Biopolitik

Das Kind als Zeitbombe – Behinderung im "Spiegel" der Nichtbehinderten

Den „Spiegel“ lese ich nur noch selten. Enthüllungen und Skandale interessieren mich angesichts der oft schon empörenden Normalität nicht so sehr und der „Spiegel“-Stil, auch wenn er mittlerweile an Diversity gewonnen hat, ermüdet mich eher. Eine der Autorinnen des „Spiegel“, die ich dagegen gerne lese, ist Beate Lakotta – weil ihre Geschichten nüchterner und lapidarer sind, weil darin nicht das kunstvoll bemühte Wortgeklingel den Ton angibt, sondern die Menschen, die sie beschreibt. Die Geschichte Der Ludwig lacht wäre mir dennoch nicht aufgefallen, wenn nicht am Donnerstag im Kleist-Haus in Berlin (auf einer Tagung des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft), kurz nachdem ich nachdrücklich dazu aufgefordert hatte, die Richterinnen und Richter mit besonderem Bedacht in Sachen „Menschenrechte von Behinderten“ weiterzubilden, einige Zwischenrufer recht entschieden angemerkt hätten: „Und die Journalisten auch!“ Den unmittelbaren Anlaß für die gereizte Stimmung bot der Artikel von Beate Lakotta, ein stimmunsgvolles Portrait einer Familie

„mit einem Kind, das sie so nicht haben wollte“

Der Vorspann stimmt die Leserinnnen und Leser nicht nur ein, sondern verdeutlicht auch gleich die Perspektive der Autorin und zeigt, wo sie den Trennungsstrich zieht. Auf der einen Seite gibt es nämlich „die Familie“ auf der anderen das Kind, „das sie so nicht haben wollte.“  – „Der Ludwig“ mag im rechtlichen Sinn zur Familie gehören, tatsächlich bleibt er ein Fremdkörper. Einer, der nicht dazu gehört, weil er nicht so geworden ist, wie gewollt – nämlich nichtbehindert. Während die Reporterin über das erste, nichtbehinderte Kind der Familie gewissenhaft vermerkt

 „Felix, dessen richtigen Vornamen die Eltern bitten in dieser Geschichte nicht zu nennen“

gilt derlei Besorgnis um den Schutz des Persönlichkeitsrechts für „der Ludwig“, dessen Recht auf Leben hier offen in Frage gestellt wird, offenbar nicht.

Beate Lakotta schreibt über die Eltern:

„Auch heute noch, sind sie der Meinung, sie hätten das Recht haben müssen, sich gegen dieses Kind zu entscheiden, als sie von seiner Behinderung erfuhren.“

Die Reporterin macht keinen Hehl daraus, dass sie diese Auffassung teilt und sie zitiert den als „zupackend“ und „immer zuversichtlich“ beschrieben Vater:

„Aber über eins waren wir uns immer einig: Wenn was im Hirn nicht stimmt, dann soll`s nicht sein“

Es gibt in dem Artikel noch etliche dieser Sätze, aus denen die Vorstellung spricht, dass das Zusammenleben mit einem behinderten Kind eine Zumutung ist, vor der werdende Eltern das Recht haben müssen bewahrt zu werden. Der wohl dramatischste dieser Sätze stammt vom Vater und lautet:

„Das Kind ist eine Zeitbombe. Kein Mensch kann uns sagen, wie wir damit leben sollen.“

Tatsächlich beschreibt der Text, wie die Eltern mit der pränatalen Diagnose und ihren Ängsten während der Schwangerschaft und nach der Geburt versorgt, aber doch alleine gelassen werden. Lakotta porträtiert den Leiter der Geburtshilfeabteilung der Münchner Universitäts Frauenklinik als einen Arzt, der vor allem daran interessiert ist, keine Schwangerschaft wegen der Behinderung des Kindes abzubrechen, keinen Fetozid auszuführen:

„Für ihn, Kainer, ist jeder Fetozid eine kleine Katastrophe, er will das nicht tun.“

Schreibt Lakotta in ihrem Text, der von ihrem Empfinden geprägt ist, dass die Geburt eines schwerbehinderten Kindes zumindest wenn die Eltern sie nicht wollen, eine große Katastrophe ist. Würde Kainer sich für das „kleinere Übel“ einsetzen, wäre er in dieser Geschichte ein tragischer Held, so erscheint er als ein zwar bisweilen nachdenklicher, letztenendes aber doch zynischer Arzt.

„Bei 115.000 Abtreibungen von gesunden Kindern pro Jahr könne man schon fragen, welchen Sinn es habe, ausgerechnet das Leben einiger hundert schwer fehlgebildeter Ungeborener gegen den Willen ihrer Mütter zu schützen“

gibt die Reporterin die Ansicht des Arzte in indirekter Rede wieder – kein  Gedanke daran, dass die Aussage wenig Sinn macht, weil sie ganz unterschiedliche Probleme miteinander vermengt. Unter den 115.000 Abtreibungen pro Jahr sind Kinder mit und ohne Behinderungen, es werden dort nicht gezielt „gesunde Kinder“ zur Abtreibung freigegeben, es gibt einfach kein strafbewehrtes Verbot, das den Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Schwangerschaftswoche verhinderte. In dieser Zeit genießen Föten mit und Föten ohne Behinderung gleichermaßen keinen besonderen Schutz. Nach der 12. Schwangerschaftswoche ändert sich an dieser Gleichbehandlung durch den Gesetzgeber nichts, nur die Wertungen sind anders: Ab jetzt werden Föten mit und Föten ohne Behinderung gleichermaßen geschützt und nur noch die Gefahr für Leben und Gesundheit der Mutter führt dazu, dass der Abbruch als „nicht rechtswidrig“ qualifiziert wird. Eine Mutter, die sich in der 20. Schwangerschaftswoche entscheidet, dass sie ihr nichtbehindertes Kind nicht zur Welt bringen möchte wird mithin genauso gegen ihren Willen gezwungen, die Schwangerschaft fortzuführen, wie die Mutter eines behinderten Kindes, bei der eine Gefahr für ihr Leben und ihre Gesundheit aus ärztlicher Sicht nicht auszumachen ist.

Lakotta stutzt aber nicht wegen des gedanklichen Fehlers des Arztes, sie ist nicht damit einverstanden, dass er nicht zur Tat geschritten ist. Sie zitiert ihn mit einem Satz, dessen Zynismus sofort offenbar ist:

„Es passiert einem nichts, wenn man es nicht macht. Irgendwann fahren die mit dem Kind nach Hause und wir sind das Problem los.“

Andere Stimmen, die sich kritisch mit Spätabtreibungen auseinandersetzen gibt es in dieser Reportage nicht. Elternverbände gibt es keine, keine Selbsthilfegruppen (auf dieser Webseite finden Sie Informationen von und Kontakt zu Eltern von „Balkenmangel-Kindern“) und auch keine empathische Beobachtung von „der Ludwig“, die versuchte, sich mit dessen Wahrnehmungen und seiner Perspektive auseinanderzusetzen. Die unzureichende psychosoziale Beratung, die das Ehepaar Senge in der Schwangerschaft nach der pränatalen Diagnose offensichtlich erfahren hat, wird nicht als unzureichende psychosoziale Beratung beschrieben, sondern als  normal hingenommen. Und auch die Reporterin interessierte sich nicht dafür, was man den Senges hätte sagen, wie man sie hätte unterstützen oder ihnen Mut machen können. Das ist auch nicht unbedingt Aufgabe einer Reportage. Reportagen dürfen einseitig und parteiisch sein, manchmal werden sie dadurch sogar besser. Bei einer Geschichte, die das Leben eines Kindes verhandelt und die der Frage nachgeht, ob man dessen Geburt nicht besser verhindert hätte, wird es allerdings heikel. Das Ende des Textes ist ein Zitat von Herrn Senge, der auf die Feststellung seiner Frau, dass sie sich „

 „immer wieder gegen das Kind entscheiden (würden), wenn wir könnten“

bilanziert:

„Dann wär der Ludwig jetzt nicht da. Es würde immer etwas fehlen. Das wär schon genug Leid. Aber das Kind wär eingeschlafen von der Spritze, davon hätt er wahrscheinlich wenig gemerkt. Es wäre doch eine Erleichterung gewesen.“

Eine Erleichterung für die Eltern, für die Familie, zu der „der Ludwig“ nach wie vor nicht richtig dazugehört, auch wenn seine Eltern sich für ihn einsetzen und um ihn bemühen. Lakotta beschreibt, wie Familie Senge vom Bezirk Oberbayern, in dem sie lebt, im Stich gelassen wird: Die Eltern bekommen für ihren Sohn keine Kostenübernahme für die Förderung in einer integrativen Kinderkrippe,  die Krankenkasse verweigert die Übernahme von Ergo- und Physiotherapie für das behinderte Kind – Alltag in einem Sozialstaat, in dem die Kosten von Maßnahmen deren Bewilligung längst stärker beeinflussen als der vorhandene Bedarf. Die (rechtswidrige) Rationierung auf Kosten von Menschen mit Behinderung führt Lakotta zu der auf den ersten Blick einleuchtenden, tatsächlich aber fatal falschen Frage:

„Darf man Eltern zwingen zum Leben mit dem behinderten Kind?“

Diese Frage zu stellen, setzt voraus, ein Wahlrecht der Eltern anzunehmen. Eltern müssten einen Anspruch darauf haben, dass ihre Kinder nach ihren Vorstellungen geraten, dass sie pflegeleicht sind, freundlich, intelligent, strebsam – alles wünschenswerte Eigenschaften, aber doch keine Ansprüche. Eltern sind aber, wenn sie sich für Kinder entscheiden, diese so zu nehmen, wie sie sind und werden: Darf man Eltern zwingen zum Leben mit einem aggressiven Kind, zum Leben mit einem Kind mit Aufmerksamkeitsdefiziten, niedriger Intelligenz, zum Leben mit einem Kind, das hässlich ist, drogensüchtig wird, früh andere Süchte entwickelt oder depressiv ist? Darf man Eltern nur zu dem zwingen, was unvermeidlich erscheint?

Anders als Lakotta meint, geht es bei Kindern mit Behinderungen nicht darum, dass dort „die Medizin Entscheidungen gegen den Willen der Eltern trifft“ – es gibt eine gesetzliche Regelung, die Schwangerschaftsabbrüche nach der 12. Woche nur unter bestimmten Bedingungen zulässt. Die eugenische (oder, weniger historisch belastet, embryopathische) Indikation, die sich Lakotta offensichtlich zurückwünscht, die tatsächlich die Behinderung des Kindes zum entscheidenden Kriterium machte, ist nicht mehr in Kraft. Sie besagte, dass ein Schwangerschaftsabbruch nicht strafbar ist, wenn

„dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß das Kind infolge einer Erbanlage oder schädlicher Einflüsse vor der Geburt an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustandes leiden würde, die so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann“

Unter der Geltung dieser Norm, konnte man die Frage stellen: „Darf man von den Eltern, verlangen mit dem behinderten Kind zu leben.“

Heute geht es ausschließlich um Gefahren für Leib und Leben der werdenden Mutter. Der Schwangerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig:

„wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftige Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann.“

Es geht also nicht darum, ob die Familie ein Kind mit Behinderung haben möchte oder nicht, auch nicht darum, welche Schwierigkeiten sie absehbar mit dem Kind haben wird oder nicht und nicht darum, ob man von der Familie verlangen kann, mit einem behinderten Kind zusammenzuleben – der Gesetzgeber hat sich entschieden, das zu verlangen und sich für das was die Eltern nach der 12. Schwangerschaftswoche wollen nicht weiter zu interessieren. Es geht ab diesem Zeitpunkt einzig und allein um die Frage, ob der Abbruch erforderlich ist, um die Gefahr einer schwerwiegenden Schädigung des Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden.

Beate Lakotta ging es mit ihrem Text darum, in der Debatte um Spätabtreibungen und die Veränderungen durch die kürzlich beschlossene Reform des Schwangerschaftskonfliktgesetzes einen Akzent gegen die Gesetzesreform zu setzen – so weit wäre dazu wenig zu sagen. Gerade in den kontroversen bioethischen Debatten ist es sinnvoll und hilfreich, wenn jemand eine andere, vielleicht eine überraschende oder auch verstörende Perspektive einnimmt. Lakotta, die sich beim Schreiben ihrer Geschichte möglicherweise als Querdenkerin gefühlt haben mag, formuliert dabei aber leider auf exemplarische Weise ganz im Geist der Zeit. Ihre Empathie für die Eltern geht auf Kosten des behinderten Kindes, das sie, wie so viele, wegen seiner Behinderung als Belastung sieht – und obwohl sie die behindernden Faktoren in der Gesellschaft sieht und beschreibt, prägt doch der Gedanke ihren Text, dass Ursache für das Leid der Eltern das behinderte Kind ist. Beakte Lakotta, mit der ich nicht nur auf manchem Podium über Palliativmedizin und Sterbehilfe diskutiert habe und mit der ich mir einig bin, dass es die Debatte um Sterbebegleitung wenig weiterbringt, wenn man ein verkitschtes Bild des Sterbens zeichnet, in dem Angst, Verzweiflung, Schmerzen und Gestank keinen Platz haben, hat nichts gegen Menschen mit Behinderung. Ihr liegt es mit Sicherheit fern, sie zu diskriminieren und sie wird wohl der Behauptung, ihr Text wirke ausgrenzend, im Gespräch entschlossen entgegentreten. Aber es ist dennoch so. Der Text bestärkt Vorurteile, er ergreift Partei für die Nichtbehinderten, die sich gegen einen Menschen wie Ludwig entscheiden – aus, wie in dem Text deutlich wird, freien Stücken. Heute weiß die Familie Senge, dass Ludwigs Existenz die Gesundheit der Mutter nicht ernstlich gefährdet hat, geschweige denn ihr Leben. Die Ärzte, die die späte Abtreibung nicht vorgenommen haben, haben sich so verhalten, wie es das Gesetz vorsieht. Wäre der Fetus, der später Ludwig wurde, damals durch eine Spritze ins Herz getötet worden, wäre das für die Eltern vielleicht eine Erleichterung gewesen – liest man Berichte von Frauen, die spät abgetrieben haben, ist auch das keineswegs ausgemacht – mehr aber nicht. Dass Beate Lakotta ihre Reportage so komponiert und dramaturgisch entwickelt hat, dass man am Ende die Senges doch ganz sympathisch findet, weil sie „den Ludwig“ heute nicht mißhandeln, ins Heim abschieben oder ihn sonstwie vernachlässigen, dass man aber bei unbefangener Lektüre mit ihnen zu der Auffassung gelangt, dass eine späte Abtreibung wegen der Behinderung ganz in Ordnung ist, weil es für die Nichtbehinderten eine Erleichterung bedeutet, ist allerdings nichts anderes als das: diskriminierend. Das Recht eines Menschen auf Leben wird in Frage gestellt, weil er so ganz anderesgeworden ist, als ihn sich seine Familie gewünscht hat….

Dass es übrigens auch ganz anders geht, dass man aus der Perspektive eines nichtbehinderten Menschen über das Leben mit einem behinderten Menschen schreiben kann ohne Probleme, Wut und Verzweiflung, die dabei auch aufkommen können, zu übergehen zeigt das vor kurzem erschienene Buch von Marianne Glaßer, Keine heile Welt – Leben mit einem behinderten Kind, Mabuse-Verlag, 166 Seiten, auf das ich bei Gelegenheit zurückkommen werde.  

Über Anmerkungen und Meinungsäußerungen von Ihnen freue ich mich (Sie brauchen sich nicht anzumelden)

 

 

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