Den „Spiegel“ lese ich nur noch selten. Enthüllungen und Skandale interessieren mich angesichts der oft schon empörenden Normalität nicht so sehr und der „Spiegel“-Stil, auch wenn er mittlerweile an Diversity gewonnen hat, ermüdet mich eher. Eine der Autorinnen des „Spiegel“, die ich dagegen gerne lese, ist Beate Lakotta – weil ihre Geschichten nüchterner und lapidarer sind, weil darin nicht das kunstvoll bemühte Wortgeklingel den Ton angibt, sondern die Menschen, die sie beschreibt. Die Geschichte „Der Ludwig lacht„ wäre mir dennoch nicht aufgefallen, wenn nicht am Donnerstag im Kleist-Haus in Berlin (auf einer Tagung des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft), kurz nachdem ich nachdrücklich dazu aufgefordert hatte, die Richterinnen und Richter mit besonderem Bedacht in Sachen „Menschenrechte von Behinderten“ weiterzubilden, einige Zwischenrufer recht entschieden angemerkt hätten: „Und die Journalisten auch!“ Den unmittelbaren Anlaß für die gereizte Stimmung bot der Artikel von Beate Lakotta, ein stimmunsgvolles Portrait einer Familie
„mit einem Kind, das sie so nicht haben wollte“
Der Vorspann stimmt die Leserinnnen und Leser nicht nur ein, sondern verdeutlicht auch gleich die Perspektive der Autorin und zeigt, wo sie den Trennungsstrich zieht. Auf der einen Seite gibt es nämlich „die Familie“ auf der anderen das Kind, „das sie so nicht haben wollte.“ – „Der Ludwig“ mag im rechtlichen Sinn zur Familie gehören, tatsächlich bleibt er ein Fremdkörper. Einer, der nicht dazu gehört, weil er nicht so geworden ist, wie gewollt – nämlich nichtbehindert. Während die Reporterin über das erste, nichtbehinderte Kind der Familie gewissenhaft vermerkt
„Felix, dessen richtigen Vornamen die Eltern bitten in dieser Geschichte nicht zu nennen“
gilt derlei Besorgnis um den Schutz des Persönlichkeitsrechts für „der Ludwig“, dessen Recht auf Leben hier offen in Frage gestellt wird, offenbar nicht.
Beate Lakotta schreibt über die Eltern:
„Auch heute noch, sind sie der Meinung, sie hätten das Recht haben müssen, sich gegen dieses Kind zu entscheiden, als sie von seiner Behinderung erfuhren.“
Die Reporterin macht keinen Hehl daraus, dass sie diese Auffassung teilt und sie zitiert den als „zupackend“ und „immer zuversichtlich“ beschrieben Vater:
„Aber über eins waren wir uns immer einig: Wenn was im Hirn nicht stimmt, dann soll`s nicht sein“
Es gibt in dem Artikel noch etliche dieser Sätze, aus denen die Vorstellung spricht, dass das Zusammenleben mit einem behinderten Kind eine Zumutung ist, vor der werdende Eltern das Recht haben müssen bewahrt zu werden. Der wohl dramatischste dieser Sätze stammt vom Vater und lautet:
„Das Kind ist eine Zeitbombe. Kein Mensch kann uns sagen, wie wir damit leben sollen.“
Tatsächlich beschreibt der Text, wie die Eltern mit der pränatalen Diagnose und ihren Ängsten während der Schwangerschaft und nach der Geburt versorgt, aber doch alleine gelassen werden. Lakotta porträtiert den Leiter der Geburtshilfeabteilung der Münchner Universitäts Frauenklinik als einen Arzt, der vor allem daran interessiert ist, keine Schwangerschaft wegen der Behinderung des Kindes abzubrechen, keinen Fetozid auszuführen:
„Für ihn, Kainer, ist jeder Fetozid eine kleine Katastrophe, er will das nicht tun.“
Schreibt Lakotta in ihrem Text, der von ihrem Empfinden geprägt ist, dass die Geburt eines schwerbehinderten Kindes zumindest wenn die Eltern sie nicht wollen, eine große Katastrophe ist. Würde Kainer sich für das „kleinere Übel“ einsetzen, wäre er in dieser Geschichte ein tragischer Held, so erscheint er als ein zwar bisweilen nachdenklicher, letztenendes aber doch zynischer Arzt.
„Bei 115.000 Abtreibungen von gesunden Kindern pro Jahr könne man schon fragen, welchen Sinn es habe, ausgerechnet das Leben einiger hundert schwer fehlgebildeter Ungeborener gegen den Willen ihrer Mütter zu schützen“
gibt die Reporterin die Ansicht des Arzte in indirekter Rede wieder – kein Gedanke daran, dass die Aussage wenig Sinn macht, weil sie ganz unterschiedliche Probleme miteinander vermengt. Unter den 115.000 Abtreibungen pro Jahr sind Kinder mit und ohne Behinderungen, es werden dort nicht gezielt „gesunde Kinder“ zur Abtreibung freigegeben, es gibt einfach kein strafbewehrtes Verbot, das den Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Schwangerschaftswoche verhinderte. In dieser Zeit genießen Föten mit und Föten ohne Behinderung gleichermaßen keinen besonderen Schutz. Nach der 12. Schwangerschaftswoche ändert sich an dieser Gleichbehandlung durch den Gesetzgeber nichts, nur die Wertungen sind anders: Ab jetzt werden Föten mit und Föten ohne Behinderung gleichermaßen geschützt und nur noch die Gefahr für Leben und Gesundheit der Mutter führt dazu, dass der Abbruch als „nicht rechtswidrig“ qualifiziert wird. Eine Mutter, die sich in der 20. Schwangerschaftswoche entscheidet, dass sie ihr nichtbehindertes Kind nicht zur Welt bringen möchte wird mithin genauso gegen ihren Willen gezwungen, die Schwangerschaft fortzuführen, wie die Mutter eines behinderten Kindes, bei der eine Gefahr für ihr Leben und ihre Gesundheit aus ärztlicher Sicht nicht auszumachen ist.
Lakotta stutzt aber nicht wegen des gedanklichen Fehlers des Arztes, sie ist nicht damit einverstanden, dass er nicht zur Tat geschritten ist. Sie zitiert ihn mit einem Satz, dessen Zynismus sofort offenbar ist:
„Es passiert einem nichts, wenn man es nicht macht. Irgendwann fahren die mit dem Kind nach Hause und wir sind das Problem los.“
Andere Stimmen, die sich kritisch mit Spätabtreibungen auseinandersetzen gibt es in dieser Reportage nicht. Elternverbände gibt es keine, keine Selbsthilfegruppen (auf dieser Webseite finden Sie Informationen von und Kontakt zu Eltern von „Balkenmangel-Kindern“) und auch keine empathische Beobachtung von „der Ludwig“, die versuchte, sich mit dessen Wahrnehmungen und seiner Perspektive auseinanderzusetzen. Die unzureichende psychosoziale Beratung, die das Ehepaar Senge in der Schwangerschaft nach der pränatalen Diagnose offensichtlich erfahren hat, wird nicht als unzureichende psychosoziale Beratung beschrieben, sondern als normal hingenommen. Und auch die Reporterin interessierte sich nicht dafür, was man den Senges hätte sagen, wie man sie hätte unterstützen oder ihnen Mut machen können. Das ist auch nicht unbedingt Aufgabe einer Reportage. Reportagen dürfen einseitig und parteiisch sein, manchmal werden sie dadurch sogar besser. Bei einer Geschichte, die das Leben eines Kindes verhandelt und die der Frage nachgeht, ob man dessen Geburt nicht besser verhindert hätte, wird es allerdings heikel. Das Ende des Textes ist ein Zitat von Herrn Senge, der auf die Feststellung seiner Frau, dass sie sich „
„immer wieder gegen das Kind entscheiden (würden), wenn wir könnten“
bilanziert:
„Dann wär der Ludwig jetzt nicht da. Es würde immer etwas fehlen. Das wär schon genug Leid. Aber das Kind wär eingeschlafen von der Spritze, davon hätt er wahrscheinlich wenig gemerkt. Es wäre doch eine Erleichterung gewesen.“
Eine Erleichterung für die Eltern, für die Familie, zu der „der Ludwig“ nach wie vor nicht richtig dazugehört, auch wenn seine Eltern sich für ihn einsetzen und um ihn bemühen. Lakotta beschreibt, wie Familie Senge vom Bezirk Oberbayern, in dem sie lebt, im Stich gelassen wird: Die Eltern bekommen für ihren Sohn keine Kostenübernahme für die Förderung in einer integrativen Kinderkrippe, die Krankenkasse verweigert die Übernahme von Ergo- und Physiotherapie für das behinderte Kind – Alltag in einem Sozialstaat, in dem die Kosten von Maßnahmen deren Bewilligung längst stärker beeinflussen als der vorhandene Bedarf. Die (rechtswidrige) Rationierung auf Kosten von Menschen mit Behinderung führt Lakotta zu der auf den ersten Blick einleuchtenden, tatsächlich aber fatal falschen Frage:
„Darf man Eltern zwingen zum Leben mit dem behinderten Kind?“
Diese Frage zu stellen, setzt voraus, ein Wahlrecht der Eltern anzunehmen. Eltern müssten einen Anspruch darauf haben, dass ihre Kinder nach ihren Vorstellungen geraten, dass sie pflegeleicht sind, freundlich, intelligent, strebsam – alles wünschenswerte Eigenschaften, aber doch keine Ansprüche. Eltern sind aber, wenn sie sich für Kinder entscheiden, diese so zu nehmen, wie sie sind und werden: Darf man Eltern zwingen zum Leben mit einem aggressiven Kind, zum Leben mit einem Kind mit Aufmerksamkeitsdefiziten, niedriger Intelligenz, zum Leben mit einem Kind, das hässlich ist, drogensüchtig wird, früh andere Süchte entwickelt oder depressiv ist? Darf man Eltern nur zu dem zwingen, was unvermeidlich erscheint?
Anders als Lakotta meint, geht es bei Kindern mit Behinderungen nicht darum, dass dort „die Medizin Entscheidungen gegen den Willen der Eltern trifft“ – es gibt eine gesetzliche Regelung, die Schwangerschaftsabbrüche nach der 12. Woche nur unter bestimmten Bedingungen zulässt. Die eugenische (oder, weniger historisch belastet, embryopathische) Indikation, die sich Lakotta offensichtlich zurückwünscht, die tatsächlich die Behinderung des Kindes zum entscheidenden Kriterium machte, ist nicht mehr in Kraft. Sie besagte, dass ein Schwangerschaftsabbruch nicht strafbar ist, wenn
„dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß das Kind infolge einer Erbanlage oder schädlicher Einflüsse vor der Geburt an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustandes leiden würde, die so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann“
Unter der Geltung dieser Norm, konnte man die Frage stellen: „Darf man von den Eltern, verlangen mit dem behinderten Kind zu leben.“
Heute geht es ausschließlich um Gefahren für Leib und Leben der werdenden Mutter. Der Schwangerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig:
„wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftige Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann.“
Es geht also nicht darum, ob die Familie ein Kind mit Behinderung haben möchte oder nicht, auch nicht darum, welche Schwierigkeiten sie absehbar mit dem Kind haben wird oder nicht und nicht darum, ob man von der Familie verlangen kann, mit einem behinderten Kind zusammenzuleben – der Gesetzgeber hat sich entschieden, das zu verlangen und sich für das was die Eltern nach der 12. Schwangerschaftswoche wollen nicht weiter zu interessieren. Es geht ab diesem Zeitpunkt einzig und allein um die Frage, ob der Abbruch erforderlich ist, um die Gefahr einer schwerwiegenden Schädigung des Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden.
Beate Lakotta ging es mit ihrem Text darum, in der Debatte um Spätabtreibungen und die Veränderungen durch die kürzlich beschlossene Reform des Schwangerschaftskonfliktgesetzes einen Akzent gegen die Gesetzesreform zu setzen – so weit wäre dazu wenig zu sagen. Gerade in den kontroversen bioethischen Debatten ist es sinnvoll und hilfreich, wenn jemand eine andere, vielleicht eine überraschende oder auch verstörende Perspektive einnimmt. Lakotta, die sich beim Schreiben ihrer Geschichte möglicherweise als Querdenkerin gefühlt haben mag, formuliert dabei aber leider auf exemplarische Weise ganz im Geist der Zeit. Ihre Empathie für die Eltern geht auf Kosten des behinderten Kindes, das sie, wie so viele, wegen seiner Behinderung als Belastung sieht – und obwohl sie die behindernden Faktoren in der Gesellschaft sieht und beschreibt, prägt doch der Gedanke ihren Text, dass Ursache für das Leid der Eltern das behinderte Kind ist. Beakte Lakotta, mit der ich nicht nur auf manchem Podium über Palliativmedizin und Sterbehilfe diskutiert habe und mit der ich mir einig bin, dass es die Debatte um Sterbebegleitung wenig weiterbringt, wenn man ein verkitschtes Bild des Sterbens zeichnet, in dem Angst, Verzweiflung, Schmerzen und Gestank keinen Platz haben, hat nichts gegen Menschen mit Behinderung. Ihr liegt es mit Sicherheit fern, sie zu diskriminieren und sie wird wohl der Behauptung, ihr Text wirke ausgrenzend, im Gespräch entschlossen entgegentreten. Aber es ist dennoch so. Der Text bestärkt Vorurteile, er ergreift Partei für die Nichtbehinderten, die sich gegen einen Menschen wie Ludwig entscheiden – aus, wie in dem Text deutlich wird, freien Stücken. Heute weiß die Familie Senge, dass Ludwigs Existenz die Gesundheit der Mutter nicht ernstlich gefährdet hat, geschweige denn ihr Leben. Die Ärzte, die die späte Abtreibung nicht vorgenommen haben, haben sich so verhalten, wie es das Gesetz vorsieht. Wäre der Fetus, der später Ludwig wurde, damals durch eine Spritze ins Herz getötet worden, wäre das für die Eltern vielleicht eine Erleichterung gewesen – liest man Berichte von Frauen, die spät abgetrieben haben, ist auch das keineswegs ausgemacht – mehr aber nicht. Dass Beate Lakotta ihre Reportage so komponiert und dramaturgisch entwickelt hat, dass man am Ende die Senges doch ganz sympathisch findet, weil sie „den Ludwig“ heute nicht mißhandeln, ins Heim abschieben oder ihn sonstwie vernachlässigen, dass man aber bei unbefangener Lektüre mit ihnen zu der Auffassung gelangt, dass eine späte Abtreibung wegen der Behinderung ganz in Ordnung ist, weil es für die Nichtbehinderten eine Erleichterung bedeutet, ist allerdings nichts anderes als das: diskriminierend. Das Recht eines Menschen auf Leben wird in Frage gestellt, weil er so ganz anderesgeworden ist, als ihn sich seine Familie gewünscht hat….
Dass es übrigens auch ganz anders geht, dass man aus der Perspektive eines nichtbehinderten Menschen über das Leben mit einem behinderten Menschen schreiben kann ohne Probleme, Wut und Verzweiflung, die dabei auch aufkommen können, zu übergehen zeigt das vor kurzem erschienene Buch von Marianne Glaßer, Keine heile Welt – Leben mit einem behinderten Kind, Mabuse-Verlag, 166 Seiten, auf das ich bei Gelegenheit zurückkommen werde.
Über Anmerkungen und Meinungsäußerungen von Ihnen freue ich mich (Sie brauchen sich nicht anzumelden)
Danke für diesen Beitrag. Den...
Danke für diesen Beitrag. Den Artikel im Spiegel hatte ich (Schwester eines Menschen mit Behinderung) begonnen zu lesen, bis mir ob all‘ dieser so scheinbar selbstverständlich dahin geschriebenen Sätze das Blut in den Adern gefror. Ich sprang zum Schluss des Artikels in der Hoffnung, dort versöhnlich Sätze zu finden, Sätze aus der Perspektive Ludwigs, der zu einer verfügbaren Masse geworden schien. Wo blieb er als Person? Wo sein Recht auf Leben? Denn wenn er keines mehr hat, wie geht es uns dann eines Tages, wenn wir an Alzheimer „verböden“, dement und inkontinent werden, und es „halt eine Erleichterung“ ist, wenn man uns die letzte Spritze verpasst?
Und hat Familie Senge nicht verpasst, an und mit diesem Kind zu wachsen? Erwachsen zu werden, ja zu sagen zu einem Leben, dass eben kein „Ponyhof“ ist? Ist nicht Liebe das, nicht sich selbst zu verwirklichen, sondern auch den anderen und damit das „wir“? Das heißt ja nicht bedingungslose Hingabe, ein sich selbst aufgeben, sondern im biblischen Sinne den „Nächsten lieben wie sich selbst“ – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Vielleicht muss man als Familie dann doch professionell gezeigt bekommen, wie man sich im Alltag von zu hohen Ansprüchen abgrenzen kann, Hilfe dazu holen kann und sich die nötigen Freiräume zu schaffen, damit man das eigene Kind wieder als das sehen kann, was es ist: als eine liebenswerte, wünschenswerte Person.
Ob frühe oder späte...
Ob frühe oder späte Abtreibung. Fakt ist, dass die Tötung vorgeburtlichen menschlichen Lebens in Deutschland in vielerlei Hinsicht akzeptiert wird. Nichts lieget mir ferner, als dies moralisch zu beurteilen. Nur hat die Politik mit der der Fristenregelung den Stein ins Rollen gebracht. Wer wundert sich dann, dass Eltern ihre eigenen Verantwortung negieren und nach dem Staat rufen und den Ärzten rufen. Wie es denn gerade passt. Und noch eine Tatsache die nachdenklich macht. Aus der Gegend aus der ich stamme war es nach Bekunden meiner Großmutter, noch vor 80 Jahren üblich und allgemein akzeptiert, offensichtlich schwer behinderte Kinder bei der Geburt mit einem Kissen zu ersticken. Abtreibung als solche war jedoch gleichzeitig ein verabscheuenswürdiges Verbrechen. Wie sich doch die Gewichte verschieben. Und bevor ich es vergesse. Wir leben mit unserer zugegeben nicht zu schwer körperbehinderten Tochter glücklich im Ausland in Baku. Sie ist keine Last, niemals.
Sehr geehrter Herr...
Sehr geehrter Herr Tolmein,
auch Ihnen dürfte nicht entgangen sein, daß sich der Artikel von Frau Lakotta bestens in den Beginn einer bewußt vom Spiegel angesetzten Reihe paßt, die mit einem Interview mit einer Psychaterin beginnt. Bereits dieses Interview gibt die im letzten Jahrzehnt fokusierte des Verlags vor: erzreaktionäre Weltsicht christlicher Prägung gegen säkulär liberales Verständnis. Ob es sich um Evolutionstheorie oder Abtreibungen handelt, opponierende Denkmuster wie sie die USA kennzeichnen, werden eins zu eins übernommen und dann im Namen der Freiheit und der ratio gegen alles vermeintlich überkommene angeschrieben, natürlich in einem die Gegenseite verleumdenden Ton.
Diese Art von Journalismus verdient keinen Respekt.
<p>@weicc001: Das <a...
@weicc001: Das Interview kenne ich. Schon der Vorspann führt leider in die Irre:
In Deutschland ist Abtreibung auch in den letzten Schwangerschaftswochen möglich, wenn der Fötus behindert ist – doch viele Ärzte verweigern einen Abbruch aus moralischen Gründen.“
Denn nach § 218a StGB ist die Abtreibung auch in den letzten Schwangerschaftswochen möglich, wenn der Fötus nicht behindert ist – die Behinderung an sich ist kein eigenständiges Kriterium.
Aber trotzdem: Wo sehen Sie die Reihe? Dass eine Redaktion Texte bewußt platziert, wird man ihr kaum vorhalten können, irritierender wäre das Gegenteil. Und zwei Texte einer Autorin zu einem wichtigen Thema halte ich noch nicht für eine Kampagne…. (oder was würden Sie sonst, umgekehrt, aus meinem Blog schließen….?).
Sie, Herr Tolmein, setzen sich...
Sie, Herr Tolmein, setzen sich für ein behindertes Kind ein, dem man sein Lebensrecht abspricht. Ihr Artikel ist parteiisch und einseitig. Wie das Plädoyer eines engagierten Anwalts vor Gericht. Ein Plädoyer, das von Herzen kommt. Solch einen Anwalt würde ich mir wünschen, wenn ich auf Leben und Tod angeklagt wäre. Doch sicher kennen Sie als Jurist auch die Maxime: Audiatur et altera pars! Deshalb möchte ich etwas ansprechen, bei dem mir unbehaglich ist. Sie argumentieren: Die Frage „Darf man Eltern zwingen zum Leben mit dem behinderten Kind?“ sei falsch gestellt, die Eltern hätten kein Wahlrecht. Deshalb meine – wie ich zugebe – provokative Frage an Sie als Jurist und Mensch: Aus dem islamischen Kulturkreis und auch aus unserer eigenen Vergangenheit ist die Sitte der Zwangsheirat bekannt. Ein Mädchen wird zum Leben mit einem Mann gezwungen, den sie sich nicht ausgesucht hat und vielleicht ablehnt. Nach dem Motto: Die Liebe kommt schon mit der Zeit! Reden Sie nicht das Wort einer Zwangselternschaft? Kennt unser Rechtssystem etwas in dieser Art?
@Herr Wengel: Nicht alle...
@Herr Wengel: Nicht alle Problemlagen, die durch das Wort „Zwang“ verbunden scheinen, sind gleich zu bewerten. Mir ging es in meiner Kritik des „Spiegel“-Textes vor allem darum, dass bei gegenwärtiger Rechtslage nach der 12. Schwangerschaftswoche die Abtreibung grundsätzlich verboten ist, auch wenn es vernünftigerweise Ausnahmen gibt. Da Eltern die genetische Ausstattung ihres Kindes nicht beeinflussen können – sehen wir mal vom heiklen Fall der Präimplantationsdiagnose ab – sind sie immer auf irgendeine Weise gezwungen, mit den Kindern zu leben, die sie bekommen (wenn sie sich überhaupt dazu entscheiden) . Das ist der entscheidende Unterschied zur „Zwangsheirat“ (die es auch im christlichen Kulturkreis gab): Da bestünde grundsätzlich ein sehr weitgehendes Wahlrecht, das aber aus bestimmten Gründen suspendiert wird.
Überdies geht es bei der Frage „Heirat oder nicht“ zwar um ein gehöriges Stück Leben, aber nicht um den Tod: Räumen wir Eltern, wie es bis 1995 war, das Recht ein, sich gegen Kindern mit Behinderungen zu entscheiden, wird die Behinderung zum Merkmal, das über Leben und Tod entscheidet. Das bedeutet eine enorme Diskriminierung einer ganzen Gruppe von Menschen. Deswegen hat sich der Gesetzgeber entschieden, diese Regelung aufzuheben.
Vergleichbare Konstellationen gibt es bei der Zwangsheirat bzw. bei der Ablehnung der Zwangsheirat nicht: Wenn Zwangsheiraten abgeschafft werden, stirbt niemand, es wird keine Gruppe nachhaltig diskriminiert….
Ihre Frage knapp beantwortet: Ich bin dafür, dass sich Menschen entscheiden können, ob sie Eltern werden wollen; ich bin dagegen, dass Sie ein freies Entscheidungsrecht darüber haben, ob der Fetus leben soll, weil er bestimmte Eigenschaften (richtiges Geschlecht, richtige genetische Merkmale) hat oder nicht hat. Ich bin übrigens auch dafür, dass solche Grundsätze in dramatische Einzelfällen Ausnahmen kennen (aber die sieht unsere Rechtsordnung auch vor).
...
https://www.rehakids.de/phpBB2/ftopic56440.html.
Guten Morgen Herr Tolmailn,
vielleicht ist diese Diskussion, die durch den artikel entstanden ist, sehr interessant für Sie.
Ihr Kommentar ist ein wahrer...
Ihr Kommentar ist ein wahrer Segen. Eine Erleichterung, ihn zu lesen. Mir dreht sich bei dieser menschenverachtenden Diskussion um das Existenzrecht „unwerten“ Lebens, um den Nazi-Sprachgebrauch hier passend zu zitieren, nämlich der Magen um. Vielen Dank für Ihre kluge und engagierte Analyse dieser zeitgenössischen Variationen der Euthanasie-Argumente.
Herr Tolmein, ich habe über...
Herr Tolmein, ich habe über Ihre Argumentation intensiv nachgedacht, mit meiner Lebensgefährtin darüber gesprochen und vielleicht ist mir etwas klargeworden:
Bei der leidenschaftlichen Diskussion um Abtreibung und Euthanasie geht es hauptsächlich um Kränkung, also um das menschliche Selbstwertgefühl, um Würde also, wenn man so will.
Westdeutsche Feministinnen, die in den 70ern mit Vehemenz die Freigabe der Abtreibung erstritten haben, begrüßten es sicher als Fortschritt, dass sie auch in Ländern wie China erlaubt ist. Doch diese Einstellung schlug bei vielen ins Gegenteil um, als bekannt wurde, dass viele bäuerlich-konservative Chinesen bevorzugt weibliche Föten abtreiben, weil ihnen ein Sohn lieber ist, als „nur“ ein Mädchen. Nun ließe sich einwenden: Einer deutschen Frau kann es doch egal sein, ob in China bevorzugt weibliche Föten getötet werden. Ist es aber nicht, weil diese Praxis eine kränkende Aussage impliziert: Frauen sind weniger wert als Männer. Wäre ich eine Frau, würde es mich auch empören.
So wird es auch verständlich, wenn es einem Behinderten relativ egal ist, wenn Frauen abtreiben, weil sie vergewaltigt wurden oder noch in der Ausbildung sind, nicht aber, weil der Fötus behindert ist. Denn in letzterem Fall handelt doch die Frau aus der Einstellung heraus: Das Leben eines Behinderten ist nicht lebenswert, ein behindertes Kind kann ich nicht lieben – wäre ich behindert, würde es mich vielleicht auch kränken. Ein kränkendes Menschenbild materialisiert sich zu diskriminierender Praxis.
Oder Frau Schardt, die sich von Kusch zum Suizid helfen ließ, weil sie nicht ins Pflegeheim wollte. Hat sie doch damit bekundet: Ich finde das Leben im Pflegeheim nicht lebenswert – eine schwere Kränkung für alle Pflegebedürftigen! Wie gut, dass diesem Kusch, der uns so kränkt, endlich das Handwerk gelegt ist!
Der Schutz des Selbstwertgefühls vor Kränkung geht in unserer Rechtsordnung offenbar vor Selbstbestimmung.
@Herr Wengel: ein...
@Herr Wengel: ein interessanter Ansatz. Dem letzten Satz kann ich aber definitiv nicht zustimmen, weil die Alternative unzutreffend ist: Selbstbestimmungsrecht ist ja kein Privileg von nichtbehinderten Menschen oder gar nur von schwangeren Frauen. Menschen mit Behinderungen fordern auch Selbstbestimmungsrecht ein – die Frage ist: Wo findet es seine Grenzen (Grundrechte haben – bis auf das der Menschenwürde – Schranken)? Hier geht es vielleicht um den Konflikt von Menschenwürde und Selbstbestimmungsrecht… Und noch zwei kurze Anmerkungen: Es gibt ja auch behinderte Frauen – die ein sehr nachdrückliches Interesse an Bevölkerungspolitik haben. Leider werden auch behinderte Frauen vergewaltigt – es ist also Behinderten nicht zwangsläufig „relativ egal“, wenn eine Frau abtreibt, weil sie vergewaltigt wurde. Die meisten Menschen haben doch mehrere Identitäten/Zugehörigkeiten…..Deswegen funktionieren unsere sozialen Systeme auch etwas komplexer und lassen sich manchmal schlecht nur nach Betroffenheiten sortieren…