ Diese Abbrüche, für die sich die schwangeren Frauen meist kurz nach Bekanntgabe des Untersuchungsergebnisses entscheiden, die noch unter dem Schock eines positiven Befundes (Ihr Kind wird eine Behinderung haben) stehen, erfolgen zudem oft in einem sehr späten Stadium der Schwangerschaft, sowie ohne eine der Schwere des Eingriffs entsprechende gründliche und kenntnisreiche Beratung, die in der Regel auch eine Wartezeit verlangte.

Die Vorschläge, die hier von drei interfraktionellen Gruppen vorgelegt worden sind, werden, das lässt sich jetzt schon sagen, das Problem der Diskriminierung des Lebens von Behinderten im Mutterleib nicht in den Griff bekommen. Das sehen die Autorinnen und Autoren der Gesetzentwürfe vermutlich selbst und möglicherweise wollen sie es auch nicht einmal, denn es macht wenig Sinn, zu versuchen eine Frau, ein Paar, eine Familie zu zwingen, eine Schwangerschaft mit einem behinderten Fötus auszutragen. Aber die drei vorgelegten Gesetzentwürfe streben allesamt an, die Beratungsmöglichkeiten der schwangeren Frauen grundsätzlich zu verbessern und damit auch die Entscheidungen, die getroffenen werden, zu bewußt getroffenen, möglichst gut informierten Entscheidungen zu machen. Dass das ein sinnvoller Ansatz ist, der auch den schwangeren Frauen nützt, machen Untersuchungen deutlich auf die Professorin Jeanne Nicklas-Faust von der Bundesvereinigung Lebenshilfe verweist: Nur 50% der befragten Frauen sagen demnach nach zwei Jahren, dass sie in einer solchen Situation die gleiche Entscheidung treffen würden. Sicher stellt sich die Frage, wie repräsentativ solche Ergebnisse sind – aber das werden wir nur beantworten können, wenn in diesem Bereich mehr geforscht und untersucht wird. Wir benötigen mehr Studien als Statistiken, fordert Jeanne Nicklas-Faust dementsprechend konsequent. 

Dieser Eindruck wird unterstützt von der Stellungnahme von Sybill Schulz vom Berliner Familienplanungszentrum „Balance“, die unter Hinzuziehung niederländischer Quellen darauf hinweist, dass die Zahl von Spätabbrüchen (bei ihr werden Abbrüche nach der 13. Schwangerschaftswoche als Spätabbrüche gewertet) deutlich höher ist, als sich aus den deutschen Statistiken ergibt, da etwa 600 Frauen aus Deutschland einen Abbruch nach der 13. Schwangerschaftswoche in den Niederlanden durchführen lassen (in Deutschland werden nach den Statistiken, auf die Balance zurükgreift etwa 2300 Schwangerschaften nach der 13. Schwangerschaftswoche abgebrochen). Allerdings sagen diese Zahlen weder etwas über den Grund des Abbruchs, noch über die Motivation dafür in die Niederlande zu gehen. Sie zeigen aber, dass hier Klärungsbedarf besteht. Auffällig, aber ebenfalls nur begrenzt aussagekräftig sind die Zahlen, aus den jeweiligen Länderstatistiken, aus denen sich ergibt, dass der Anteil an Spätabbrüchen (nach der 13. SSW) in Deutschland (1,9 Prozent) verglichen mit Großbritannien (11 Prozent), Schweden (5,2 Prozent) aber auch Italien (2,3 Prozent) niedrig ist. Aber auch hier ergibt sich das Problem: Weder besagen diese Zahlen alleine etwas über die Qualität und Vollständigkeit der Erfassung, noch vor allem etwas über die Gründe der jeweiligen Abtreibungen. Dass die Expertin darauf abrät, den Paragraphen 218 StGB zu ändern (was gar nicht vorgeschlagen wird) irritiert ebenso, wie ihr sehr schlicht gehaltener Schluss, mit dem sie sich für eine Beibehaltung der gegenwärtigen Lage ausspricht:

„Wie in anderen Grenzsituationen auch, ist die betroffene Person, allenfalls unterstützt durch erfahrene Fachkräfte, am besten in der Lage, eine verantwortliche Entscheidung zu treffen. Staatliche Einmischung hat fast immer zu negativen oder gar katastrophalen Konsequenzen geführt.“

Das Dilemma ist ja gerade, dass die Unterstützung von „Fachkräften“ viel zu selten erfolgt, dass oftmals nicht die „Fachkräfte“ (für die psychsoziale Beratung) hinzugezogen werden, die die entsprechenden Kompetenzen haben und dass es eben nicht nur um die Lage der Schwangeren als betroffener Person geht, sondern auch um das Schicksal des auszutragenden (behinderten) Kindes.

Immerhin trägt das Familienplanungszentrum Balance in seiner Stellungnahme einige bedenkenwerte Probleme vor (insbesondere, dass oft schon der Schritt, überhaupt eine Pränataldiagnostik durchzuführen die weiteren Schritte vorzeichnet und deswegen hier eine intensivere Beratung vorgelagert sein müsste). Andere Expertinnen, wie vor allem die Kieler Strafrechtsprofessorin Monika Frommel, deren vorwiegend mit Vermutungen, Unterstellungen und verschwörungstheoretisch unterlegten politischen Prognosen gespickter Beitrag zur Anhörung von einer befremdlich eifernden Haltung geprägt ist, blockt dagegen jede Frage nach möglichen Fehlentwicklungen im Bereich der Schwangerschaftsabbrüche überhaupt ab, weil sie dahinter immer nur die Motivation vermutet, dass hart erkämpfte Selbstbestimmungsrecht der Frau zu beschneiden.

Dabei setzen die vorgelegten Gesetzentwürfe nicht einmal bei der Beratungspflicht bei  den Frauen an; sie verpflichten vielmehr die Ärzte, nach einem entsprechenden pränataldiagnostischen Befund eine Beratung durchzuführen und eine psychosoziale Beratung zu empfehlen, eventuell auch Kontakte mit Elterngruppen anzuregen und darüber zu informieren, dass auch das Leben mit einem behinderten Kind Normalität zulässt, dass es etwas besonderes sein kann, auch wenn es in vielfacher Hinsicht belastend ist – oft weniger wegen der Beeinrächtigung des Kindes, als wegen der miserablen sozial-, schul- und gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen, mit denen Familien mit behinderten Kindern und später die heranwachsenden Behinderten selbst zu kämpfen haben. Außerdem verlangen sie, außer in Fällen akuter Bedrohungen der Gesundheit der Schwangeren, dass zwischen Mitteilung des Befundes und Durchführung eines Abbruchs mindestens drei Tage liegen.

Diese Forderung von der Münsteraner Frauengesundheitsforscherin Professorin Irmgard Nippert unterstützt, die auch Autorin einer maßgeblicher internationaler empirischer Studien zu Pränataldiagnostik und sich daraus ergebenden Konsequenzen ist. Nippert weist darauf hin, dass bei Spätabbrüchen die Drei-Tages-Grenze zwar oft überschritten wird, in einem Drittel der Fälle aber nicht erreicht wird.

Bedenklich ist meiner Meinung nach, dass ohne ausreichende Bedenkzeit mehr als ein Viertel aller Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden. Dies sind insbesondere Schwangerschaften, die zwischen null und zwei bis drei Tagen nach Befunderhebung eingeleitet werden. Bei diesen Schwangerschaftsabbrüchen sind vor allem die autosomal-numerischen Chromosomenstörungen vertreten, wie z.B. die Trisomien 21, 18 und 13 (ca. 39% innerhalb der ersten drei Tage). Aus diesem Grund ist die Forderung nach drei Tagen Mindestbedenkzeit unbedingt unterstützenswert.“

Aus Nipperts Untersuchungen ergibt sich auch, dass die psychosoziale Beratung derzeit eine erheblich zu geringe Rolle spielt und dass das direkt nachweisbare Folgen für das Ergebnis der Beratungen hat:

„Qualifiziert beraten (=Überweisung an eine humangenetische Beratungsstelle oder psycho-soziale Beratungsstelle in kommunaler oder kirchlicher Trägerschaft) wurden in o.g. Studie nach Feststellung eines positiven Befundes knapp 18% der Schwangeren. Bei Befunden mit anschließendem Schwangerschaftsabbruch (n=214) wurde die Mehrzahl (56%) der Schwangeren ausschließlich von der behandelnden Frauenärztin/dem behandelnden Frauenarzt informiert bzw. beraten, 22,4% wurden zur genetischen Beratung überwiesen, 1,4% an eine Schwangerenkonfliktberatungsstelle. Bei den verbleibenden ca. 21% fanden interdisziplinäre Konzile (z.B. zusammen mit Ärztinnen/Ärzten für Kinderheilkunde) statt.Diese Daten zeigen, dass abgesehen von der genetischen Beratung, psychosozialen Beratungsstellen kaum eine Rolle spielen.“

Vor allem, wenn nur Ärzte und Ärztinnen beraten, gibt es derzeit auch (haftungs-)rechtliche Probleme, die sich auf die Entscheidungen der Betroffenen auswirken, denn wie sollen die Ärztinnen und Ärzte beraten, solange sie unter dem Druck einer Haftungsrechtsprechung stehen, die zum Teil erhebliche Schadensersatzansprüche zubilligt, wenn ein Kind mit Behinderungen zur Welt kommt, obwohl die Eltern es nicht gewollt haben (was sich unter Umständen erst in einem gerichtlichen Verfahren herausstellt). Professor Gunnard Duttge von der Universität Göttingen resümiert die möglichen praktischen Folgen dieser Rechtsprechung in seinem Beitrag:

„Die Logik dieses einseitig auf das Misslingen der Abtreibung gerichteten Haftungsanspruchs lässt eine ‚Defensivmedizin‘, die bei nicht restlos sicherer Feststellbarkeit eines gesunden Kindes, also schon bei geringen Zweifeln zum Abbruch ‚rät‘, sehr plausibel erscheinen und wird durch wiederholte Berichte aus der Praxis immer wieder bestätigt. Auch erzwingen diese rechtlichen Begleitumstände,für die rechtspolitisch derzeit keine Abhilfe in Sicht ist, den praktizierenden Arzt unausweichlich in einen Interessenkonflikt, der in seiner Relevanz für die jeweilige Beratungspraxis (insbesondere für die betroffene Schwangere) intransparent bleibt.“

Ein eindrucksvolles Resumee der Anhörung, das gesellschaftspolitische Aspekte und grundlegende biopolitische Überlegungen zu den Besonderheiten der Abtreibung nach einem Befund bei der Pränataldiagnose vereint, kann den Beitrag von Jeanne Nicklas-Faust entnommen werden:

„Die besondere Situation bei einem Abbruch aus medizinischer Indikation bei Behinderung des Kindes ist, dass bei erwartetem und erwünschten Kind eine Eigenschaft dazu führt, dass ein Schwangerschaftsabbruch mit Todesfolge für das Kind angestrebt wird. Die Verantwortung hierfür liegt gemäß § 218 bei dem die Indikation stellenden Arzt mit dessen Prognose, dies sei der Mutter nicht ohne schwerwiegende psychische Beeinträchtigung zumutbar und müsse deshalb abgewendet werden.Ärztinnen und Ärzte führen dagegen die selbstbestimmte Entscheidung der Frau als ursächlich. an und übertragen ihr damit auch die Verantwortung für den Tod ihres Kindes. Hier fällt auf, dass es einen breiten gesellschaftlichen Konsens gibt, die Geburt eines Kindes z. B. mit Down-Syndrom sei ein vermeidbares Übel. Dies führt für Familien mit einem Kind mit Down-Syndrom, aber auch für Menschen, die mit einer Behinderung leben, zu der doppelten Botschaft, wir haben nichts gegen dich und deine Existenz, dennoch halten wir es für nur zu verständlich, nach (werdenden) Menschen deiner Art zu suchen und ihre Existenz zu vermeiden. Dies führt zu einer Stigmatisierung behinderten Lebens, die ihrerseits wiederum die Akzeptanz behinderten Lebens durch werdende Eltern erschwert. Damit wird eine Spirale eingeleitet, die den Anspruch auf ein behinderungsfreies Leben schürt, obwohl dieser weder durch die PND, die „nur“ 25% angeborener Behinderungen zu entdecken vermag, noch durch die moderne Medizin, die es umgekehrt gerade ermöglicht, dass Menschen mit einer Behinderung lange leben, 95% der Behinderungen entstehen erst im Laufe des Lebens, gewährleisten. Vielleicht wäre es an der Zeit den Stimmen, die deutlich machen, dass ein Leben mit Behinderung gut möglich ist und oft ebenso glücklich verläuft wie eines ohne Behinderung mehr Kraft zu verleihen und damit eine wahrhaft humane Gesellschaft zu ermöglichen, in der jeder in seiner Eigenart willkommen ist und seinen Platz findet.“

Die jetzt auf parlamentarischer Ebene weit vorangetriebene Diskussion sollte im Interesse aller zu einer Ergänzung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes führen – mit dem Ziel durch gute Beratung die Akzeptanz von Kindern mit Behinderung zu erhöhen und einen zumindest teilweise zu beobachtenden Automatismus „positiver Befund (insbesondere einer Trisomie)- Schwangerschaftsabbruch“ zu unterlaufen. Gelöst werden die Probleme der schwangeren Frauen in Konfliktsituationen und der Menschen mit Behinderungen, die oft auf geringe Akzeptanz stoßen,damit nicht und möglicherweise werden auch die statistischen Erfolge – die durch eine Absenkung von Abbruchzahlen (ohne Ausweichen in die Niederlande) signalisiert würden – nur begrenzt sein. Entsprechende Gesetzesänderungen machen vor allem dann Sinn, wenn sie durch Maßnahmen flankiert werden, die die Lage von Familien mit behinderten Kindern deutlich verbessern. Die Verbesserung des Zugangs zu Frühfördermaßnahmen wäre eine Maßnahme. Warum sollten aber nicht auch im „Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz – (BEEG)“ für Eltern mit behinderten Kindern verlängerte Elternzeiten genommen werden können und erhöhte Elterngeldbeträge gezahlt werden (wie es beispielsweise auch bei Mehrlingen geschieht)? Die gegenwärtigen Diskussionen um ein umfassendes Teilhabegesetz, das Leistungen für behinderte Kinder und Eltern aus der Sozialhilfe herauslöst, sind in diesem Zusammenhang ebenso von Bedeutung, wie die gegenwärtige Debatte über die Umsetzung des UN-Abkommens über Rechte von Menschen mit Behinderungen.

 

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