Der Fall Debbie Purdy ist vom höchsten englischen Gericht, dem House of Lords, entschieden. Mehr als zwei Jahre dauerte der Prozess, der in den ersten beiden Instanzen abschlägig beschieden wurden, bis die Lordrichter der 46jährigen an Multiple Sklerose erkrankten Frau jetzt einen Anspruch darauf zusprachen, dass der englische Chefankläger die Kriterien veröffentlicht, nach denen er in Fällen in denen Engländer in der Schweiz assistierten Suizid begehen, Anklage gegen ihre englischen Reisebegleiter erhebt (hier finden Sie die Entscheidung im Orginaltext und hier die moderate Reaktion des Chefanklägers darauf). Anders als in Deutschland steht Beihilfe zum Suizid in Großbritannien nach dem Suicide Act von 1961 unter Strafe.
Soweit ist die Entscheidung nachzuvollziehen und es ist richtig, was Frau Purdie gegenüber der BBC gesagt hat: „Ich kann nun endlich eine informierte Entscheidung darüber treffen, wie mein Mann und ich mein Lebensende gestalten können.“ Dass Menschen wissen, wie das Recht ihr Verhalten wertet, damit sie die Möglichkeit haben, sich darauf einzustellen, ist eine Grundvoraussetzung des Rechtsstaates. Zwar ist nämlich in der Vergangenheit in keinem der über 100 dokumentierten Fälle, in denen Briten Angehörige oder Freunde zum Suizid in die Schweiz begleitet haben, trotz des Gesetzes Anklage erhoben werden – aber warum das so ist, wann vielleicht doch eine Anklage drohen könnte ist aus dem Gesetzestext nicht zu erschließen.
Trotzdem hat die Entscheidung der Lordrichter einen schalen Beigeschmack: In der Öffentlichkeit wird sie nämlich nicht als das wahrgenommen, was sie ihrem Wortlaut nach ist, eine Entscheidung über ein Recht auf Rechtssicherheit – sondern als Urteil, das assistiertem Suizid Bahn bricht. Das liegt nicht nur daran, dass Debbie Purdys Kampf nachhaltig von der Sterbehilfeorganisation Dying in Dignity unterstützt wurde. In der öffentlichen Wahrnehmung ist der Rechtsstreit längst als Musterprozess in Sachen „Sterbehilfe“ verbucht. Auch einige der Lordrichter selbst haben in ihren ausführlichen Entscheidungsgründen zwar betont, dass die Veränderungen der Gesetze Sache des Gesetzgebers sei, sie haben aber wenig Zweifel daran gelassen, dass auch sie den Suicide Act von 1961 in seiner heutigen Fassung für antiquiert und nicht mehr dem modernen Verständnis von Selbstbestimmung entsprechend finden.
Die Frage des assistierten Suizids ist damit, ohne dass sie im Gerichtsverfahren selbst ausreichend thematisiert worden wäre, ein wenig mitentschieden worden – und das erscheint problematisch. Problematisch auch deswegen, weil das englische Oberhaus, also das Parlament noch vor wenigen Wochen, am 7. Juli, eine Gesetzesvorlage von Lord Falconer abgewiesen hat, die genau das besagte, was jetzt viele als versteckte Aussage des Gerichtsurteils lesen: Dass kein strafbarer Akt sein soll, wenn jemand einen Angehörigen oder Freund begleitet, der im Ausland assistierten Suizid begehen will.
Dass in Großbritannien der Suicide Act von 1961 heute noch gilt und dass die Sorge vor möglichem Mißbrauch einer Freigabe der Beihilfe zum Suizid in der politischen Debatte eine bedeutende Rolle spielt, ist erstaunlich: Großbritannien ist in Sachen Bioethik ansonsten ein engagierter Vorreiter jeder Form von Dergulierung – egal ob es um Klonen geht, um Präimplantationdiagnostik oder Embryonenforschung. Auch Sterbehilfe in Form des Entzugs von künstlicher Ernährung und Flüssigkeit wurde hier zu einem Zeitpunkt in medizinische und rechtliche Routinen gebracht, als die Debatte in der Bundesrepublik kaum begonnen hatte.
Die Entscheidung, die am 30. Juli 2009 in London gefallen ist – übrigens als eine der letzten großen Entscheidungen der Lordrichter, denn bald wird das House of Lords als oberstes Gericht von einem neu geschaffenen Verfassungsgerichtshof abgelöst werden – hat im Prinzip wenig Auswirkungen auf Deutschland: Beihilfe zum Suizid ist hier nicht verboten, dass es hierzulande keine Schweizer Verhältnisse gibt, liegt an der restriktiven Betäubungsmittelverschreibungsverordnung und daran, dass die ärztlichen Standesorganisationen sich strikt gegen ärztliche Assistenz im Suizid stellen (mehr zum Thema auch hier) (auch wenn in Umfragen viele Ärzte selbst sich durchaus zur Beihilfe zum Suizid bereit zeigen). Die konsequente Position der Ärzteschaft bewahrt uns meines Erachtens davor, dass eines Tages die Herbeiführung des Suizids genauso eine ärztliche Dienstleistung wird, wie die Behandlung von Karzinomen oder psychischen Erkrankungen. Ärzte würden dann nämlich, dieser Trend zeichnet sich auch in anderen Bereichen ab, in zunehmendem Maße reine Dienstleister zur Behandlung, Verbesserung, Veränderung und Umgestaltung des menschlichen Körpers – unabhängig von jeder Indikation und ohne Blick auf die Folgen. Wer der Auffassung ist, Selbstbestimmung beinhalte vor allem, dass man uneingeschränkt jede Entscheidung treffen dürfe, Hauptsache man treffe sie persönlich, mag eine solcheVorstellung von Medizin als Dienstleistung am Körper gelungen finden. Wer, wie ich, Selbstbestimmung als Ausdruck von Autonomie sieht und dem Selbst auch Verantwortung und Pflichten gegenüber sich selbst und der Gesellschaft zuweist, wünscht sich auch eine Medizin, die (durchaus veränderbaren) Normen folgt und nicht einfach Wünsche erfüllt.
Die Purdy-Entscheidung der Lordrichter ist reich an grundlegenden Überlegungen – allerdings anderer Art. Es geht in ihr in erster Linie um rechtsdogmatische Überlegungen, um die Frage inwieweit Beihilfe zum Suizid rechtlich eher eine Mitwirkung an Mord ist als an Totschlag oder ob es ein Delikt ganz eigener Art ist, ob die englische Jurisdiktion auch greift, wenn der Erfolg einer Beihilfehandlung, der Suizid schließlich in einem anderen Land stattfindet und welche Rechte dem Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der das Recht auf Privatheit garantiert zugeordnet sind. Bemerkenswert ist auch, dass erst sechs Jahre vergangen sind, seit die Lordrichter in dem Fall der an Amyotropher Lateralsklerose erkrankten Diane Pretty ein Urteil recht anderer Art verfasst haben, das das strafrechtliche Verbot der Beihilfe zum Suizid aufrecht erhalten hat. Von dieser Entscheidung weicht Lord Hope of Craighead, dem sich andere Lordrichter angeschlossen haben, in diesem Verfahren ausdrücklich ab – eine Umorientierung höchstrichterlicher Rechtsprechung (keine klare Neuausrichtung, weil die Gegenstände der Verfahren unterschiedlich waren) innerhalb von nur sechs Jahren ist jedenfalls ein Indikator für die recht kurze Halbwertzeit, die ethisch fundierte Positionen mittlerweile auch angesichts suubstanzieller Fragen haben können.
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Ich stelle dann einfach mal...
Ich stelle dann einfach mal die offensichtliche Frage zum Thema ärztliche Assistenz zum Suizid: Ist es denn wirklich besser, dass Menschen sich auf improvisierte, mitunter schmerzhafte oder sogar für andere gefährliche (Selbstmord per Automobil als Beispiel) Art ums Leben bringen, als dass ihnen ein Arzt die geeignete Medikation verordnet und sie berät, wenn er es für angemessen hält?
Ich glaube nicht unbedingt, die Antwort zu kennen, aber die Frage sollte man stellen, finde ich.
Ich denke das Problem liegt in...
Ich denke das Problem liegt in der Befürchtung, dass Ärzte die Möglichkeit zum assestierten Suizid missbrauchen könnten bzw dass durch Missverständnisse Menschen sterben die selbiges gar nicht gewollt haben.
Dann nimmt man derzeit lieber in Kauf dass Menschen teilweise auf sehr qualvolle Weise ihr Leben beenden.
Die Lösung liegt in meinen Augen darin, dass man entsprechende Beratungscenter schafft in denen Suizidwillige umfangreiche Beratung erhalten, sowohl in Bezug auf das Leben und seine weiteren Möglichkeiten, als auch auf die Suizidmöglichkeiten.
Mit einer entsprechenden überprüfbaren Dokumentation (auch wenn ich befürchte dass der dt. Bürokratiehengst dann wieder zuschlagen würde).
Was ich allerdings wirklich absolut lächerlich finde, ist dass Menschen die eine geliebte Person zum Suizid begleiten (wenn es denn entsprechende Einrichtungen im Ausland schon gibt) dafür bestraft werden sollen.
Darüber kann ich nur noch traurig den Kopf schütteln.
jeder mensch muss über sein...
jeder mensch muss über sein leben selbst entscheiden können. auch über sein ableben. es ist arrogant, menschen, deren leben eine furchtbare qual ist, dazu zu zwingen, weiter zu leiden.
@Tolmein: Sehr geehrter Herr...
@Tolmein: Sehr geehrter Herr Tolmein, Ihr Bekenntnis, dass Sie die konsequente Haltung der Ärzteschaft mit Blick auf die ärztliche Assistenz beim Suizid nachhaltig begrüßen, ist durchaus bekannt, wenngleich doch in diesem Zusammenhang stehend darauf hinzuweisen ist, dass mit diesem Bekenntnis zugleich auch eine Relativierung des Selbstbestimmungsrechts verbunden ist. Hierüber hinwegzutäuschen gelingt auch nicht dadurch, in dem an das ärztliche Selbstverständnis und der ärztliche Berufsrolle angeknüpft wird, ggf. unter Hinweis auf das „Selbstentleibungs-Verbot“ Kants und dem Eid des Hippokrates. Das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht bedeutet mehr, als uns Gegenwartsphilosophen zu konzedieren bereit sind. Insofern kann in der ärztlichen Assistenz beim Suizid ein Akt höchster Humanität erblickt werden, auch wenn ein diesbezügliches Ansinnen des Patienten nicht zur Fremdbestimmung über die Ärzteschaft führt. Da allerdings auch Ärzte und Ärztinnen für eine liberalere Regelung votieren, erscheint mir denn auch das Problem, dass sich kein Arzt hierzulande finden ließe, bei einem Suizid zu assistieren, von theoretischer Natur, so dass es entscheidend darauf ankommt, eine Bresche in die berufsethischen Arkana der verfassten Ärzteschaft zu „schlagen“. Es kommt weder den öffentlich-rechtlichen Körperschaften noch der BÄK als (private!) Arbeitsgemeinschaft das Recht zu, empfindliche Grundrechtsschranken nach Belieben zu kreieren, die zudem sich mittelbar auf die subjektive Grundrechtsstellung der Patienten auswirken. Mit anderen Worten: der ethische Paternalismus der Ärztekammern – und freilich in erster Linie der BÄK – ist schlicht verfassungswidrig.
Das Problem ist nicht die...
Das Problem ist nicht die fehlende Bereitschaft des Ärztestandes, beim Suizid zu assistieren, sondern die gesetzlichen Bestimmungen, die verhindern, das freie Bürgerinnen und Bürger auch ohne ärztliche „Erlaubnis“ auf Medikamente und Substanzen ihrer Wahl zugreifen können, wenn sie sie selbst bezahlen und die Rechte Dritter damit nicht verletzen.
Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine Willenserklärung abgegeben zu haben, mit der ich die existenzielle Verfügungsgewalt über mein Leben, meinen Körper und meine Person an irgendeine andere Person oder Institution auf diesem Planeten abgetreten habe. Falls doch, bitte ich darum, mir die entsprechende Unterschrift zu zeigen, die ich da geleistet haben soll.
Es ist mir bis heute vollkommen unklar, warum der Staat oder die Ärzteschaft ein Recht haben sollten, mir vorzuschreiben, wie lange ich lebe oder welche Mittel ich kaufe und in meinen Körper einbringe. Die im Artikel genannte Verantwortung vor sich selbst entsteht ja gerade dadurch, dass man dieses Recht auf existenzielle Autonomie hat. Irgendeine „Pflicht“ mir selbst gegen über kann ich nicht erkennen – wer soll die denn bitte definieren und wie soll die denn bitte aussehen? Ich habe lediglich die Verantwortung, mit den – möglicherweise suboptimalen – Konsequenzen meiner Entscheidungen zu leben.