Biopolitik

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Dieses Blog ist geschlossen. Es ist als Archiv über die biopolitische Debatte 2008 bis 2012 hier weiter einzusehen. Aktuelle Entwicklungen zum Thema

Sterbehilfe durch Angehörige – ein Strafprozeß in Fulda (mit aktuellem Nachtrag)

| 10 Lesermeinungen

Der Rechtsanwalt ist Überzeugungstäter. In Sachen Sterbehilfe geht er so weit wie es nur irgend geht, klagt, erstattet Strafanzeigen und führt stolz...

Der Rechtsanwalt ist Überzeugungstäter. In Sachen Sterbehilfe geht er so weit wie es nur irgend geht, klagt, erstattet Strafanzeigen und führt stolz Statistik darüber, in wieviel Fällen er den Tod von Patienten durchgesetzt hat – „nach Patientenverfügungen“ wie er schreibt; welcher Qualität diese Verfügungen waren bleibt dabei allerdings offen. Auch bleibt offen, ob das Ziel, einen Behandlungsabbruch, ein Sterben in Würde zu erreichen, nicht auch in vielen Fällen hätte auf anderem, konsensualerem, stillerem Wege ebenfalls und vielleicht sogar schneller hätte erreicht werden können. Wie dem auch sei, nun ist der streitbare Rechtsanwalt wie unser Berufskollege Roger Kusch selbst ins Visier der Justiz geraten und er sitzt als Beteiligter neben seiner Mandantin, die er in Sachen Sterbehilfe beraten hat, auf der Anklagebank des Landgerichts Fulda. Auch in diesem Verfahren geht es um eine angebliche Patientenverfügung, die allerdings nicht schriftlich vorliegt (was nach derzeitigem Recht allerdings auch nicht erorderlich ist). Die Anklage der Staatsanwaltschaft lautet auf „versuchten Totschlag“.

Nach den Presseberichten (Osthessen News, Hessischer Rundfunk)  zum Verfahren stellt sich der Fall so dar: Die Tochter einer 76jährigen Frau, die nach einem Schlaganfall mehrere Jahre in einem als Wachkoma bezeichneten Zustand lag, soll die künstliche Ernährung ihrer Mutter eigenmächtig durch Durchschneiden des zur Nahrung führenden Schlauches beendet haben. Der in Sachen konfliktfreudige und gleichzeitig erfahrene Rechtsanwalt soll sie entsprechend beraten haben. Bei der Eröffnung des Verfahren vor dem Landgericht Fulda betonte die Tochter, dass ihre Mutter sich dagegen ausgesprochen habe „künstlich am Leben“ erhalten zu werden. Sie habe deren Willen verwirklichen wollen. Eine schriftliche Verfügung habe sie allerdings nicht verfasst. Der jetzt mitangeklagte Anwalt habe sie beraten, dass diese mündliche Willensäußerung ausreichte, die künstliche Ernährung zu beenden. Das Heim soll sich zuvor geweigert haben, einen entsprechenden Wunsch der Tochter umzusetzen, andererseits aber auch zugesichert haben, gegen den eigenmächtig vorgenommenen Abbruch der künstlichen Ernährung nichts zu unternehmen. Tatsächlich wurde die Mutter aber, nachdem der gekappte Schlauch entdeckt worden war, auf die Intensivstation eines Krankenhauses verlegt. Dort starb sie 14 Tage später.

Das Landgericht Fulda hat vier Verhandlungstage angesetzt und plant am 30. April ein Urteil zu verkünden. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung gehen davon aus, dass das Verfahren in die Revision zum Bundesgerichtshof gehen wird, da die entsprechenden strafrechtlichen Fragen nicht geklärt seien.

Ob sich das Verfahren sich tatsächlich zu einem Präzedenzfall entwickeln kann, hängt zu erst einmal davon ab, ob das Landgericht am Ende des Prozesses davon ausgehen wird, dass sich die Frau noch nicht im Sterbeprozess befunden hat. Hätte sie sich nämlich zum Zeitpunkt der angeblichen Tat bereits im Sterbeprozess befunden, worauf sowohl die anschließende Überweisung auf die Intensivstation, als auch der bald darauf dort eingetretene Tod hindeuten könnte, und gingen die Tochter und ihr Anwalt auch davon aus, dass die Mutter im Sterben gelegen hatte, dürfte ein Abbruch der künstlichen Ernährung kaum strafrechtlich relevant gewesen sein, da die Ernährung allenfalls das Sterben hätte verlängern können.

Sollte das Gericht allerdings auf Grundlage von Gutachten annehmen, dass hier noch kein Sterbeprozess eingesetzt hatte, sondern statt der „Hilfe im Sterben“, wie es der Bundesgerichtshof einmal formuliert hat, eine „Hilfe zum Sterben“ beabsichtigt war, wäre die Rechtslage anders. Der Bundesgerichtshof hatte zuletzt 1994 im sogenannten „Kemptener Fall“ entschieden, dass bei einem „mutmaßlichen Willen“ der Patientin der Abbruch der künstlichen Ernährung gerechtfertigt, also nicht strafbar wäre. Damals lag der Fall so: der Sohn einer ebenfalls als im Wachkoma lebend diagnostizierten Patientin hatte in Übereinstimmung mit dem Arzt angeordnet, die künstliche Ernährung seiner Mutter, deren Betreuer er auch war, zu beenden. Das Heim war der Anordnung aber nicht nachgekommen, sondern hatte einen vormundschaftsrichterlichen Beschluss eingeholt, der ihm die Fortführung der Ernährung erlaubte.

Der 1.Strafsenat des BGH hatte in der damaligen Entscheidung, die der Auftakt für die aktuelle betreuungsrechtliche Debatte über Patientenverfügungen und deren Bedeutung war, allerdings nicht eindeutig geklärt, wie sich bei einwilligungsunfähigen Patienten der strafrechtliche Rechtfertigungsgrund der „mutmaßlichen Einwilligung“ zur zivilrechtlichen vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung eines Abbruchs der künstlichen Ernährung verhält. Auf diese Frage könnte es aber in dem jetzt verhandelten Fall ankommen.

Von anderen Sterbehilfe-Fällen, die in den letzten Monaten durch die Medien gingen, unterscheidet sich der Fuldaer Fall zum einen dadurch, dass hier ein Anwalt mit seiner (jedenfalls nicht auf einen konfliktvermeidenden Weg zielenden) Beratung eine aktive Rolle gespielt hat (und bei der Mandantin möglicherweise einen unvermeidbaren und damit Strafe ausschließenden Verbotsirrtum bewirkt haben könnte). Außerdem ist hier durch das Zerschneiden des Schlauches eine Angehörige aktiv tätig geworden und kein Arzt durch Unterlassen der Fortführung der Behandlung.

Die Antwort auf die Rechtsfrage nach dem Verhältnis von „mutmaßlicher Einwilligung“ und vormundschaftsrichterlicher Genehmigung des Ernährungsabbruches, sollte aber – wenn es darauf ankommt – wünschenswerterweise eindeutig ausfallen:  Da nach gegenwärtiger Rechtslage die Vormundschaftsgerichte über den Abbruch lebenserhaltender und lebensverlängernder Maßnahmen, die medizinisch indiziert sind, zu entscheiden haben, sollte eine solche Entscheidung, wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind, auch verlangt werden, wenn ein Behandlungsabbruch gerechtfertigt sein soll. Andernfalls, wenn man sich mit der eigenmächtigen Entscheidung der Angehörigen begnügte, kämen wir schnell in die Lage, dass diese bei Bedarf in Kliniken und Altenpflegeheimen ihr (vermeintliches) Recht im Wege der Selbstjustiz in die Hand nehmen und weitgehend eigenmächtig, gestützt nur auf einen durch kaum überprüfbare mündliche Äußerungen ermittelten mutmaßlichen Willen, Beatmungsgeräte abstellen oder Sondenschläuche kappen – damit würde das sorgsam verfahrensrechtlich austarierte Betreuungsrecht, dessen Verfahrensregeln auch dem Lebensschutz der Betreuten dienen, leer laufen und in Heimen und Kliniken möglicherweise schwer überprüfbare Entwicklungen eingeleitet werden.  

Dieser Weg wäre auch deswegen kaum akzeptabel, weil der Weg über die Vormundschaftsgericht gegebenenfalls sehr zügig beschritten werden kann – besteht aus irgendeinem Grund Zeitdruck kann eine Entscheidung innerhalb von zwei, drei Tagen, unter Umständen noch schneller erwirkt werden. Und wenn es keine medizinische Indikation für eine Fortführung der Behandlung gibt, was allerdings ein Arzt und kein Medizinrechtsanwalt feststellen sollte, wird deren Beendigung verbindlich vom Arzt angeordnet.

Der Weg zur Selbsthilfe der Angehörigen, der in dem Fuldaer Verfahren beschritten wurde, ist angesichts dessen – zumindest auf Basis der bekannten Tatsachen und auch der bislang veröffentlichten Stellungnahmen der Verteidigung –  schwer nachvollziehbar, und das unabhängig davon, ob er im Ergebnis zu einer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung führen wird oder nicht. Mir drängt sich ein wenig der Eindruck auf, hier könnte das Interesse daran einen spektakulären Prozess ins Werk zu setzen, mindestens ebenso dringlich gewesen sein, wie das Interesse daran, einen sicheren und für alle Beteiligten akzeptablen Weg zu finden, wie die Behandlung der schwerkranken Frau fortzuführen oder abzubrechen sei. Das allerdings wäre dann mehr ein ethisches, als ein strafrechtliches Problem.

Nachtrag am 23. April 2009: Mittlerweile hat der angeklagte Rechtsanwalt eine Pressemitteilung zu seinem Prozess veröffentlicht und ich konnte mit dem Pressesprecher des Landgerichts Fulda sprechen. Danach stellt sich der Fall, selbst eingedenk der sicherlich parteiischen Selbstdarstellung des Angeklagten, doch anders dar, als in den online-Medien berichtet. Vor allem fehlt dort das entscheidende Detail, dass der behandelnde Arzt davon ausging, dass für die künstliche Ernährung keinerlei medizinische Indikation bestand. Ohne medizinische Indikation allerdings ist eine künstliche Ernährung nicht durchzuführen – völlig unabhängig übrigens davon, ob der Betreuer dies wünscht und auhc völlig unabhängig von einer Entscheidung des Vormundschaftsgerichts: auch ein Gericht kann nicht eine medizinische Maßnahme, die nicht indiziert ist, anordnen. Zu fragen bliebe dann allenfalls, ob die Indikationsstellung des Arztes zutraf und warum er in den Jahren zuvor die künstliche Ernährung angeordnet hat (ohne Indikation?). Darum geht es in dem Verfahren aber nicht. Einen umfassenden Artikel zum Prozess können Sie in den nächsten Tagen im Feuilleton der Printausgabe lesen.

Jetzt freue ich mich weiter über Kommentare und Anmerkungen. Sie müssen sich dafür nicht anmelden.


10 Lesermeinungen

  1. GRS2 sagt:

    Bloss nicht den Verwandten die...
    Bloss nicht den Verwandten die Entscheidung über Leben und Tod lassen. Familie kann furchtbar sein.

  2. Lutz Barth sagt:

    Sind wir nicht alle...
    Sind wir nicht alle „Überzeugungstäter“?
    Wir sollten zunächst einmal das Strafurteil, ggf. den Freispruch – was auch immer – abwarten, bevor wir uns dazu hinreißen lassen, ohne entsprechendes Hintergrundwissen den konkreten Einzelfall zu bewerten, da wir ansonsten uns der Gefahr aussetzen, über „Spekulationen“ nicht hinauszukommen.
    Wichtig erscheint mir allerdings darauf hinzuweisen, dass ein Rechtsanwalt durchaus dazu berechtigt ist, Rechtsrat zu erteilen, mag dieser auch nicht dem mainstream entsprechen. Hierzu gehört freilich auch, kraft eigener Kunde die Rechtslage zu bewerten und da könnte es allemal hilfreich sein, wenn dieses Wissen bereits in vielen Einzelfällen abgerufen werden konnte und so jedenfalls eine berechtigte Vermutung dafür streitet, die für die brisanten Rechtsfragen erforderliche Sensibilität zu besitzen und zwar ungeachtet einer ethischen Grundsatzdebatte, die eben auch in einem konkreten Straf- oder Zivilprozess nicht geführt wird.
    In einem konkreten Verfahren wird die „Spreu vom Weizen“ getrennt und von daher sollten wir zunächst einmal den Ausgang des Verfahrens abwarten. Insofern geht es also nicht um eine „ethische Fragestellung“, in der ein Konsens mehr als fraglich erscheint. Sofern eine mündliche Patientenverfügung vorgelegen hat, kommt es im Übrigen auf die ethische Dimension „nur“ noch insoweit an, ob hier die zur Umsetzung des Patientenwillens Berufenen einen aktiven Tatbeitrag leisten durften. Dies ist m.E. zu bejahen, auch wenn prinzipiell eine ärztliche Assistenz wünschenswert ist.
    In der aktiven Sterbehilfe kann ein Akt der Humanität erblickt werden und zwar insbesondere in den Fällen, in denen der Patient nicht mehr in der Lage ist, trotz seines (Sterbe)Willens eine Tatherrschaft und damit vor allem eine aktive Handlung auszuüben.

  3. tolmein sagt:

    Herr Barth, den Anwalt sehe...
    Herr Barth, den Anwalt sehe ich ja lieber als Dienstleister… den Journalisten dafür als Kommentator, der keineswegs erst Urteile abwarten sollte, bevor er sich zu Wort meldet, zumal ich Ihre Vorstellung nicht teile, dass ich durch das Urteil in erster Linie etwas über das Geschehen erfahre. Das Urteil teilt mir mit, wie aus einer konkreten Verhandlungssituation heraus bestimmte Richter einen Vorgang sehen und werten. Nicht mehr und nicht weniger.
    Die ethische Fragestellung ist an ganz anderer Stelle angesiedelt: Meines Erachtens ist es gerade in den Sterbehilfe-/Behandlungsabbruchfällen wünschenswert konsensuale Lösungen auf Basis des Patientenwillens zu finden – insbesondere übrigens, wenn, wie offensichtlich hier, bereits lange Zeit behandelt wurde und gar kein Grund für eine besonders eilige Entscheidung ersichtlich ist.
    Aber das Thema wird uns gewiss erhalten bleiben.

  4. Lutz Barth sagt:

    Mit Verlaub - Herr Tolmein.
    In...

    Mit Verlaub – Herr Tolmein.
    In unserer Eigenschaft als Juristen wissen wir doch hoffentlich wohl um die Bedeutung des Tatbestandes resp. Sachverhaltes, den es gilt, umfänglich zu recherchieren. Das Urteil mit seinen Rechtsfolgen basiert ganz maßgeblich auf dem Sachverhalt und insofern sollten wir uns tatsächlich zunächst in vornehmer Zurückhaltung üben, wenn es gilt, anhand eines doch der Öffentlichkeit eher unvollständig mitgeteilten Sachverhaltes/Tatbestandes weitergehende „Schlüsse“ zu ziehen. Freilich bleibt es vorbehalten, einen Kommentar zu verfassen, dem allerdings notwendiger Weise etwas Spekulatives anhaften muss, zumal hier der Phantasie keine Grenzen gesetzt werden: die Rolle der Ärzte als auch die des Pflegepersonals könnten ebenfalls Anlass zu strafrechtlichen Überlegungen geben.
    Ihr Hinweis auf die Ethik verfängt nicht! Dies schon allein deshalb nicht, weil die patientenautonome Entscheidung keines Konsens bedarf! Dies gilt freilich in erster Linie in den Fällen, in denen eine wie auch immer geartete Patientenverfügung – auch solche in mündlicher Form – vorliegt. Es geht nicht darum, „wünschenswerte konsensuale Lösungen“ zu finden, sondern darum, den geäußerten oder ggf. festzustellenden Willen des Patienten umzusetzen. Der Wunsch nach einem Konsens mag legitim sein, wenn er denn dazu dienen soll, die berufethische Seele zu befriedigen – mit Blick auf das wohlverstandene Selbstbestimmungsrecht kommt diesem Wunsch allerdings keine Bedeutung zu, besteht doch nach wie vor die Gefahr, dass der Patientenwille um eines ethischen Grundkonsens willen instrumentalisiert wird, wie sich leider aus vielen Stellungnahmen so mancher „Oberethiker“ unserer Nation ablesen lässt.

  5. tolmein sagt:

    Ach Herr Barth, mit den...
    Ach Herr Barth, mit den patientenautonomen Entscheidungen, die auf der Basis von recht vagen Auskünften Dritter durchgesetzt werden ist das doch so eine Sache. Autonom ist in diesem Kontext ohnehin ein überladener Begriff, aber oft kann man im konkreten Fall mit guten Gründen die Frage stellen, ob überhaupt ein eigene Entscheidung des Patienten die Basis der vermeintlichen Patientenverfügung, die Angehörige umsetzen wollen, bildet…. Da zudem nach mehrjähriger Pflege durch Teams in Einrichtungen oder im ambulanten Kontext intensive menschliche Beziehungen gewachsen sind, ist das Bemühen darum im Konsens über den Weg eine Entscheidung zum Behandlungsabbruch umzusetzen meines Erachtens meistens dringend geboten. Der Kavallerieangriff mit Gericht, einer schneidig formulierenden Kanzlei auf dem Feldherrenhügel und lautem Selbstbestimmungsgetöne jedenfalls hilft dem Selbstbestimmungsrecht in aller Regel nichts. Ich würde sogar die Wette wagen, dass mit einem konsensualen Kurs das Ergebnis nicht nur für alle Beteiligten besser ist, sondern auch das, was dann als Selbstbestimmungsrecht gemeint wird, schneller durchsetzt, als der Weg durch die Instanzen…..

  6. Lutz Barth sagt:

    Ach, lieber Herr Tolmein - ist...
    Ach, lieber Herr Tolmein – ist Ihr Nachtrag nicht beredtes Beispiel dafür, dass wir alle zunächst in die berühmte Glaskugel schauen müssen, bevor uns nicht der „Tatbestand“ in seiner gesamten Komplexität bekannt ist?
    Der bis dato mitgeteilte Sachverhalt bietet also auch gegenwärtig nach wie vor die Möglichkeit, sich in Spekulationen zu versteifen. Die Rolle des Heims erscheint mir ebenso diskussionswürdig wie die Frage, ob es sich bei dem Träger um eine konfessionsgebundene Einrichtung handelt. Dies bliebe dann ggf. nicht ohne Folgen für die Frage, ob hier das „Hausverbot“ in einem anderen Licht erscheint und ob ggf. der Einrichtung ein Kündigungsrecht aus wichtigem Grund zugestanden hätte. Zugleich könnte der „Fall“ Anlass zu der weitergehenden Frage geben, ob seinerzeit der Zivilsenat beim BGH bei seiner Entscheidung aus 2005 mit der rechtlichen Wertung „richtig“ lag, dass etwa der Gewissensentscheidung der Mitarbeiter des Pflegeheims jedenfalls nicht die rechtsqualitative Bedeutung zukommt, der man/frau ihr gerne beigemessen hätte: nämlich die Weigerung, die künstliche Ernährung einzustellen? Zugleich steht auch die „Kemptener Entscheidung“ des Strafsenats zur Diskussion, ob es nunmehr tatsächlich auf einen „irreversiblen Krankheitsverlauf“ ankommt usw., usw. …
    Fragen über Fragen, die dem Fachdiskurs überantwortet werden müssen und zwar zunächst innerhalb eines „ethikfreien Raums“.
    Dies gilt auch für den von Ihnen nunmehr eingeführten Hinweis, dass offensichtlich keine „medizinische Indikation“ zur künstlichen Ernährung vorlag; dies muss natürlich zu weiteren Irritationen führen, weil es sich doch offensichtlich um eine Wachkoma-Patientin gehandelt hat, die per se keine Sterbenden oder „Toten“ sind und demzufolge sich die Indikation zur Ernährung aus dem Zustand der Patienten selbst ergeben dürfte. Zu fragen ist natürlich, wer ggf. wann die Indikation gestellt hat? Waren mehrere Ärzte an dem komplexen Behandlungsgeschehen, insbesondere vor der Betreuung in einer Pflegeeinrichtung beteiligt? Ersetzt dann die nachfolgende Expertise die Erstindikation der Ärzte im Krankenhaus?
    Sie sehen, lieber Herr Tolmein, ohne hinreichende Aufarbeitung des Sachverhaltes resp. des Tatbestandes sollten auch Kommentatoren eine gewisse Vorsicht walten lassen, wenn diese ein laufendes Strafverfahren kommentieren. Überdies – dies sei nur am Rande angemerkt – finde ich es im Übrigen bedenklich, wenn der Pressesprecher des LG sich dazu hinreißen lässt, Details aus der Akte eines Strafprozesses „zu verkünden“, bei dem u.a. die Beweisaufnahme noch nicht abgeschlossen ist.
    Zugleich darf ich nochmals auf einen weiteren BLOG-Eintrag von Ihnen replizieren: Sie gehen fehl in der Annahme, dass ein Konsens gerade auch nach einer langjährigen Behandlung im Team wünschenswert oder gar notwendig sei. Maßgeblich ist und bleibt die autonome Entscheidung des Patienten, mag dieser auch von manchen Missionaren und Sendboten einer wertkonservativen Ethik und Moral als „egozentrischer Individualist“ stigmatisiert werden. Hier öffnen sich neue Horizonte, wenn sich die Oberethiker unserer Nation ein wenig intensiver dem Studium der Rechtsethik hingegeben würden, deren Grundlagen sich in unserer Verfassung und hier natürlich in dem Grundrechtskatalog widerspiegeln.
    Irgendwelchen Partikularethiken kommt keinerlei Rechtsbedeutung zu und binden nicht den Patienten in seiner von ihm zu treffenden Entscheidung über sein „Sterben“. Dies mag aus der Sicht „wirkmächtiger Verbände und Kirchen“ unangenehm sein, ist aber eine schlichte Folge der subjektiven Grundrechtsstellung der Patienten in einem säkularen Verfassungsstaat, in dem weder den Kirchen noch irgendwelchen Berufsverbänden resp. Körperschaften öffentlichen Rechts ein ethisches resp. moralisches Monopol eingeräumt ist.

  7. tolmein sagt:

    <p>Herr Barth, wie immer...
    Herr Barth, wie immer meinungsstark, reich an Belehrungen und nicht konsequent. Aber macht ja nix. Dafür sind Blogs ja da und seien Sie froh: wenn immer erst geschrieben würde, wenn Sachverhalten in Ihrer ganzen Komplexität bekannt sind, kämen sie ja gar nicht zum Kommentieren…. Übrigens: Der „Kemptener Fall“, in all seiner Komplexität bis zum BGH und dann nochmal vor dem LG Kempten erörtert: Was nirgendwo in all den Entscheidungen steht, was sich aber aus den Akten ergibt: Die Frau, die dort künstlich ernährt wurde (so dass überhaupt erst die Möglichkeit bestand, ihr Leben durch Abbruch der Ernährung zu verkürzen) konnte schlucken. Sie hätte also zumindest einen Teil der Nahrung, wenn nicht alles oral zugeführt bekommen können. Sie sehen: Wann der Fall in seiner ganzen Komplexität bekannt ist, wissen wir oft gar nicht. Mir erscheint wichtig, den Stand der jeweiligen Erkenntnis und deren Quellen offen zu legen. Dass ich von ethikfreien Räumen und, wichtig wichtig, meinungsprägenden Fachdiskussionen als vorgeschalteten, Fakten schaffenden Instanzen wenig halte, wissen Sie ja….

  8. Ute Lehmann sagt:

    REcht auf künstliche...
    REcht auf künstliche Ernährung. 1994 hätte ich für 14 Monate eine intravenöse Ernährung gebraucht , die von mehren Chefärzten verordnet war (schwerste Nahrungmittelallergie, Darmentzündung, Nahrungsaufnahmestörung, schwerer Durchfall usw) Das wurde mir bis zum Ethikausschuß hin VERWEIGERT. Ich bin damals fast verhungert, habe mich von Traubenzuckerwasser in einer bestimmten Konzentration „ernährt“ . Grund, Es sei unheilbar und solch ein leben sei mir nicht zuzumuten. Jetzt kann ich vieles wieder essen.
    Künstliche Ernährung per Infusion ist sehr teuer und es hat überhaupt nichts mit Delikatessen zu tun. Es kommt in „die Adern“ und überhaupt nicht in den Mund oder Magen. Ich habe sowieso das Gefühl, daß die medizinsche Versorgung nicht mehr ohne Ansehen der Person erfolgt, sondern marktwirtschaftlich–wieviel wird diese Person noch erwirtschaften wenn man sie medizinisch versorgt und das ist total gegen die Grundgesetzte

  9. Lutz Barth sagt:

    "Dass ich von ethikfreien...
    „Dass ich von ethikfreien Räumen und, wichtig wichtig, meinungsprägenden Fachdiskussionen wenig halte, wissen Sie ja….“, so O. Tolmein an meine Adresse gerichtet.
    Nun – das wusste ich nicht und dies stand eigentlich auch nicht zu vermuten an. Hierbei stellt sich mir die Frage, was Sie denn unter „meinungsprägenden Fachdiskussionen“ verstehen, von denen Sie offensichtlich nicht viel halten. Ich hoffe doch sehr, dass es sich hierbei nicht um die intraprofessionelle Debatte unter den Juristen handelt, denn das wäre geradezu fatal. Dies deshalb, weil wir immerhin in einem Rechtsstaat leben und von daher der Ethik im Allgemeinen nur eine höchst eingeschränkte Bedeutung zukommt. Dies erinnert mich daran, dass gerne von Rechtswissenschaftlern, die sich gleichsam auf einer Mission befinden, davor „gewarnt“ wird, eine „Fachdiskussion“ nicht mit juristischen Argumenten zu „belasten“. Gelegentlich wird gar die Patientenverfügung als „Opium fürs Volk“ bezeichnet und da darf denn schon einmal kritisch nachgefragt werden, ob hier nicht auch für Juristen eine verbindliche Fortbildungsverpflichtung eingeführt werden soll, mal ganz davon abgesehen, dass auch namhafte Vertreter aus Forschung und Lehre hier erkennbare Defizite offenbaren und von daher nur die Hoffnung bleibt, dass „ihre“ StudentInnen etwas mehr dogmatische Weitsicht walten lassen.

  10. thomas sitte sagt:

    Gelehrte Kommentare!

    Wenn man...
    Gelehrte Kommentare!
    Wenn man miteinander redet. Wenn mir die Juristen den Sachverhalt noch einmal persönlich erklären, meine ich zu verstehen. Dabei habe ich schon viele hundert Menschen stets, so hoffe ich, legal bis in den Tod hinein begleitet.
    Jetzt im hin und her und beim heutigen Gerichtsurteil sehe ich wieder einmal, auf welche dünnem Eis ich zu tanzen versuche.
    Das macht die tägliche Arbeit nicht eben leichter. Das ist für mich als in der Palliativversorgung Stehenden, von Patienten und Angehörigen immer wieder Geforderten nicht wirklich förderlich für die Sicherheit in der Behandlung.
    Und der Kommentar von Frau Lehmann zeigt deutlich, dass man auch die ganz andere Seite nicht außer Acht lassen darf und immer über den Tellerrand hinausdenken muss. Dazu hilft es sich bei Kollegen Rat und Unterstützung in schwierigen Fragen zu holen. Das macht das Kreuz breiter. Sonst kommt es nämlich so, wie bei den Meisten. Schwierigkeiten ausweichen und wegschauen.
    Das hilft wohl am Wenigsten und wird leider viel zu wenig strafrechtlich verfolgt.

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