Biopolitik

Sterbehilfe: leitet Käßmann Kurswechsel der EKD ein?

Tabus zu brechen ist in den modernen Gesellschaften schon fast eine Art Volkssport geworden. Kein Wunder, umgibt es einen doch mit einer gewissen Aura und ist gleichzeitig höchst ungefährlich. Eines der wenigen Tabus, das zu brechen einen ernsthaft zum Aussenseiter machen könnte, wäre das Tabu, gegen Tabubrüche zu sein. Auf längere Sicht würde aber auch dieser Tabubruch wohl geduldet werden, denn er bliebe genauso wirkungslos wie die anderen Tabubrüche. Das liegt zum einen daran, dass es kaum noch Tabus gibt – weil einerseits die offenen Verbote und Reglementierungen um sich greifen, auf der anderen Seite erweisen sich zumindest die modernen Industriegesellschaften bei allem Drang zur Konformität als so stark segmentiert, dass es zu keinem Grundverständnis mehr kommt, das ein Tabu errichten könnte.

Angesichts dessen verwundert es auch einen, an sich nicht für kirchliche Fragen zuständigen, eher säkular orientierten Blogger wie mich ein wenig, was sich im Umfeld der Wahl von Bischöfin Margot Käßmann derzeit an Enttabuisierungsbemühungen abspielt. Den Anfang machte der Schweizer (!) Kirchenpräsident Thomas Wipf, zugleich auch Präsident des Rates der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, der sich berufen fühlte in seinem Grußwort an die in Ulm tagende Synode die wichtigsten Fragen der Zeit aus theologischer Sicht anzugehen: Nach der Ostausdehnung der Evangelischen Kirchen und einem Exkurs über den Minarettbau im christlich geprägten Abendland stand da das Thema Sterbehilfe ganz weit oben auf seiner Agenda:

„Wir können den Menschen, die unsere Kirche ausmachen, viel mehr an öffentlicher Debatte, und Urteilskraft zumuten. Das gilt auch für ein sensibles und komplexes Thema, das uns, den Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund, mit der EKD in einer guten Weise zusammengeführt hat. Das ist das Thema Sterbebegleitung und Sterbehilfe. Gerade da haben wir gelernt: Wir können das nicht mehr nur länderorientiert und kirchenorientiert angehen. Wir brauchen den Austausch. Wir müssen die unterschiedlichen kulturellen und gesetzlichen Voraussetzungen, die öffentlichen Diskussionen zugrunde legen.“

 Die praktische Umsetzung dieses Postulats länderübergreifend, nicht kirchenorientiert und multikulturell zu debattieren hatte dann dieses Ergebnis:

 „Für uns bleibt die Frage: Könnte es sein, dass aus historisch sehr verständlichen Gründen gewisse schwierige Fragen im Bereich Sterbebegleitung und Sterbehilfe in Deutschland nicht gestellt, nicht öffentlich debattiert werden, was dann dazu führt, dass wir als Schweizer Kirchen mit dem Phänomen mit dem unschönen Namen Sterbehilfe konfrontiert werden, das uns sehr belastet. [dieser Wortlaut entspricht der Fassung des Textes, den die EKD auf Ihrer Webseite abgedruckt hat; auf der Seite der Schweizer Evangelischen Kirche ist, wie nach Veröffentlichung des Blogs mitgeteilt wurde – s.u. – , ein anderer Wortlaut abgedruckt: statt Sterbehilfe heißt es dort „Sterbetourismus„, mit Blick darauf, dass die Schweizer Version wohl die Zutreffende sein dürfte, aber an der Grundaussage des Grußwortes, dass in Deutschland schwierige Fragen der Sterbehilfe nicht gestellt würden, nichts ändert, habe ich das Blog nachträglich geringfügig modifiziert, OT] Dafür ist der Grund nicht nur in der Schweizer Gesetzgebung zu suchen, sondern – ich frage – vielleicht auch, weil hier – nochmals: aus verständlichen Gründen – die Fragen, die auch die Menschen hier beschäftigen, nicht gestellt werden.“

Die Frage so zu stellen, heißt sich hinsichtlich der Antwort gewiß zu sein. Klingt ja auch gut, sich dafür einzusetzen, dass Fragen, die die Menschen beschäftigen, gestellt werden können. Ich frage mich aber, wie ich es dann eigentlich geschafft habe veritable zweieinhalb Meter Bücher bundesdeutscher oder ins Deutsche übersetzter Autoren und (großer) Verlage in meinem Regal zu versammeln (und die Schrift von Binding/Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens..Ihr Maß und ihre Form nimmt höchstens einen Zentimeter Raum ein), dazu nochmal etliche Megabyte archivierter Texte auf der Festplatte und täglich zwei bis drei google-Alert Meldungen zu „Sterbehilfe“, die sich alle damit beschäftigen, Antworten auf Fragen zu geben, die hier angeblich „nicht öffentlich debattiert werden.“ Und auch das Thema „Suizidbeihilfe“, dessen Handhabung sich in Deutschland und der Schweiz unterscheidet, wird in der Bundesrepublik seit langem debattiert – wenn auch mit anderen Ergebnissen als in der Schweiz. 

Da man in der Schweiz für Bücher bundesdeutscher Verlage bedauerlicherweise zwar etwas mehr bezahlt, sie aber in den dortigen Buchhandlungen alle erhältlich sind und auch über schweizer Internet-Anschlüsse auf bundesdeutsche Homepages zugegriffen werden kann, taugt der Verweis darauf, dass hier vielleicht die Alpen den wahrnehmenden Blick verhinderten, nichts. Also bleibt vor allem die Vermutung, dass Pfarrer Wipf in Wirklichkeit gar nicht damit unzufrieden ist, dass hier nicht diskutiert wird, sondern, dass ihm die Ergebnisse dieser seit Jahren viele Seiten Papier füllenden Debatte (noch) nicht gefallen und er in Wirklichkeit, eher diplomatisch als sprachlich elegant verpackt, deswegen dazu anregen wollte, dass auch in der Bundesrepublik der ärztliche begleitete Suizid in weitem Umfang ermöglicht wird (strafrechtlich verboten ist er ja, wie hier schon gelegentlich dargestellt, nicht). Da ich kein Freund des Prinzips der Nicht-Einmischung bin, spräche gegen eine solche Anregung aus dem benachbarten Ausland an sich nichts … außer dass man sie nicht befolgen sollte: Die Gründe dafür werden gegenwärtig auch in der Schweiz diskutiert, wo die gegenwärtige Entwicklung im Bereich des Suizids von zunehmend mehr Menschen und Gruppen kritisch gesehen wird  (der historische Bezug von Herrn Wipf blendet übrigens aus, dass auch aus dem in dieser Hinsicht gänzlich unbelasteten und höchst diskussionsfreudigen England einige dutzend Menschen bislang zum Sterben in die Schweiz gefahren sind…).

Die neue Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die viel gelobte Frau Käßmann, hat die Worte ihres schweizer Kollegen zum Anlaß genommen, sich auch mit dem Thema Sterbehilfe zu befassen. Schon Ihre Wahrnehmung der Äußerung von Wipf erscheint bemerkenswert. Wir erinnern uns: Wipf hatte sich Gedanken über angeblich Denk-und Frageverbote gemacht. Bei Käßmann wird daraus in einem Deutschlandfunk-Interview:

Käßmann: Es gab ja ein Grußwort des Schweizer Kirchenpräsidenten, der gesagt hat, vielleicht seid ihr in Deutschland aufgrund euerer Vergangenheit in eueren Kirchen so rigoros im Denken, dass Menschen nun in die Schweiz kommen, denkt darüber noch einmal nach.

Und dann denkt die neue EKD-Ratsvorsitzende auf die, schon bekannte, indirekt das Ziel anvisierende und stets ein „so habe ich das gar nicht gemeint“ parat haltende Art:

Daran habe ich angeknüpft. Ich finde schon, wir müssen diesen Wunsch hören nach einem selbstbestimmten Tod. Ich bin gegen aktive Sterbehilfe, das will ich ganz klar sagen, aber noch einmal fragen, wie wir Menschen besser ermutigen können, ihren eigenen Tod zu bedenken, und dass Patientenverfügungen jetzt mit dem neuen Recht auch wahrgenommen werden. Ich finde, wir sollten das nicht so scharf ablehnen als Evangelische Kirche.

Nun hat die Evangelische Kirche Patientenverfügungen bislang gar nicht „so scharf“ abgelehnt und auch sonst das Thema „Sterbebegleitung“ nicht umschifft oder gar Menschen entmutig, „den eigenen Tod (zu)  bedenken“: Die „Woche für das Leben“ 2004 stand beispielsweise ganz im Zeichen eines Einsatzes für Palliativmedizin, ehrenamtliches Engagement in Hospizen und menschenwürdiges Sterben, die Evangelische Kirche empfiehlt auch eine „Christliche Patientenverfügung“ (die meines Erachtens wie alle formularmäßigen Verfügungen ihre Tücken hat). Allerdings hat die Evangelische Kirche in der Vergangenheit eine kritische Position zu dem jetzt Gesetz gewordenen Entwurf  des ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten Stünker vertreten: Einerseits würde darin die Position des Bevollmächtigten nicht ausreichend gestärkt, andererseits fehle eine sogenannte Reichweitenbegrenzung. Käßmann will diese Position offenbar relativieren – und möglicherweise noch weiter gehen, wenn sie betont, dass Palliativmedizin „sehr oft dazu führen kann, dass der Tod vorzeitig eintritt“ und das respektiert werden müsste:

Käßmann: Natürlich stehe ich für das Leben ein, aber ganz klar und ich habe auch ganz klar eben gesagt, das wiederhole ich noch mal, dass ich absolut gegen aktive Sterbehilfe bin. Aber Menschen zu begleiten auf ihrem Weg ins Sterben, passive Sterbehilfe zu leisten, zu wissen, dass Palliativmedizin, also schmerzlindernde Medizin sehr oft auch dazu führen kann, dass der Tod vorzeitig eintritt, wenn es auf das Sterben schon zugeht, ich finde, wir müssen respektieren, dass Menschen das für sich selbst entscheiden wollen.

Die Käßmann’sche Position ist irritierend, weil sie zwei Dinge miteinander verknüpft, die nichts miteinander zu tun haben: bewußte Verkürzung des Lebens und palliativmedizinische Behandlung. Wer beides in so engen Zusammenhang miteinander bringt, muss sich fragen (lassen), warum er oder sie das tut – und worum es tatsächlich in erster Linie geht: darum, die Möglichkeiten Leben gezielt zu verkürzen zu stärken oder um die Verbesserung der Möglichkeiten palliativmedizinischer Behandlung. Tatsächlich spricht gegenwärtig nämlich viel dafür, dass eine kunstgerechte palliativmedizinische Behandlung  das Leben eher verlängert, als verkürzt, weil sie den Körper entlastet, die Lebensqualität erhöht und damit auch Kräfte mobilisiert. Definitiv lebensverkürzend sind dagegen Maßnahmen, die mit Palliativmedizin nichts zu tun haben, die man aber auch überwiegend nicht als die von Bischöfin Käßmann abgelehnte „aktive Sterbehilfe“ qualifizieren wird:  Abbruch der Sondenernährung bei Wachkoma-Patienten, gezielte – und so nicht indizierte – Überdosierungen von Schmerzmitteln in der Onkologie, Unterlassen von Antibiotikabehandlungen bei Lungenentzündungen dementer Patienten…..

Bischöfin Käßmann hat in dem Deutschlandfunk-Interview nicht vertreten, dass sie diese Maßnahmen befürwortet – und mit ihrer, allerdings nicht näher erläuterten Ablehnung „aktiver Sterbehilfe“ hat sie sich ein Rückzugstor weit offen gehalten, sie wird ihre derzeit ziemlich wabernde Position aber erklären müssen, die sich dadurch auszeichnet, dass sie jetzt, nach Verabschiedung des Gesetzes über Patientenverfügungen das Thema Sterbehilfe prominent in die Debatte bringt und die gegenwärtig ansonsten nur darin klar ist, dass sie ein Feindbild attackiert, das es materialisiert in der Wirklichkeit gar nicht gibt… ob das die Evangelische Kirche ernstlich voranbringt mag man allerdings bezweifeln.  

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