Biopolitik

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Dieses Blog ist geschlossen. Es ist als Archiv über die biopolitische Debatte 2008 bis 2012 hier weiter einzusehen. Aktuelle Entwicklungen zum Thema

Bitten oder Rechte einfordern? Palliativmedizin und Krankenkassen

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Es gibt Meldungen, die klingen schön, aber als gute Nachrichten kann man sie nicht wirklich auffassen. Das ist so ein Satz: „Der...

Es gibt Meldungen, die klingen schön, aber als gute Nachrichten kann man sie nicht wirklich auffassen. Das ist so ein Satz: „Der Bundestags-Petitionsausschuss hat die Krankenkassen zum Aufbau einer flächendeckenden ambulanten Palliativversorgung aufgefordert. Diese soll die Begleitung sterbenskranker Menschen verbessern.“ Was, frage ich mich, hat der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages damit zu schaffen? Die Versicherten müssen nicht bitten und betteln. Sie haben im SGB V einen Leistungsanspruch auf spoezialisierte ambulante Palliativversorgung erhalten. Die nicht ganz so spezialisierte ambulante Palliativversorgung gehört schon länger zum Leistungsumfang. Die Krankenkassen haben im SGB V auch einen Sicherstellungsauftrag: Sie müssen dafür Sorge tragen, dass die Leistungen auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Dass sie den Sicherstellungsauftrag gerade in Hinsicht auf die palliativmedizinische Versorgung sträflich vernachlässigen stimmt. Nur: Wieso soll man deswegen ein bißchen freundlich betteln? Der Bundestag ist Gesetzgeber. Im Bundestag vertreten sind die Parteien, die die Regierung stellen. Es gibt einen Gesundheitsausschuss und einen Gesundheitsminister – das sind die richtigen Akteure, die die Kassen scharf antreiben müssen. Nicht mit guten Worten, die hier offensichtlich nicht helfen, sondern mit Drohungen und Sanktionen – Leistungen vorzuenthalten, die dringend benötigt werden und auf die es einen Anspruch gibt ist keine Bagatelle und schon gar kein Kavaliersdelikt (naja, zumindest nicht, wenn man einen positiven Kavaliersbegriff hat…).

Das musste mal gesagt werden. Es wurde auch gelegentlich schon mal gesagt. Und keineswegs nur von mir. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat dazu entschieden (und das ist auch schon wieder über ein Jahr her):

„Ein Versicherter kann nicht im Wege der einstweiligen Anordnung einer Krankenkasse auferlegen, unverzüglich einen Versorgungsvertrag nach § 132d SGB 5 zur inhaltlichen Konkretisierung der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) nach § 37b Abs 1 SGB 5 mit den Leistungserbringern abzuschließen.“ (LSG Nordrhein-Westfalen L 16 B 15/09 KR ER)

Das war nicht überraschend, aber enttäuschend, denn die gegenteilige Entscheidung hätte Leben ins Gesundheitssystem gebracxht – es wäre zu interessant und unterhaltsam geworden,  den Krankenkassen dabei zuzusehen, wie sie zwangsverhandeln müssen. Immerhin hatte das LSG aber auch ein Einsehen mit den Patienten, die allerdings wenn sie schon spezialisierte Palliativversorgung benötigen, kaum noch Energeien haben werden auch noch den Rechtsweg einzuschlagen…

Die Durchsetzung seiner Ansprüche kann der Versicherte individualrechtlich nur im Rahmen des § 13 Abs 3 SGB 5 geltend machen.“

Erstattungsansprüche soll es also weiterhin geben…..

Aber das stört die Kassen leider kaum – die auch damit nicht gerade dazu beitragen, die an sich gute Idee der Sozialversicherung im Sinne der Versicherten überzeugend mit Leben zu erfüllen. Für Organisationssoziologen ein interessantes Feld: Wie koppelt sich eine Service-Instititution von ihrer Zielgruppe ab und entscheidet zusehends nur noch entlang den internen Eigeninteressen….. Warum die Politik das durchgehen lässt ist damit allerdings noch nicht geklärt. Dabei sind wir doch alle, irgendwie Patienten – allerdings nicht immer der Gesetzlichen Krankenversicherung.

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4 Lesermeinungen

  1. Ich bin ein juristischer Laie...
    Ich bin ein juristischer Laie und versuche manchmal, das durch meine Kenntnisse der klassischen Sprachen Latein und Griechisch zu kompensieren, was mir nur in bescheidendem Ausmaße gelingt, so dass ich jetzt als Fragender (um Antwort Bittender, Bettler?) auftreten muss.
    Stichwort: Petitionsausschuss. Darin steckt der lateinische Begriff „petitio“, der „Bitten, Bitte“, aber auch „Fordern, Forderung“ bedeuten kann. Zwischen „Bitten“ und „Fordern“ besteht aber ein Unterschied, der nicht nur die Juristen, sondern auch die Psychologen angeht. Wer um etwas bittet, fühlt sich sicher oft mit gutem Grund als Bittsteller, Bettler, was schlecht für seinen Stolz, sein Selbstwertgefühl ist. Anders der Fordernde, der etwas verlangt, was ihm zusteht. Habe ich eine Autounfallversicherung abgeschlossen und immer brav meine Beiträge bezahlt und passiert mir ein Unfall, erwarte ich von der Versicherung, dass sie für den Schaden aufkommt und fühle mich nicht als Bettler, sondern eher als ihr Gläubiger, dem die Versicherung etwas schuldet. Und der Status Gläubiger ist doch besser für meinen Stolz als der des Bittstellers!
    Wie ist das nun mit dem „Petitions“ausschuss des Deutschen Bundestages? Wer sich an ihn wendet, ist das ein Bettler, oder ein Gläubiger? Und würden Sie, Herr Tolmein, die Formulierung billigen, der Status eines Patienten gleicht dem eines Gläubigers, während die Krankenkasse der Schuldner ist? Worauf ich hinaus will: Sollte ich einmal ein hilfloser Patient sein, würde ich mich natürlich lieber als Gläubiger denn als Bettler fühlen. Aber geht das grenzenlos? Unsere res publica ist doch jetzt schon so hoch verschuldet!

  2. thomas sitte sagt:

    ... aber immerhin, meine...
    … aber immerhin, meine Petition „damals“ wurde ja – was die Anzahl der Zeichnungen anging – ein völliger Fehlschlag. Erstaunlich, weil die Unterstützung doch sehr groß war. So habe ich nicht erwartet, dass sie vom Petitionsauschuss nach gut einem Jahr doch noch empfohlen wird. Einiges hat sich geändert seither. Manches ist auch besser geworden, tatsächlich. Aber viele Fragen und Probleme sind neu aufgetreten. Wenn ich dem Bundestag davon berichten dürfte, wäre es sicherlich spannend für alle Seiten.
    Herzlichst
    Thomas Sitte
    IG-SAPV
    Deutsche PalliativStiftung

  3. tolmein sagt:

    @Wengel: offensichtlich haben...
    @Wengel: offensichtlich haben Sie bessere Erinnerungen an Ihren Lateinunterricht als ich… dafür habe ich Jura studiert, was mir an sich aber auch nicht viel weiterhelfen würde (allenfalls vielleicht hinsichtlich der genauen rechtlichen Lokalisierung der Aufgaben des Petitionsausschusses), weil Sozialrecht damals niemanden wirklich interessiert hat. Mittlerweile habe ich allerdings viel mit Krankenversicherungsrecht zu tun – und in die Antwort lautet ganz allgemein: jaja, neinein. Im Fall der Palliativversorgung allerdings ist es ganz eindeutig: Sie haben als Patient einen Rechtsanspruch und können sich mithin als Gläubiger fühlen. Ihre Sorgen um die Staatsverschuldung sind in diesem Zusammenhang dennoch unbegründet, denn grundsätzlich gewährt Ihnen das SGB V nur was wirtschaftlich und zweckmäßig ist, nicht mehr. Die Vorstellung vieler Patienten, sie hätten Anspruch auf eine (teure) optimal Therapie geht ins Leere…

  4. Lutz Barth sagt:

    Überzeugendes Statement des...
    Überzeugendes Statement des Kollegen O. Tolmein, denn bei allem dürfen wir nicht vergessen, dass die SAPV in erster Linie ins „Leben“ gerufen wurde, um ein würdevolles „Sterben“ in der vielfach gewünschten häuslichen Umgebung zu ermöglichen. Und in der Tat: Das „Systemversagen“ ist nicht länger hinnehmbar, zumal wohl weniger das „System“ als solches versagt, sondern vielmehr die Kassen, die sich mehr als schwer tun, entsprechende Verträge abzuschließen. In diesem Sinne dürfte es durchaus peinlich sein, dass der Petitionsausschuss sich gehalten sieht, die politisch Verantwortlichen anzumahnen, entsprechenden „Druck“ auszuüben. Das LSG NRW hingegen konnte m.E. bei der derzeitigen Rechtslage nicht anders entscheiden, auch wenn man/frau sich eine andere Entscheidung gewünscht hätte.
    Aber immerhin: Der Berichterstattung des G-BA über die Umsetzung der SAPV-Richtlinie für das Jahr 2009 können wir entnehmen, dass die Kassen in der Mehrheit wohl auch zur Einsicht gelangen, dass mit dem bisherigen Stand der Verträge eine ausreichende Versorgung der Versicherten nicht erreicht wird (S. 11). Nun – dann sollten dieser Erkenntnis entsprechende Taten folgen, wobei aus der Sicht der Kassen die Probleme zumeist wohl bei den Leistungserbringern verortet zu sein scheinen, die die geforderten Voraussetzungen nicht erfüllen – so jedenfalls die Sicht der Kassen. Ob allerdings der G-BA mit seiner ersten Einschätzung richtig liegt, wonach zunächst noch eine (vornehme) Zurückhaltung bei weitergehenden Schlussfolgerungen trotz eines mäßigen Versorgungsgeschehens zu üben sei (S. 20), würde ich doch eher bezweifeln wollen. Wir sollten es da lieber mit O. Tolmein halten und ggf. entsprechenden „Druck“ aufbauen, denn in der Tat handelt es sich hier nicht um „Kavaliersdelikt“!

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