Biopolitik

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Nibelungenaufbruch und der Pflegenotstand

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Gewalt im Pflegeheim ist - wie wir aus zahlreichen mehr oder weniger sensationsheischenden Veröffentlichungen der letzten Monate wissen - keine zu...

Gewalt im Pflegeheim ist – wie wir aus zahlreichen mehr oder weniger sensationsheischenden Veröffentlichungen der letzten Monate wissen – keine zu vernachlässigende Ausnahme. Wenn eine greise Rollstuhlfahrerin von einem auch nicht mehr ganz jungen Motorradfahrer unter den Augen einer kess blickenden Krankenschwester gewürgt wird, bis sie ins Koma fällt, ist das gleichwohl alarmierend und durch Pflegenotstand alleine nicht mehr zu erklären und schon gar nicht zu rechtfertigen. Wenn sich das Geschehen auf einer Opernbühne abspielt, weiß man nicht so recht, ob man sich darüber freuen soll, dass nun auch das Musiktheater die gegenwärtigen bio- und sozialpolitischen Missstände aufgreift, oder ob man sich auch griesgrämig zurücklehnen und darüber beklagen darf, dass die stets nach Aktuellem strebenden Regietheater-Künstler Erda, Wotan alias Der Wanderer und den Waldvogel in den Kontext der Debatte um demografische Entwicklungen und Generationenkonflikt stellen. Oder, als (mir von höherer Stelle eingeflüsterte) Variante dieser Frage: ist die Pointe, dass nun auch das Musiktheater so avanciert ist, dass es den Pflegenotstand auf die Bühne bringt, oder ist der Pflegenotstand schon so zum Stereotyp geworden, dass er mittlerweile sogar im Musiktheater als Chiffre (wofür eigentlich)  noch provokant genug, aber doch auch irgendwie schon kanonisiert angekommen ist. Und was heißt das – insbesondere in diesen Tagen, in denen die Verhandlungen um den Mindestlohn in der Pflege geführt werden und der Arbeitgeberverband Pflege ohne dass nennenswerte Empörung aufbranden würde feststellt, dass ein Mindestlohn von 7,50 EUR / Stunde den Wegfall von Arbeitsplätzen und damit einen Pflegenotstand provozieren würde ? Ist der Pflegenotstand durch ständige Skandalisierung soweit routiniert vereinnahmt, dass er zum kulturellen Konsumgut geworden ist?

Anthony Pilavachis Inszenierung des „Siegfried“ am Theater Lübeck beantwortet solche Fragen nicht, bietet aber immerhin Anlass sie zu stellen (statt einer Wagner-Mann-Diskussion wäre also in der Buddenbrookstadt, vielleicht mal eine Walhall-Pflege-Kontroverse angesagt….)  und ist – nicht nur- insofern  eher erhellend, als ärgerlich.

 

Bild zu: Nibelungenaufbruch und der Pflegenotstand

(Nicht für 7,50 EUR: Der Wanderer – Stefan Heidemann – schiebt Erda – Ulrike Schneider
aus der Welt          Foto: Jörg Metzner)

Dass im Anfangsbild „Dr. Mimes Altersheim“ in dem der zunehmend resignierte Zwerg erfolglos ein ausreichend scharfes Schwert zu schmieden versucht, eher einem Chemielabor gleicht, als einer Pflegeeinrichtung, verdeutlichte zwar die Schwierigkeiten einer stringent biopolitischen Interpretation des dritten Teils des Rings des Nibelungen. Siegfrieds eher lässige Bestrebungen an einem Ort das Fürchten zu lernen, der für viele Menschen tatsächlich furchterregend ist, weil er die wenig selbstbestimmte Endstation ihres Lebens darstellt, eröffneten dagegen eine überraschende Perspektive. Auch der längst zum Ausstellungsstück verkommene Riese Fafner, dem sein Wissen und Wohlstand angesichts der schieren Gewalt der Verhältnisse und seiner wodurch genau auch immer bedingten Immobilität nichts nutzte, erhielt im Rahmen der Altersheim-Interpretation eine neue Facette. Auch die Frage, warum Pilavachi Mime ein Altersheim betreiben lässt, wo der doch schwerpunktmäßig mit der Aufzucht des „zullenden Kindes“ Siegfried beschäftigt sei, lässt sich produktiv beantworten, beschreibt die Inszenierung doch dadurch das wenig anregende Umfeld, in dem Siegfried aufwächst und erklärt so auch dessen aggressiv-forschen Drang das Alte in den Untergang zu zwingen.  

Bild zu: Nibelungenaufbruch und der Pflegenotstand

(Dr. Mimes Altersheim mit Mime -Arnold Bezuyen-, der einschlägig verkörperten Stimme 
des Waldvogels -Andrea Stadel- und Siegfried -Jürgen Müller-.     Foto: Jörg Metzner)

Dass es von den Alten dieses Zweiten Tages nur Alberich (und von den nicht ganz so Alten, der Generation Gold sozusagen, auch Brünnhilde) den Dritten Tag, die „Götterdämmerung“ auf der Bühne erlebt, macht gespannt darauf, ob Pilavachi seine für nächstes Jahr geplante „Siegfried“-Interpretation gedanklich streng weiterführt und mit der Alten Welt dann auch die Welt der Alten in den Niedergang führt (was ließe das für eine neue, von Göttern – und ihren Gesetzen – befreite Welt erwarten?) oder ob es dann – mit Blick auf den ganzen Ring – doch in erster Linie Einfälle sind, die übrig bleiben, wie ein kleines als Lindwurm gewandetes weißes Hündchen, das im „Siegfried“ als Referenz an die in Sachen Wagner bedeutsame Aufführungstradition, einmal quer über die Bühne trabte und dabei immerhin zeigte, dass das Tierische heute auch nicht mehr natürlich-ursprüngliche Wildheit verkörpert, sondern nur das gewünschte Maß von Domestizierung, das letztenendes aber den langen, dabei gar nicht so schweren schweren Abend wie manch anderer Regiegag nur durch einen zuverlässigen Lacher subjektiv erleichtern sollte.

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1 Lesermeinung

  1. Devin08 sagt:

    Herren- und Knechtsseelen
    Seit...

    Herren- und Knechtsseelen
    Seit meiner frühesten Kindheit begleitet mich nun diese Sage, seit ich lesen lernte. Und sie hat nichts von ihrer Faszination verloren. Auf mich nicht, und offenbar auch nicht auf die Gesellschaft der Deutschen. Wagner ist für mich politisch nicht (mehr) tragbar, und doch sind es sehr wohl seine Opern, besonders der Ring. Hier sein Antisemitismus, dort sein Freiheitskampf (der Deutschen). Das konnte gehen, bis zum Holocaust. Als Kind wusste ich nichts vom Holocaust. Dieses Thema wurde immer wieder verdrängt, bis zu einem gewissen Geschichtsunterricht im Gymnasium, durch einen evangelischen Lehrer, der trotz kirchlichen Predigtverbots, seinen Mund nicht halten konnte, sodass selbst atheistische Ex-Katholiken in seinen Unterricht stürmten.
    Nun gibt es seit Jahren immer wieder wunderbare Interpretationen, die alles sind nur keine Wagnerinterpretationen. Am allerwenigsten schaffen sie eine Vermittlung dessen, was jener intellektuelle Angriff eben genau auf das sein möchte, was sozusagen in die Ursozialisation der Deutschen eingegangen ist – ihren Gründungsmythos.
    Der Pflegenotstand ist evident; ein Mindestlohn, wenn nicht gar ein anständiger Lohn, wären da längst fällig – gleich ob in der Pflege oder beim Bäcker. Studiert man die Leserkommentare zu diesen Themen, gerade in dieser Zeitung (und besonders in diesen Tagen), sieht man mit Erschrecken, wie tief diese Gesellschaft gespalten ist, wie wenig die da oben, das Leben derer da unten interessiert, und wie gleich die Masse der Begüterten der Masse der Elenden gegenübersteht. Leistungen müssen gekürzt werden, denn Steuern müssen sinken (nicht gezahlt werden!), so die Parole der Einen. Unter den Mindestlohn gehen wir aber nicht, so die trotzige Antwort der Anderen. Geradezu germanisch dieser Egoismus, wie auch Blindheit, diese stoische Ungerührtheit dem Schicksal der Verlierer gegenüber, sowie auch jene geradezu fatalistisch anmutende Ignoranz der Verlierer eben diesem Schicksal gegenüber. Ein Lindwurm ist auch nur ein Wurm, so wie ein Zwerg unterhalb jeder Wahrnehmungsebene des gewöhnlichen Deutschen zu liegen hat. Sind die Deutschen, pardon „Germanen“ nicht ehe ein großes Volk? – Ein Zwerg ist ein Schimpfwort, eine Beleidigung.
    Und ist diese Forderung nach einem Mindestlohn nicht eines Zwerges würdig? Das feige Wimmern eines gerade besiegten Alberichs?
    Wotan das Urgestein hingegen, jener patriarchalische Archetyp der Deutschen, kann Erda (Gaia?) so einfach aus der Welt schieben, wie der Deutsche seine Probleme sich vom Hals, eine Sensibilität gar aus der Gene. Keine Gnade gegenüber den Besiegten, aber auch: keinen Stolz gegenüber dem Sieger. Herren- und Knechtsseelen!
    Ich vermisse sie, die Vermittlung dessen, was uns berührt, seit Urzeiten, die kritische, wie auch die von Verständnis getragene, nicht apologetische, sondern eine in die Tiefe gehende, historische wie psychoanalytische, soziale, wie theoretische, abstrakte wie konkrete, objektive wie subjektive – intersubjektive – hermeneutische Analyse. Sonst bleibt eine jede Neuinszenierung wenig beachtet, so wie das eben geschieht mit Interpretationen, die sich nur auf der Ebene der Erscheinungen mit den Themen beschäftigen.
    Pflegenotstand – Mindestlohn, zu kurz gefasste Themen für wirkliche Götter(dämmerungen).

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