Biopolitik

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Das Kind als Zeitbombe – Behinderung im "Spiegel" der Nichtbehinderten

| 72 Lesermeinungen

Den „Spiegel" lese ich nur noch selten. Enthüllungen und Skandale interessieren mich angesichts der oft schon empörenden Normalität nicht so sehr und...

Den „Spiegel“ lese ich nur noch selten. Enthüllungen und Skandale interessieren mich angesichts der oft schon empörenden Normalität nicht so sehr und der „Spiegel“-Stil, auch wenn er mittlerweile an Diversity gewonnen hat, ermüdet mich eher. Eine der Autorinnen des „Spiegel“, die ich dagegen gerne lese, ist Beate Lakotta – weil ihre Geschichten nüchterner und lapidarer sind, weil darin nicht das kunstvoll bemühte Wortgeklingel den Ton angibt, sondern die Menschen, die sie beschreibt. Die Geschichte Der Ludwig lacht wäre mir dennoch nicht aufgefallen, wenn nicht am Donnerstag im Kleist-Haus in Berlin (auf einer Tagung des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft), kurz nachdem ich nachdrücklich dazu aufgefordert hatte, die Richterinnen und Richter mit besonderem Bedacht in Sachen „Menschenrechte von Behinderten“ weiterzubilden, einige Zwischenrufer recht entschieden angemerkt hätten: „Und die Journalisten auch!“ Den unmittelbaren Anlaß für die gereizte Stimmung bot der Artikel von Beate Lakotta, ein stimmunsgvolles Portrait einer Familie

„mit einem Kind, das sie so nicht haben wollte“

Der Vorspann stimmt die Leserinnnen und Leser nicht nur ein, sondern verdeutlicht auch gleich die Perspektive der Autorin und zeigt, wo sie den Trennungsstrich zieht. Auf der einen Seite gibt es nämlich „die Familie“ auf der anderen das Kind, „das sie so nicht haben wollte.“  – „Der Ludwig“ mag im rechtlichen Sinn zur Familie gehören, tatsächlich bleibt er ein Fremdkörper. Einer, der nicht dazu gehört, weil er nicht so geworden ist, wie gewollt – nämlich nichtbehindert. Während die Reporterin über das erste, nichtbehinderte Kind der Familie gewissenhaft vermerkt

 „Felix, dessen richtigen Vornamen die Eltern bitten in dieser Geschichte nicht zu nennen“

gilt derlei Besorgnis um den Schutz des Persönlichkeitsrechts für „der Ludwig“, dessen Recht auf Leben hier offen in Frage gestellt wird, offenbar nicht.

Beate Lakotta schreibt über die Eltern:

„Auch heute noch, sind sie der Meinung, sie hätten das Recht haben müssen, sich gegen dieses Kind zu entscheiden, als sie von seiner Behinderung erfuhren.“

Die Reporterin macht keinen Hehl daraus, dass sie diese Auffassung teilt und sie zitiert den als „zupackend“ und „immer zuversichtlich“ beschrieben Vater:

„Aber über eins waren wir uns immer einig: Wenn was im Hirn nicht stimmt, dann soll`s nicht sein“

Es gibt in dem Artikel noch etliche dieser Sätze, aus denen die Vorstellung spricht, dass das Zusammenleben mit einem behinderten Kind eine Zumutung ist, vor der werdende Eltern das Recht haben müssen bewahrt zu werden. Der wohl dramatischste dieser Sätze stammt vom Vater und lautet:

„Das Kind ist eine Zeitbombe. Kein Mensch kann uns sagen, wie wir damit leben sollen.“

Tatsächlich beschreibt der Text, wie die Eltern mit der pränatalen Diagnose und ihren Ängsten während der Schwangerschaft und nach der Geburt versorgt, aber doch alleine gelassen werden. Lakotta porträtiert den Leiter der Geburtshilfeabteilung der Münchner Universitäts Frauenklinik als einen Arzt, der vor allem daran interessiert ist, keine Schwangerschaft wegen der Behinderung des Kindes abzubrechen, keinen Fetozid auszuführen:

„Für ihn, Kainer, ist jeder Fetozid eine kleine Katastrophe, er will das nicht tun.“

Schreibt Lakotta in ihrem Text, der von ihrem Empfinden geprägt ist, dass die Geburt eines schwerbehinderten Kindes zumindest wenn die Eltern sie nicht wollen, eine große Katastrophe ist. Würde Kainer sich für das „kleinere Übel“ einsetzen, wäre er in dieser Geschichte ein tragischer Held, so erscheint er als ein zwar bisweilen nachdenklicher, letztenendes aber doch zynischer Arzt.

„Bei 115.000 Abtreibungen von gesunden Kindern pro Jahr könne man schon fragen, welchen Sinn es habe, ausgerechnet das Leben einiger hundert schwer fehlgebildeter Ungeborener gegen den Willen ihrer Mütter zu schützen“

gibt die Reporterin die Ansicht des Arzte in indirekter Rede wieder – kein  Gedanke daran, dass die Aussage wenig Sinn macht, weil sie ganz unterschiedliche Probleme miteinander vermengt. Unter den 115.000 Abtreibungen pro Jahr sind Kinder mit und ohne Behinderungen, es werden dort nicht gezielt „gesunde Kinder“ zur Abtreibung freigegeben, es gibt einfach kein strafbewehrtes Verbot, das den Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Schwangerschaftswoche verhinderte. In dieser Zeit genießen Föten mit und Föten ohne Behinderung gleichermaßen keinen besonderen Schutz. Nach der 12. Schwangerschaftswoche ändert sich an dieser Gleichbehandlung durch den Gesetzgeber nichts, nur die Wertungen sind anders: Ab jetzt werden Föten mit und Föten ohne Behinderung gleichermaßen geschützt und nur noch die Gefahr für Leben und Gesundheit der Mutter führt dazu, dass der Abbruch als „nicht rechtswidrig“ qualifiziert wird. Eine Mutter, die sich in der 20. Schwangerschaftswoche entscheidet, dass sie ihr nichtbehindertes Kind nicht zur Welt bringen möchte wird mithin genauso gegen ihren Willen gezwungen, die Schwangerschaft fortzuführen, wie die Mutter eines behinderten Kindes, bei der eine Gefahr für ihr Leben und ihre Gesundheit aus ärztlicher Sicht nicht auszumachen ist.

Lakotta stutzt aber nicht wegen des gedanklichen Fehlers des Arztes, sie ist nicht damit einverstanden, dass er nicht zur Tat geschritten ist. Sie zitiert ihn mit einem Satz, dessen Zynismus sofort offenbar ist:

„Es passiert einem nichts, wenn man es nicht macht. Irgendwann fahren die mit dem Kind nach Hause und wir sind das Problem los.“

Andere Stimmen, die sich kritisch mit Spätabtreibungen auseinandersetzen gibt es in dieser Reportage nicht. Elternverbände gibt es keine, keine Selbsthilfegruppen (auf dieser Webseite finden Sie Informationen von und Kontakt zu Eltern von „Balkenmangel-Kindern“) und auch keine empathische Beobachtung von „der Ludwig“, die versuchte, sich mit dessen Wahrnehmungen und seiner Perspektive auseinanderzusetzen. Die unzureichende psychosoziale Beratung, die das Ehepaar Senge in der Schwangerschaft nach der pränatalen Diagnose offensichtlich erfahren hat, wird nicht als unzureichende psychosoziale Beratung beschrieben, sondern als  normal hingenommen. Und auch die Reporterin interessierte sich nicht dafür, was man den Senges hätte sagen, wie man sie hätte unterstützen oder ihnen Mut machen können. Das ist auch nicht unbedingt Aufgabe einer Reportage. Reportagen dürfen einseitig und parteiisch sein, manchmal werden sie dadurch sogar besser. Bei einer Geschichte, die das Leben eines Kindes verhandelt und die der Frage nachgeht, ob man dessen Geburt nicht besser verhindert hätte, wird es allerdings heikel. Das Ende des Textes ist ein Zitat von Herrn Senge, der auf die Feststellung seiner Frau, dass sie sich „

 „immer wieder gegen das Kind entscheiden (würden), wenn wir könnten“

bilanziert:

„Dann wär der Ludwig jetzt nicht da. Es würde immer etwas fehlen. Das wär schon genug Leid. Aber das Kind wär eingeschlafen von der Spritze, davon hätt er wahrscheinlich wenig gemerkt. Es wäre doch eine Erleichterung gewesen.“

Eine Erleichterung für die Eltern, für die Familie, zu der „der Ludwig“ nach wie vor nicht richtig dazugehört, auch wenn seine Eltern sich für ihn einsetzen und um ihn bemühen. Lakotta beschreibt, wie Familie Senge vom Bezirk Oberbayern, in dem sie lebt, im Stich gelassen wird: Die Eltern bekommen für ihren Sohn keine Kostenübernahme für die Förderung in einer integrativen Kinderkrippe,  die Krankenkasse verweigert die Übernahme von Ergo- und Physiotherapie für das behinderte Kind – Alltag in einem Sozialstaat, in dem die Kosten von Maßnahmen deren Bewilligung längst stärker beeinflussen als der vorhandene Bedarf. Die (rechtswidrige) Rationierung auf Kosten von Menschen mit Behinderung führt Lakotta zu der auf den ersten Blick einleuchtenden, tatsächlich aber fatal falschen Frage:

„Darf man Eltern zwingen zum Leben mit dem behinderten Kind?“

Diese Frage zu stellen, setzt voraus, ein Wahlrecht der Eltern anzunehmen. Eltern müssten einen Anspruch darauf haben, dass ihre Kinder nach ihren Vorstellungen geraten, dass sie pflegeleicht sind, freundlich, intelligent, strebsam – alles wünschenswerte Eigenschaften, aber doch keine Ansprüche. Eltern sind aber, wenn sie sich für Kinder entscheiden, diese so zu nehmen, wie sie sind und werden: Darf man Eltern zwingen zum Leben mit einem aggressiven Kind, zum Leben mit einem Kind mit Aufmerksamkeitsdefiziten, niedriger Intelligenz, zum Leben mit einem Kind, das hässlich ist, drogensüchtig wird, früh andere Süchte entwickelt oder depressiv ist? Darf man Eltern nur zu dem zwingen, was unvermeidlich erscheint?

Anders als Lakotta meint, geht es bei Kindern mit Behinderungen nicht darum, dass dort „die Medizin Entscheidungen gegen den Willen der Eltern trifft“ – es gibt eine gesetzliche Regelung, die Schwangerschaftsabbrüche nach der 12. Woche nur unter bestimmten Bedingungen zulässt. Die eugenische (oder, weniger historisch belastet, embryopathische) Indikation, die sich Lakotta offensichtlich zurückwünscht, die tatsächlich die Behinderung des Kindes zum entscheidenden Kriterium machte, ist nicht mehr in Kraft. Sie besagte, dass ein Schwangerschaftsabbruch nicht strafbar ist, wenn

„dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß das Kind infolge einer Erbanlage oder schädlicher Einflüsse vor der Geburt an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustandes leiden würde, die so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann“

Unter der Geltung dieser Norm, konnte man die Frage stellen: „Darf man von den Eltern, verlangen mit dem behinderten Kind zu leben.“

Heute geht es ausschließlich um Gefahren für Leib und Leben der werdenden Mutter. Der Schwangerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig:

„wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftige Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann.“

Es geht also nicht darum, ob die Familie ein Kind mit Behinderung haben möchte oder nicht, auch nicht darum, welche Schwierigkeiten sie absehbar mit dem Kind haben wird oder nicht und nicht darum, ob man von der Familie verlangen kann, mit einem behinderten Kind zusammenzuleben – der Gesetzgeber hat sich entschieden, das zu verlangen und sich für das was die Eltern nach der 12. Schwangerschaftswoche wollen nicht weiter zu interessieren. Es geht ab diesem Zeitpunkt einzig und allein um die Frage, ob der Abbruch erforderlich ist, um die Gefahr einer schwerwiegenden Schädigung des Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden.

Beate Lakotta ging es mit ihrem Text darum, in der Debatte um Spätabtreibungen und die Veränderungen durch die kürzlich beschlossene Reform des Schwangerschaftskonfliktgesetzes einen Akzent gegen die Gesetzesreform zu setzen – so weit wäre dazu wenig zu sagen. Gerade in den kontroversen bioethischen Debatten ist es sinnvoll und hilfreich, wenn jemand eine andere, vielleicht eine überraschende oder auch verstörende Perspektive einnimmt. Lakotta, die sich beim Schreiben ihrer Geschichte möglicherweise als Querdenkerin gefühlt haben mag, formuliert dabei aber leider auf exemplarische Weise ganz im Geist der Zeit. Ihre Empathie für die Eltern geht auf Kosten des behinderten Kindes, das sie, wie so viele, wegen seiner Behinderung als Belastung sieht – und obwohl sie die behindernden Faktoren in der Gesellschaft sieht und beschreibt, prägt doch der Gedanke ihren Text, dass Ursache für das Leid der Eltern das behinderte Kind ist. Beakte Lakotta, mit der ich nicht nur auf manchem Podium über Palliativmedizin und Sterbehilfe diskutiert habe und mit der ich mir einig bin, dass es die Debatte um Sterbebegleitung wenig weiterbringt, wenn man ein verkitschtes Bild des Sterbens zeichnet, in dem Angst, Verzweiflung, Schmerzen und Gestank keinen Platz haben, hat nichts gegen Menschen mit Behinderung. Ihr liegt es mit Sicherheit fern, sie zu diskriminieren und sie wird wohl der Behauptung, ihr Text wirke ausgrenzend, im Gespräch entschlossen entgegentreten. Aber es ist dennoch so. Der Text bestärkt Vorurteile, er ergreift Partei für die Nichtbehinderten, die sich gegen einen Menschen wie Ludwig entscheiden – aus, wie in dem Text deutlich wird, freien Stücken. Heute weiß die Familie Senge, dass Ludwigs Existenz die Gesundheit der Mutter nicht ernstlich gefährdet hat, geschweige denn ihr Leben. Die Ärzte, die die späte Abtreibung nicht vorgenommen haben, haben sich so verhalten, wie es das Gesetz vorsieht. Wäre der Fetus, der später Ludwig wurde, damals durch eine Spritze ins Herz getötet worden, wäre das für die Eltern vielleicht eine Erleichterung gewesen – liest man Berichte von Frauen, die spät abgetrieben haben, ist auch das keineswegs ausgemacht – mehr aber nicht. Dass Beate Lakotta ihre Reportage so komponiert und dramaturgisch entwickelt hat, dass man am Ende die Senges doch ganz sympathisch findet, weil sie „den Ludwig“ heute nicht mißhandeln, ins Heim abschieben oder ihn sonstwie vernachlässigen, dass man aber bei unbefangener Lektüre mit ihnen zu der Auffassung gelangt, dass eine späte Abtreibung wegen der Behinderung ganz in Ordnung ist, weil es für die Nichtbehinderten eine Erleichterung bedeutet, ist allerdings nichts anderes als das: diskriminierend. Das Recht eines Menschen auf Leben wird in Frage gestellt, weil er so ganz anderesgeworden ist, als ihn sich seine Familie gewünscht hat….

Dass es übrigens auch ganz anders geht, dass man aus der Perspektive eines nichtbehinderten Menschen über das Leben mit einem behinderten Menschen schreiben kann ohne Probleme, Wut und Verzweiflung, die dabei auch aufkommen können, zu übergehen zeigt das vor kurzem erschienene Buch von Marianne Glaßer, Keine heile Welt – Leben mit einem behinderten Kind, Mabuse-Verlag, 166 Seiten, auf das ich bei Gelegenheit zurückkommen werde.  

Über Anmerkungen und Meinungsäußerungen von Ihnen freue ich mich (Sie brauchen sich nicht anzumelden)

 

 


72 Lesermeinungen

  1. erz sagt:

    Herzlichen Dank für diesen...
    Herzlichen Dank für diesen Beitrag. Ich würde diesem Artikel allerdings noch eine Runde Redigierung wünschen. Das Thema ist zu wichtig, um als Schnellschuss abgehandelt zu werden – vielleicht findet sich ja noch etwas Zeit, den Artikel aufzupolieren. Ich wünsche ihm jedenfalls weitere Verbreitung, als er ein bedenkliches Defizit in unserer Gesellschaft ganz deutlich macht:
    Behinderte sind in Deutschland Menschen zweiter Klasse. Dabei gibt es gar keine Güterabwägung, ob Eltern mit einem behinderten Kind leben können oder nicht. Es gibt keine Güterabwägung, ob man sich das Leben mit Behinderten „leisten“ will und ob Staat und Gesellschaft die Kosten aufbringen wollen, die notwendig sind, um Behinderten die gleiche Lebensqualität zu ermöglichen wie Nichtbehinderten. Es gibt keine Güterabwägung aus einem ganz einfachen Grund: Das höchste Gut unserer Republik ist die Menschenwürde und als solches unantastbar.
    Behinderte haben das gleiche Recht auf Menschenwürde wie nichtbehinderte Menschen. Sie haben allerdings nicht die Lobby, die Gesellschaft davon zu überzeugen, dass sie nicht „die Anderen“ sind, also ein Fremdkörper, sondern ein Teil der Gesellschaft wie andere auch.
    Das Recht der Frauen am eigenen Körper bleibt davon unberührt und sollte die Diskussion nicht fälschlicherweise dominieren. Genau so wenig wie die unbestrittene Notwendigkeit, Eltern, die mit einem behinderten Kind überfordert sind, zu unterstützen.

  2. onli sagt:

    Also gemäß der Beschreibung...
    Also gemäß der Beschreibung des Artikels ist Ludwig kaum in der Lage, irgendein Selbstbestimmungsrecht einzufordern. Daher ist die Argumentation hier mir unverständlich. Der Artikel hat als Fazit hinterlassen, dass entweder Eltern selbst bestimmen können sollten, ob sie mit einem so stark geistig behinderten Kind leben wollen, oder aber bei Verweigerung dieser Entscheidungsmöglichkeit der Staat sie vollständig unterstützen muss. Das erscheint mir in keiner Weise diskriminierend, sondern notwendig.
    Ludwig als behindertes Kind scheint mir als Projektionsfläche benutzt werden für die Wünsche anderer Menschen, nicht zweingend behinderter, ohne sich zu fragen, zu welchen Bewusstseinsleistungen Ludwig überhaupt in der Lage ist.
    Die Argumentation hier wirft der Autorin des Artikels vor, Ludwigs Recht auf Leben zu verneinen – doch was ist mit dem Recht der Eltern auf ihr Leben?

  3. erz sagt:

    Im Grunde begrüße ich sogar...
    Im Grunde begrüße ich sogar den ursprünglichen Artikel, wenn er doch wenigstens die notwendige Diskussion um die Rolle der Behinderten in der Gesellschaft befeuert. Es gilt eben nicht, „Recht auf Leben“ gegeneinander abzuwägen. Die Eltern von Ludwig haben die gleichen Rechte und Pflichten, wie andere Eltern auch. Sie müssen sich noch nicht einmal um das Kind kümmern. Viele Eltern nichtbehinderter Kinder sind dazu nicht in der Lage.
    Deswegen ist es richtig zu fordern, dass der Staat unterstützen muss – er muss nichts weiter tun, als seiner ureigensten Pflicht nachkommen, die Menschenwürde seiner Bürger zu schützen. Das wird aber zunächst einmal gesellschaftliches Umdenken erfordern, wie der Diskurs aus beiden Artikeln eindrücklich vorexerziert.

  4. Lutz Barth sagt:

    Ein überaus schwieriges...
    Ein überaus schwieriges Thema, bei dem keine einfachen Antworten gegeben werden können. Andererseits müssen wir uns von dem Irrglauben verabschieden, dass die „Würde des Menschen“ unantastbar und insofern keiner Abwägung zugänglich sei. O. Tolmein hat zu recht darauf hingewiesen, dass Menschen mit Behinderungen sowie die Eltern ein Selbstbestimmungsrecht haben und diesen selbstverständlich auch der allumfassende Würdeschutz zuteil wird. Die von ihm aufgeworfene Frage, wo ggf. das Selbstbestimmungsrecht der Eltern die Grenzen gezogen werden müssen, ist denn auch m.E. nach hinreichend klar zu beantworten: an der Würde des behinderten Kindes.
    Nun haben wir es aber spätestens seit den beiden Entscheidungen des BVerfG mit dem verfassungsrechtlichen Befund zu tun, dass die Würde des Menschen durchaus einer Abwägung zugänglich ist, denn sollte die Würde tatsächlich unantastbar sein, dann gäbe es schlicht und manchmal ergreifend keine Schwangerschaftsabbrüche, mal von dem Fall abgesehen, dass hier Leib und Leben der werdenden Mutter bedroht wäre. Was also bleibt? Vielleicht die weitere Überlegung, ob nicht eine liberale Regelung einer positiven Eugenik gerade in Kenntnis der weit fortgeschrittenen Möglichkeiten einer pränatalen Diagnostik wünschenswert wäre, um ggf. solche Dilemmata von vornherein zu vermeiden. Die andere Alternative wäre im Zweifel in einer passiven Sterbehilfe zu erblicken, in der bei einer Krankheit der Verzicht auf therapeutisch sinnvolle, aber ggf. dem Wohl des Kindes widersprechende ärztliche Behandlungsmaßnahmen verzichtet wird. In jeder dieser Alternative verbirgt sich freilich ethischer Sprengstoff, den zu zünden kaum möglich, aber nach diesseitiger Auffassung dennoch notwendig erscheint.
    Abwägungsprobleme ergeben sich weniger auf der Ebene des Selbstbestimmungsrechts vs. Menschenwürde, sondern vielmehr auf der Ebene einer Menschenwürdekollision. Die Frage also ist, dürfen wir hier den Rubikon überschreiten, der wohl nach der Fallschilderung im Spiegel hätte überschritten werden dürfen, aber eben dieser Schritt aus offenkundig hervorgetretenen Gründen unterblieben ist.
    Nun regt sich sicherlich bei vielen LeserInnen der Unmut; aber derartig hoch brisante Entscheidungen sind dem deutschen Justizwesen auch für den Fall einer Lebendgeburt mit Blick auf eine Sterbehilfe nicht fremd.
    Das OLG Hamm hatte seinerzeit mit Beschluss v. 24.05.07 – Az. 1 UF 78/07 über die Frage zu entscheiden gehabt, ob die elterliche Sorge in Teilen den Eltern entzogen werden kann, wenn diese insoweit beabsichtigen, lebenserhaltende medizinische Maßnahmen und die künstliche Ernährung bei ihrem schwerstbehinderten Kind beenden zu wollen. Das OLG Hamm hat diese Frage verneint und dazu u.a. ausgeführt, dass das Zulassen des symptomfreien Sterbens nicht dem Wohl des Kindes widerspricht.
    Das hierzu anhängige Verfahren vor dem BVerfG brauchte insoweit nicht entschieden zu werden, weil das Kind während des Beschwerdeverfahrens verstorben war.
    Natürlich kommt es hier jeweils auf den berühmten Einzelfall an, so dass generelle Lösungen nicht angeboten werden können. Entscheidend allerdings dürfte die weitere Prognose über die Entwicklung des Gesundheitszustandes des Kindes sein, anhand derer dann die Entscheidungsmöglichkeiten zu diskutieren wären.
    Eine wahrlich nicht leichte „Aufgabe“, die aber nicht deswegen „leichter“ wird, in dem wir nach wie vor so tun, als sei die „Menschenwürde“ unantastbar. Hier frönen wir einer Idee, die nicht ganz zu unrecht von Kirchen als Trugschluss mit Blick auf die zig-tausendfachen Schwangerschaftsabbrüche entlarvt worden ist.

  5. tolmein sagt:

    @Barth: Eine kurze Anmerkung...
    @Barth: Eine kurze Anmerkung und eine Korrektur: Sie unterscheiden nicht zwischen Lebensrecht und Menschenwürde. Das Recht auf Leben ist seit eh und je nicht absolut gegeben (Krieg), die Menschenwürde dagegen ist nicht abwägungsfähig und gilt vor allem als einziges Grundrecht schrankenlos – das ist einer der entscheidenden Gründe für das Folterverbot.
    Das Bundesverfassungsgericht hat entgegen Ihrer Darstellung den OLG Hamm-Fall durchaus entschieden (1 BvQ 18/07) und hat die Entscheidung des OLG Hamm im Wege der einstweiligen Anordnung aufgehoben – da es keine Hauptsache-Entscheidungen mehr gibt, wird das Kind möglicherweise danach gestorben sein. Das Bundesverfassungsgericht hat die innerhalb von wenigen Tagen getroffene Entscheidung allerdings nur mit einer Folgenabwägung begründet: „Nach dem vorliegenden Erkenntnisstand ist davon auszugehen, dass die der Antragstellerin drohenden Nachteile insgesamt schwerer wiegen als diejenigen ihrer Eltern.“

  6. Lutz Barth sagt:

    @Tolmein: Nun – das...
    @Tolmein: Nun – das Verfahren vor dem BVerfG brauchte in der Hauptsache nicht entschieden zu werden und in Tat wurde der Beschluss des OLG Hamm längstens für die Dauer von sechs Monaten ausgesetzt. Dass diese Entscheidung im Rahmen einer „Einstweiligen“ getroffen wurde, liegt in der Natur der Sache aufgrund der Eilbedürftigkeit, wie die Begründung des BVerfG deutlich zum Ausdruck gebracht hat. Insofern musste auch die Folgenabwägung zugunsten des Kindes ausfällen, während für die erheblichen Rechtsfragen hieraus indes keine (!) Schlüsse zu ziehen sind. Entscheidend war also bei einer Einstellung der Ernährung und der Flüssigkeitsversorgung die ausgesprochen geringe Lebenserwartung des Kindes. Auf die nähere Prüfung, ob das Oberlandesgericht ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sowie ihre über Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Menschenwürde ausreichend berücksichtigt habe, kam es also nicht (mehr) an.
    Entgegen der von O. Tolmein vorgetragenen Anmerkung differenziere ich durchaus zwischen dem „Lebensrecht“ und der „Würde“ des Menschen, zumal meine Hinweise primär auf den Kommentar v. Tolmein in seiner Anmerkung ggü. den Eintrag von Wengel gemünzt waren, da es ihm ganz allgemein wohl um „Würde“ geht.
    Dass nunmehr allerdings der Hinweis auf das „Folterverbot“ eingeführt wird, ist keineswegs überraschend, aber dennoch mehr als diskussionswürdig. Ob die „Würde“ des Menschen abwägungsresistent ist, steht durchaus zu bezweifeln an und wie sicherlich bekannt, wird hierüber zumindest insofern gestritten, als dass es eine rechtfertigende Pflichtenkollision gibt, die einer Lösung bedarf! Wie diese dann auszusehen hat, ist m.E. derzeit noch eine offene Frage, zumal die Pflichtenkollision bereits in Art. 1 GG verortet ist und hier hohe dogmatische und verfassungstheoretische, aber wohl vornehmlich ethisch-moralische Hürden aufgebaut worden sind, die zu überwinden schier unmöglich erscheinen. Schutz- und Achtungspflichten des Staates bedürfen der Harmonisierung und nach diesseitiger (und vorläufiger) Einschätzung ist die Frage, ob eine Folter in bestimmten Situationen zulässig sei oder nicht, immer noch nicht endgültig beantwortet, mal von den in der Literatur hierzu vertretenen diametral entgegengesetzen Positionen abgesehen, so wie eben es auch keineswegs ausgemacht ist, ob das Tötungsverbot vor dem Hintergrund der Sterbehilfe-Debatte absolut ist. Das „Würdeargument“ nimmt eine zentrale Rolle in allen brisanten Diskursen ein, in der es vornehmlich um das „Lebensrecht“ geht und dies verwundert nicht, liefert doch Art. 1 GG zugleich (auch) einen bedeutsamen Wertrahmen für die nachfolgenden Grundrechte, der interpretatorisch zu erschließen ist und hierbei auch „Grenzen“ trotz der „Unantastbarkeit“ und der ewigen Bestandsgarantie auszuloten sind. Das im Übrigen die „Pflichtenkollision“ auf der metajuristischen Ebene nicht nur theoretischer, sondern rein praktischer Natur ist, zeigt denn auch exemplarisch der Fall „Gäfgen“, ohne dass wir hier auf das vielfach in der Literatur bemühte „Bombenszenario“ in einer Großstadt mit zigtausend Toten zurückgreifen müssen. M.E. stände es der Verfassungsrechtswissenschaft nicht gut zu Gesichte, sich diesem Problem nicht zustellen, hieße es doch in allerletzter Konsequenz, vor einer „Pflichtenkollision“ und deren Lösung zu kapitulieren.

  7. Ihr Artikel spricht mir aus...
    Ihr Artikel spricht mir aus dem Herzen. Ich finde nicht nur den Artikel von Frau Lakotta, sondern diese ganze neue Eugenik und schon die Möglichkeit einer Pränataldiagnose (nicht zum Zweck der Heilung, sondern zum Zweck der Tötung) erschreckend.
    Ich weiß nicht, ob ich mich in einer solchen Situation für das Leben mit meinem behinderten Sohn entschieden hätte. Es ist kaum möglich, sich vorzustellen, was einen erwartet und wie es sich anfühlen wird, Eltern eines behinderten Menschen zu sein. Aber im Nachhinein gesehen würde ich das Leben mit Mathias (heute 15) ganz sicher noch einmal erleben wollen.
    Einerseits war er nie ein Fremdkörper für mich, im Gegenteil, er ist eher mein Herzenskind. Ich hatte immer das Gefühl, dass wir uns nahe sind und uns auf einer tieferen Ebene verstehen, obwohl sein überaktives Verhalten mit zahlreichen Wutanfällen auf die Dauer kaum ertragbar ist und wir ihn nur noch zeitlich begrenzt betreuen können (ansonsten lebt er im Heim). Wenn er nicht da ist, fehlt unserer Familie etwas, auch wenn wir uns sehr gern einmal erholen.
    Andererseits hätten wir uns ohne ihn alle interessanten Entwicklungsmöglichkeiten und Denkanstöße genommen. Ich finde es heute nicht mehr so erstrebenswert, stattdessen eine ganz normale Familie mit womöglich zwei Klassenbesten und einigen Kleinproblemen zu haben. Mit Sicherheit wären wir damit nicht glücklicher. Ich hoffe sehr, dass Eltern in der Entscheidungssituation die Sache auch einmal aus dieser Perspektive sehen möchten. Sie berauben sich mit einer Abtreibung eines zwar mühsameren, aber unendlich vielfältigeren Lebens.

  8. Marc B. sagt:

    Der Blogeintrag hier gibt...
    Der Blogeintrag hier gibt leider einen für das Verständnis des Artikels wesentlichen Aspekt nicht wieder. Die Eltern fühlten sich laut Artikel von den bayerischen Ärzten vor allem deshalb getäuscht, weil in Bayern unter Berufung auf ethische Gründe kein einziger Arzt die Spätabtreibungsregeln überhaupt anwendet aber die Eltern mit Untersuchungen und Beratungsterminen hingehalten wurden, bis die gesetzlichen Fristen überschritten waren und eine Spätabtreibung außerhalb Bayern nicht mehr möglich war.
    Denn für werdende Eltern besteht nach dem geltenden Recht eine defacto Wahlmöglichkeit durch die Dokumentation psychischer Notlagen – so wie es vor der Fristenregelung auch bei Abtreibungen vor der zwölften Woche verbreitet war. Das muss man nicht gut finden, es ist eine Umgehung der Intention des Gesetzes aber es ist – außerhalb Bayern – weitgehend etabliert.
    Wenn Ärzte jetzt entschlossene werdende Eltern nicht auf diese Möglichkeit hinweisen und die dafür mögliche Frist mit nicht erforderlichen Untersuchungen vertrödeln, ist der Vorwurf der Täuschung vertretbar.

  9. fabiank2 sagt:

    Wissen was ich das traurige...
    Wissen was ich das traurige finde? Das ich nach lesen dieses Artikels tatsächlich glaube das Frau Lakotta Ludwig nur als einen Gegenstand, nur als etwas nicht-lebendes sieht. Und das lässt mir das Blut in den Adern gefrieren.
    Ich verweiße hierbei gerne auf die Sendung des oft zu unrecht als „Schlagerfutzi“ verschrienen Guildo Horn, der im Fernsehen mit behinderten Gästen aktuelle Themen bespricht. Die Sendung ist alles, rührend, interessant und vorallem nie anders, eher erfrischend normal.
    https://www.stern.de/unterhaltung/tv/:Behinderten-Talk-Guildo-Horn-Und-Mitleid/577598.html
    Die Ebene der Diskussion die Frau Lakotta einnimmt ist weder notwendig, noch frisch und undogmatisch, sondern zutieftst MENSCHENverachtend und der einzige passende Vergleich wäre es in einer Debatte über Euthanasie sich näher mit der Diskussionsebene des Nationalsozialismus zu beschäftigen!

  10. Ich möchte nicht, dass Dritte...
    Ich möchte nicht, dass Dritte über mein Lebensrecht hätten entscheiden können!
    Ich gehöre zu dem hier in Rede stehenden Personenkreis, als multipel behinderter Mensch in letzter Konsequenz bei der Regelung bis 1995 theoretisch als Fall der eugenischen Embryopathie gegolten zu haben.
    Meine Erfahrung aus 41 Jahren Leben mit dem gesellschaftlichen Umfeld ist eher diejenige, dass es weniger die Eltern sind, die nicht willens oder in der Lage wären, ein selbst behindertes Kind zu erziehen, zu versorgen und zu betreuen. Sowohl das gesellschaftliche Umfeld (wo es – mentale und tatsächliche – Barrieren nicht gibt, wo eine Benachteiligung oder Diskriminierung nicht stattfindet, da verbleibt zwar eine körperliche, geistige oder seelische Einschränkung, „behindert“ im eigentlichen Sinne wird man dann allerdings nicht mehr, was die Einschränkung allerdings nicht hindert).
    Was mich an der Lakotta´schen Argumentationslinie so besonders erstaunt hat, war, dass „der Ludwig“ (allein diese Verobjektivierung eines Menschen stellt einen unsäglichen Skandal dar) ad personam in dem Artikel kaum vorkam; es ging eigentlich nur um seine Leidensgeschichte (bzw. diejenige seiner Eltern). Meine Eltern waren anno 1968, meinem Geburtsjahr, auch nicht gerade begeistert, nun ein schwerstbehindertes Kind bekommen zu haben (ich hatte in ihren Augen auch noch das „falsche“ Geschlecht, ich hätte ein Mädchen werden sollen), aber sie sind an dieser Aufgabe, dieses Kind zu erziehen, eher gewachsen denn gescheitert, was ihnen, die sie intellektuell und materiell sicherlich nicht „auf Rosen gebettet“ sind und waren, bis heute zur Ehre gereicht (allerdings – außer von mir – auch niemals von jemandem gedankt worden ist). Es bedarf einiger Kraft, wenigstens die notwendigsten Hilfsmittel und Therapieformen zu erstreiten, damals wie heute, obwohl wir heute – vergleichsweise – in einem gesetzlichen Schlaraffenland leben, verglichen mit den Rechsansprüchen, die behinderte Menschen und ihre Angehörigen Anfang der 1970er Jahre geltend machen konnten (so gab es ein Schwerbehindertengesetz für Zivilbehinderte erst seit 1974).
    Deswegen, weil ich mir mein Lebensrecht von niemandem absprechen lassen will, verneine ich auch die Möglichkeiten der Präimplantationsdiagnostik. Wären diese Möglichkeiten in 1967 schon gegeben gewesen, hätte man – immer vorausgesetzt , diese hätten die Möglichkeit dazu auch genutzt – meinen Eltern mit Sicherheit zu einem Abbruch auch über die 22. Schwangerschaftswoche hinausgehend geraten (was solche Spätabbrüche regelmäßig für die betroffenen Frauen bedeuten, darüber gibt es hinreichende Literatur, die dem Ansatz des strikten Feminismus des „mein Bauch gehört mir“ Hohn sprechen).
    Nur um nicht missverstanden zu werden: Ich bestreite überhaupt nicht, dass es Lebenslagen gibt, die einen Schwangerschaftsabbruch im Rahmen der 12-Wochen-Frist nötig machen können. Ich bestreite nicht, dass es die – dann allerdings wohl seltene, wenn ich mir die diesbezüglichen Statistiken so ansehe – Notwendigkeit gibt, auch späterhin Schwangerschaftsabbrüche zuzulassen, wenn es um das körperliche oder seelische Wohl der potenzielle Kindsmutter geht. Ich bestreite allerdings auch den Eltern das Recht, eine Schwangerschaft über die 12. Schwangerschaftswoche hinausgehend, einzig deswegen abzubrechen, weil die körperlichen oder geistigen Voraussetzungen, die der Fötus mitbringt, nicht genehm sind. Das greift dann nämlich nicht mehr nur in das individuelle Lebensrecht des Ungeborenen aus einem Gesichtspunkt ein, der mit den Eltern wenig, mit dem Ungeborenen aber alles zu tun hat, nämlich dessen Behinderung.
    Es würde nun – natürlich – viel zu weit führen, wollte ich konstatieren, ich sei auch noch „stolz“ darauf, behindert zu sein (wie das die Krüppelbewegung in den 1980er Jahren getan hat). Allerdings anerkenne ich meine Behinderung als etwas völlig Normales. Annormal wird die Schädigung erst dadurch, dass Dritte nicht wissen, damit umzugehen (und es mir gewisse Umweltfaktoren teilweise unmöglich machen, am gesellschaftlichen Leben „normal“ teilzuhaben; das ließe sich aber durch vorausschauende Planung von vornherein verhindern). Wenn wir es halbwegs ernst meinen mit dem Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG), dann muss das auch für einen Fötus gelten, dem die Rechtswissenschaft ja doch wohl spätestens ab der 12. Schwangerschaftswoche (das BGB sogar nach der Nidation) einen Personcharakter zubilligt.
    Infolgedessen verstehe ich nicht, weshalb Menschen wie Ludwig Senge oder ich vorgeburtlich eine mindere Stellung einnehmen sollen denn ein nicht behinderter Mensch. Natürlich sind die Aussagen von Hrn. Kainer ein Skandal (wobei sich meine Mutter im Rahmen erbbiologischer Untersuchungen, die im Jahre 1974 an mir vorgenommen worden sind, noch ganz andere Sachen anhören durfte bis hin zu der Aussage: „Ja, warum haben Sie ihn denn nicht wegmachen lassen?“). Aber sein Geschwätz charakterisiert genau die Problemlinie, die ich hier aufzuzeigen versucht habe: Nicht das behinderte Kind ist das Problem, sondern die gesellschaftlichen Umstände in denen es aufwächst, sind es.
    Ich maße mir auch überhaupt nicht an, Behinderung als ein schädigendes Ereignis qualifizieren zu wollen (insofern konnte ich z.B. auch mit den jahrzehntelangen lyrischen Ergüssen der „Aktion Sorgenkind“ oder der „Lebenshilfe“ wenig anfangen, die die Stigmatisierung durch wohlmeinende Phrasen erst noch richtig ins Rampenlicht gezerrt hat). Eine Aussage wie die von Hrn. Senge, ein Kind stelle eine Zeitbombe dar, man wisse ja nicht, was daraus werde, ist – mit Verlaub – eine Unverschämtheit. Die Mutter von Andreas Baader wusste auch nicht, dass sie einen Terroristen großzieht, als Baader noch ein Kind war, Klara Hitler wusste auch nicht, dass sie einem Weltverbrecher das Leben geschenkt hat. Ebenso wenig wussten aber die Eltern von Stephen Hawking, dass sie ein Genie großziehen würden, als ihnen die Behinderung ihres Sohnes gewahr geworden sein muss (leider lassen sich wenige Beispiele sonderlich berühmter behinderter Menschen anführen; es gibt einfach zu wenige, was auch wieder ausschließlich gesellschaftliche Ursachen der systematischen Diskriminierung einer ganzen Bevölkerungsgruppe hat).
    Wie auch immer, im bin im Grunde ganz froh, dass Fr. Lakotta diesen Stein ins Rollen gebracht hat, so hat man wenigstens einmal wieder die Möglichkeit, auch als unmittelbar Betroffener einen geringen Spalt der Tür zu öffnen, die nur allzu häufig die nicht behinderten Menschen – sei es aus Scheu oder aus Vorurteil – von unsereinem trennt. Denn das ist auch eine zentrale Lebenserfahrung, die man als behinderter Mensch regelmäßig macht: Normalität erreichst Du nur dadurch, dass Du sie so konsequent, wie das irgend möglich ist, vorlebst. Nur so wird aus dem vermeintlichen Stigma die – im positiven Wortsinne – gewöhnliche Teilhabe und ein völlig normales Miteinander.

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