Biopolitik

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US-Gerichte verhandeln Medizinversuche an nigerianischen Kindern

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Für den Pharmakonzern Pfizer ist es „eine beispiellose Ausweitung internationalen Rechts", für die 88 klagenden nigerianischen Familien öffnet die am...

Für den Pharmakonzern Pfizer ist es „eine beispiellose Ausweitung internationalen Rechts“, für die 88 klagenden nigerianischen Familien öffnet die am 29. Juni 2010  ergangene Entscheidung des us-amerikanischen Obersten Gerichtshofes eine Tür, angemessene Entschädigungen für ein, so ihre Darstellung, schweres Medizinverbrechen zu erhalten.

Anlass des Rechtsstreits sind 1996 durchgeführte klinische Tests mit Trovan, einem Antibiotikum, an mehr als 200 Kinder in Nigeria. Die Versuche wurden während einer Meningitis-Epidemie durchgeführt in deren Verlauf 12.000 Kinder starben. Während Pfizer die Testreihen an Kindern deswegen als eine Art humanitäre Hilfe darstellt, lassen die Opfer anklingen, dass Pfizer die verzweifelte Suche nach wirksamen Mitteln während der Epidemie als günstige Gelegenheit für einen großen Feldversuch ausgenutzt zu haben. Denn bis dahin hatte es keinerlei Tests mit Trovan an Kindern gegeben und Tierversuchen hatten bereits ergeben, dass Trovan lebensbedrohliche Nebenwirkungen hatte. Von den Kindern, die mit Trovan behandelt wurden starben elf, die meisten anderen erlitten erhebliche und dauerhafte Schädigungen. Insgesamt prozessieren derzeit Angehörige von 192 Kindern gegen den Pharmakonzern.

Die Angehörigen der gestorbenen Kinder attackieren Pfizer, weil der Konzern sie weder ausreichend über die Risiken von Trovan informiert habe, noch über die Möglichkeit einer konventionellen Alternativ-Therapie, die „Ärzte ohne Grenzen“ in diesem Zeitraum anbot, außerdem hätten sie als Eltern keine Einwilligung in die experimentelle Arzneimitteltherapie gegeben. Pfizer bestreitet das und behauptet, die Eltern hätten mündlich eingewilligt – ein irritierendes Vorbringen, denn eine mündliche Einwilligung ist gerade in einem so sensiblen Bereich wie Arzneimittelstudien an Kindern nicht akzeptabel und zudem kaum beweisbar.

Pfizer hat in Nigeria selbst, im Bundesstaat Kano, letztes Jahr eine außergerichtliche Einigung erzielt, die weitere Zivil- und Strafprozesse vor nigerianischen Gerichten verhindern soll. Pfizer hat sich dafür verpflichtet, 75 Millionen Dollar zu zahlen von denen 35 Millionen direkt an die Familien der verletzten Kinder gehen sollen. Um festzustellen, wer anspruchsberechtigt ist, hat Pfizer aber offenbar darauf bestanden, dass an den Kindern Gentests durchgeführt werden sollen. Dagegen haben die Eltern scharf protestiert. Sie haben versucht, vor us-amerikanische Gerichte ziehen zu können. Dagegen hat Pfizer, wie sich nun zeigt: erfolglos, opponiert.

Rechtsgrundlage für die Sammelklage ist der Alien Tort Claims Act von 1789, der bei schweren Verstößen gegen internationales und US-Recht die us-amerikanische Jurisdiktion weltweit ausdehnt. Während ein US-Bezirksgericht erstinstanzlich keine Möglichkeit sah, den Alien Tort Claims Act anzuwenden, weil es keine verbindlichen und konkreten internationalen Rechtsnormen gäbe, gegen die Pfizer verstoßen haben könnte, hat der United States Court of Appeals for the Second Circuit das in einer 2:1 Entscheidung anders gesehen. Unter Verweis auf den Nürnberger Ärztekodex, die Erklärung von Helsinki und das Übereinkommen des Europarates über Menschenrechte und Biomedizin, sowie die Erklärung der UNESCO von 2005 über Menschenrechte und Biomedizin wird die freiwillige Einwilligung auf Basis einer umfassenden Information über Krankheit und Behandlungsmöglichkeiten als zwingendes und allgemein anerkanntes internationales Recht bewertet. Ein Verstoß dagegen stellt demnach einen Verstoß gegen Völkergewohnheitsrecht dar, der unter dem Alien Tort Claims Act vor us-amerikanischen Gerichten verhandelt werden kann.

Gegen diese Entscheidung hat Pfizer vor dem Supreme Court der Vereinigten Staaten Beschwerde eingelegt, die jetzt, nachdem auch die Generalstaatsanwaltschaft sich ablehnend geäußert hat, nicht zur Entscheidung angenommen worden ist. 

Für Pfizer kann der sich nun anschließende Prozess nicht nur ausgesprochen teuer, sondern auch höchst imageschädigend werden. Mindestens genauso wichtig ist allerdings, dass mit Blick auf diese Rechtsprechung, die grundlegende Standards des Nürnberger Ärztekodex und andere medizinethische Grundsätze als geltendes Völkergewohnheitsrecht anerkennt, auch Verfahren gegen andere Pharmaunternehmen, die klinische Versuche in afrikanischen und lateinamerikanischen oder asiatischen Ländern durchführen, in denen sie sich niedrigere Kontrollstandards erhoffen, ermöglicht. Die Globalisierung des US-Haftungs- und Entschädigungsrechts könnte so die Folgen der ökonomischen Globalisierung zumindest etwas abfedern.

 

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1 Lesermeinung

  1. Alexander B. sagt:

    So lange der Fortschritt ein...
    So lange der Fortschritt ein gewisses Maß an Profitabiliät verspricht sinken die ethischen / moralischen Grenzen anscheinend dauerhaft. Es wäre sicherlich klüger langfristig die klinischen Studien nur noch in „überprüfbaren / kontrollierbaren“ Ländern durchzuführen. Damit können langfristig die Qualität der Studien gesteigert werden und sichergestellt werden, daß gezielt Personen übervorteilt weden.

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