Visionäre sind meistens nicht die besseren, auf jeden Fall aber die gefährlicheren Politiker. Wer eine Vision verwirklichen will, wird auf dem Weg der Umsetzung oftmals weniger Skrupel haben, als ein nüchterner Pragmatiker. Auch Empathie gilt nicht gerade als besondere Qualität von Visionären, oder die Fähigkeit auch einmal – und sei es nur des besseren Verständnisses wegen – eine andere Perspektive einzunehmen, als die eigene. So gesehen, könnte sich aus den Abschnitten 7 (Soziale Hilfe und Sozialversicherungen) und 9 (Gesundheit und Pflege) des Koalitionsvertrages der schwarz-gelben Koalition Hoffnung lesen lassen: Visionen gehen den Konservativen und Liberalen hier nahezu vollständig ab. Es steht allerdings zu befürchten, dass der Umkehrschluss nicht gilt: Wer sein geplantes Wirken mit wenig aussagestarken Floskeln beschreibt, wird nicht automatisch gute Politik betreiben. Was aber dann?
In diesem Blog findet eine kleine Blütenlese der Koalitions-Aussagen zur Gesundheitspolitik statt, in den nächsten Blogs werden die Themen „Pflege“ und „Behindertenpolitik“ gewürdigt werden.
Im Koalitionvertrag versprechen die Verhandler zu denen der neue Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) gehörte in den Zeilen 3823 und 3824 unter der Überschrift „Gesundheit“:
„Wir werden das deutsche Gesundheitswesen innovationsfreundlich, leistungsgerecht und demographiefest gestalten.“
Das ist nicht einmal hübsch geklingelt. Während man aber die Behauptung, es werde hier innovationsfreundlich und, was auch immer das genau bezeichnen soll, demographiefest, gestaltet, als Selbstverständlichkeiten abhaken mag, lässt „leistungsgerecht“ in Zusammenhang mit Gesundheit aufhorchen: Wessen Leistung soll hier bei der Gestaltung gerecht gewürdigt werden? Die Leistung des Kranken?Die Leistung dessen, der sich trotz allem nicht krank schreiben lässt? Oder die Leistung der Leistungserbringer (der Ärzte), die gerade schon als Folge der letzten gesundheitspolitischen Runde der alten Koalition recht bemerkenswerte Honorarsteigerungen erstreiten konnten? Und worauf bezieht sich die Beschreibung „gerecht“?
Die Vorstellung, im Gesundheitssektor zöge bei ausreichender Deregulierung höhere Effizienz ein, die Kosten würden so geringer und die Menschen möglicherweise auch noch gesünder, wird Tag für Tag in den USA (und nicht nur dort) blamiert. Deswegen fordert nicht einmal die FDP, die sich das Amt des Gesundheitsministers mit einigem Engagement erstritten hat eine strikte Abkehr vom System der Gesetzlichen Krankenversicherung. Das, was in den nächsten Jahren kommt, könnte aber einen Einstieg in den Ausstieg aus der umfassenden medizinischen Versorgung im System der GKV zur Folge haben – das Leitbild wäre die zahnmedizinische Versorgung, wo schon heute GKV-Versicherte nicht mehr kostenfrei erhalten, was sie benötigen, sondern nur noch eine Basisversorgung, auf die dann mit allerlei Zusatzversicherungen aufgesattelt werden kann.
Aufmerksam macht auch, wenn im Koalitiosnvertrag – ganz gegen den sonst auf Wettbewerb und Kostenersparnisse setzenden materiell geprägten Geist der Zeit – auf ideelle Werte gesetzt wird und Verfahrensregeln denunziert werden: Mit Blick auf „Finanzierung, Planbarkeit und Verlässlichkeit“ beschwören die Zeilen 3826 und 3827 eine „Kultur des Vertrauens“, die „anstelle überzogener bürokratischer Vorschriften“ treten soll – erläutert wird aber nicht einmal in Ansätzen, wer hier wem vertrauen soll und welche bürokratischen Vorschriften einen heute daran hindern könnten.
Auch der nachfolgende Satz liest sich zwar menschlich schön, gibt aber – möglicherweise bewußt – Rätsel auf:
„Eine hochwertige Gesundheitsversorgung muss vom Menschen her gedacht werden. Dafür ist ein Umdenken erforderlich.“
Ob es schon Bestandteil dieses Umdenkens sein soll, dass den in „Gesundheits- und Pflegeberufen Tätigen“ wenige Zeilen später attestiert wird, sie leisteten einen wichtigen Beitrag für unser Gemeinwesen? Versprochen wird ihnen darauf nämlich nicht etwa, wie nach dem zuvor Gesagten vielleicht zu erwarten gewesen wäre, leistungsgerechte Entlohnung sondern:
„Sie verdienen unseren Respekt und Anerkennung. Die Attraktivität dieser Berufe muss auch im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert werden.“
So geht es – sprachlich zwischen wolkigen und wabernden Formulierungen schwankend – in einem fort. Die – wenigen – konkreten Punkte und die – zahlreichen – konkreten Leerstellen (beispielsweise wird der einflussreiche Gemeinsame Bundesausschuss nicht einmal erwähnt) sprachen dagegen eine nüchterne Sprache: Die steigenden Kosten der Krankenversorgung sollen die Versicherten alleine tragen, diese sollen zu kostenbewußtem Verhalten motiviert werden, die Krankenkassen sollen stärker in Wettbewerb zueinander treten können, der bestehende Leistungskatalog der GKV soll für das zukünftige SGB V nur noch eine Basis darstellen, auf der die gesetzlich Versicherten ihren Versicherungsschutz selbst gestalten können (siehe Beispiel Zahnmedizin).
Dass die Patientenrechte künftig in einem Patientenschutzgesetz gebündelt werden sollen, klingt gut, sagt über dessen Substanz aber wenig aus, zumal dieses Versprechn gerade mal zwei Zeilen in Anspruch nimmt und in einem Atemzug mit mehr Transparenz hinsichtlich Qualität, Leistung, Preis erwähnt wird. Dass der schwarz-gelben Koalition zum Thema Ärztliche Versorgung und freier Arztberuf, in dem es um die Sicherung der wirtschaftlichen Stellung niedergelassener Ärzte geht , so sehr viel mehr einfällt (40 Zeilen), als zum gesamten Thema „Hospiz- und Palliativversorgung“ (die bestehenden Regelungen müssen umgesetzt werden, die ehrenamtlich Tätigen spielen hierfür eine wichtige Rolle = 5 Zeilen), könnte sich als charakteristisch erweisen. Auch die anderen Themen, die durch Lobbyisten professionell begleitet worden sein dürften (innovative Arzneimittelpolitik, Stärkung der mittelständischen deutschen Apotheker gegen die internationalen Internetapotheken, Gebührenordnung für Zahnärzte, Telematikinfrastruktur….) fallen durch – angesichts des Gesamtbildes – eher ausführliche und konkrete Aussagen auf.
Als Signal gelesen werden kann auch, dass das einzige eindeutig bioethisch brisante Thema, das in dem Koalitionsvertrag angesprochen wird, die Organspende ist – die wenigen Zeilen tragen eindeutig die Handschrift der FDP. Hier wird eine Kampagne zur Erhöhung der Organspendebereitschaft versprochen, sowie eine Überprüfung der organisatorischen und strukturellen Bedingungen im Krankenhaus. Dass es Gründe geben könnte, das Thema auch anders zu akzentuieren, dass Entwicklungen im Bereich der Lebendspende durchaus ethisch bedenklich sind, wird nicht einmal angerissen.
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