Darf ein Gericht gegen den Willen der Eltern entscheiden, dass ein Kind nicht mehr duch medizinische Behandlung am Leben erhalten werden soll? Wann sind medizinische Behandlungen unnütz oder gar schädlich? Der Tod von „Baby OT“ in England hat den Blick darauf gelenkt, dass auch die Behandlung von Kindern am Lebensende große Schwierigkeiten mit sich bringt. Das neue Patientenverfügungsgesetz, wie immer es auch ausfallen wird, kann daran nichts ändern.
Allerdings können auch Kinder und Jugendliche prinzipiell eine Patientenverfügung verfassen, denn anders als viele Menschen in medizinischen Berufen meinen, sind Kinder und Jugendliche durchaus oft in der Lage, über ihre medizinische Behandlung selbst zu entscheiden. Voraussetzung dafür ist nämlich nicht die Geschäftsfähigkeit (die an die Volljährigkeit gekoppelt ist), sondern Einwilligungsfähigkeit. Wer wann wo wie und zu welchem Zwecke einwilligungsfähig ist, regelt aber kein Gesetz ausdrücklich. Die Rechtsprechung hat dafür Grundsätze entwickelt. Einwilligungsfähig ist demnach, wer die Tragweite eines medizinischen Eingriffes erfassen kann, wer verstehen kann, welche Alternativen es dazu gibt oder welche Konsequenzen es hat, den Eingriff zu unterlassen… Im Ergebnis: Wenn man es streng nimmt ist vielleicht kaum jemand einwilligungsfähig, weil so richtig erfassen können viele von uns die Tragweite solcher Entscheidungen nicht. Das wäre aber ein unerwünschtes Ergebnis. Bei gebotener pragmatischer Sichtweise kommt man also dazu, dass die Anforderungen nicht allzu hoch geschraubt werden dürfen, dann aber erfüllen sie auch viele Kinder und Jugendliche. Das kann zu Problemen führen, schließlich sind die Eltern weiterhin sorgeberechtigt – was aber tun, wenn das kranke, aber einwilligungsfähige Kind und seine Eltern sich nicht einig werden?
Eine solche Geschichte ist in der Januar-Ausgabe der Monatsschrift Kinderheilkunde kurz skizziert:
Ein 12jähriger Junge mit einer schweren, unheilbaren Form von Leukämie möchte keinen stationären Aufenthalt im Krankenhaus mehr, seine Eltern wünschen sich aber jede Form von Lebensverlängerung. Es wird also versucht, dem Wunsch des Jungen entsprechend, die palliative Behandlung zu Hause durchzuführen, was anfangs auch gelingt. Dann häufen sich die Komplikationen. Mit starken Schmerzen, Fieber und erheblichen Atemnot, wird der Junge schließlich ins Krankenhaus gebracht. Dort entscheiden die Ärzte mit Rücksicht auf seine Wünsche und dann doch im Einverständnis mit den Eltern, dass keine Intensivtherapie versucht wird, sondern nur noch die Schmerzen bekämpft werden. Nach wenigen Stunden verstirbt der Junge dann.
Es gibt andere Schicksale, tragischere, wenn eine Jugendliche eine nach Ansicht der Eltern sinnvolle Behandlung verweigert, die ihr Leben vielleicht retten könnte – eine Organtransplantation beispielsweise – und es nicht, wie in dem oben erwähnten Fall, zu einer Verständigung zwischen Eltern und Kind kommt.
Wie Entscheidungen hier zu fällen sind, wie sie für alle Beteiligten ohne erhebliche zusätzliche (über die Krankheit hinaus reichende) Belastungen zu prozeduralisieren sind, ist gegenwärtig eine der spannenderen, gleichwohl aber öffentlich erstaunlich wenig beachteten Fragestellungen. Die Patientenverfügungs-Gesetzentwürfe, die gegenwärtig diskutiert werden, helfe hier wenig weiter. Sie regeln Patientenverfügungen nämlich nur im Rahmen des Betreuungsrechtes, das aber ausschließlich für Volljährige gilt. Dringend erforderlich wäre hier zur Entlastung aller Beteiligten, eine Regelung auch für einwilligungsfähige Kinder und Jugendliche zu treffen.
Der Fall von „Baby OT“ in England war anders gelagert, denn über die Behandlung von Babies, wie auch von Kindern und Jugendlichen mit schweren Mehrfachbehinderungen, die sich nicht mit Sprache verständigen können, entscheiden grundsätzlich die Eltern. Wenn sie in Konflikt mit den Ärzten geraten oder umgekehrt, die Ärzte ganz anderer Auffassung sind als die Eltern, müssen Gerichte die Entscheidungen überprüfen.
Im englischen Recht gilt dafür der „best interest“-Standard. Es geht also um objektive Kriterien, was am besten für das Kind ist – und diese objektiven Kriterien sind fast immer medizinischer Natur. Bei „Baby OT“, das eine schwere Stoffwechselstörung, eine Hirnschädigung hatte und nicht selbst atmen konnte, folgte das Gericht der Auffassung der Ärzte, dass es im „best interest“ des Kindes wäre, nicht am Leben erhalten zu werden; die Eltern hatten dagegen gesetzt, dass das Kind schmerzfrei wäre, sein Umwelt wahrnehmen und gute Erfahrungen machen konnte. In einer solchen Konstellation hätte die Behandlung in Deutschland wohl fortgesetzt werden müssen. Nur wenn die Ärzte geltend machen können, dass eine Behandlung medizinisch nicht indiziert wäre, könnten sie sie abbrechen – auch was eine nicht indizierte Behandlung ist, ist allerdings wenig geklärt. Einen objektivierenden Standard wie den des „best interest“ gibt es im deutschen Medizinrecht nicht.
Auffallend ist, dass der Fall von „Baby OT“ in der englischen Öffentlichkeit Aufsehen erregt hat, dass er aber weitaus weniger emotional diskutiert worden ist, als vorangegangene Fälle, beispielsweise die ebenfalls von einem Gericht gegen den Elternwillen verfügte Trennung siamesischer Zwilling aus Malta vor einigen Jahren, die bewußt den Tod eines der beiden Zwillinge in kauf nahm.