Eine bemerkenswerte parlamentarische Koalition hat sich im Luzerner Kantonsrat zusammengefunden, um gegen kosmetische Genitaloperationen an intersexuellen Kindern Stellung zu beziehen. Auf Initiative einer konservativen Abgeordneten der CVP unterstützen vor allem Parlamentarierinnen, aber auch einige Männer, von SP, Grünen, FDP und CVP und selbst ein Abgeordneter der stark rechts orientierten Schweizer Volkspartei eine Anfrage, die sich kritisch mit der gegenwärtigen chirurgischen Behandlungspraxis auseinandersetzt. In der von einem Viertel der 120 Abgeordneten unterzeichneten – und insoweit beispiellosen- Anfrage heißt es:
„Ohne ihre Einwilligung werden sie meistens im Kindesalter an ihren intersexuellen Genitalien operiert und dabei, der chirurgischen Einfachheit halber, meistens zu Mädchen gemacht. Dabei wird in Kauf genommen, dass ihr sexuelles Empfinden vermindert oder zerstört wird. Diesen Operationen liegen keine medizinischen Indikationen zugrunde, es handelt sich um rein kosmetische Eingriffe. Zusätzlich, so sagt man mir, werden viele ohne ihre Einwilligung kastriert, das heisst, es werden ihnen die in der Regel gesunden, Hormon produzierenden inneren Geschlechtsorgane entfernt, was eine lebenslange Substitution mit körperfremden Hormonen zur Folge hat. Auch diese Kastrationen hätten meistens keine medizinische Indikation, sondern dienten lediglich der „Vereinheitlichung“. Die Folgen dieser lediglich auf das zugewiesene Geschlecht ausgerichteten Hormonersatztherapien sind unter anderem Depressionen, Adipositas, Stoffwechsel- und Kreislaufstörungen, Osteoporose, Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten und Libidoverlust. Wollen betroffene Menschen auf eine adäquatere Hormonersatztherapie wechseln, weigert sich die Krankenkasse, die Kosten zu übernehmen. Die betroffenen Menschen und oft auch ihre Eltern werden über ihre Besonderheit und die an ihnen vorgenommenen Eingriffe schlecht informiert, um ihnen ihr wahres Geschlecht zu verheimlichen. Die meisten Opfer dieser Praxis tragen massive psychische und physische Schäden davon, unter denen sie ein Leben lang leiden.“
Die Anfrage, die nicht nur nach kosmetisch-chirurgischen, die Betroffenen oft traumatisierenden Eingriffen fragt, sondern auch nach pränatalen Hormontherapien mit Dexamethason, befasst sich auch mit den Möglichkeiten psychologischer Begleitung intersexueller Kinder und ihrer Eltern.
Behandlungen wie in der Schweiz sind auch in Deutschland üblich. Auch hier hat es vereinzelt bereits parlamentarische Anfragen gegeben, die aber, wie zuletzt 2009 im Bundestag durch die Fraktion Die Linke stets Angelegenheit einzelner Fraktionen geblieben sind. Diese Anfrage wurde 2009 durch die Bundesregierung beantwortet, wobei -was allerdings für Antworten auf Anfragen nicht untypisch ist – versucht wurde, den Fragen möglichst auszuweichen, insgesamt aber das Desinteresse an der spezifischen und grundlegenden Diskriminierung intersexueller Menschendeutlich wurde:
„Spezifische Aufklärungsarbeiten über die Existenz intersexueller Menschen hält die Bundesregierung zurzeit nicht für erforderlich. Im Übrigen stellt das Ausbildungsziel der modernen Heilberufsgesetze wie z. B. in der Krankenpflege darauf ab, dass die pflegerische Ausbildung auch dazu qualifizieren soll, bei der beruflichen Tätigkeit „die unterschiedlichen Pflege- und Lebenssituationen sowie Lebensphasen und die Selbständigkeit und Selbstbestimmung der Menschen zu berücksichtigen“. Bei der Novellierung von älteren Heilberufsgesetzen werden entsprechende Vorgaben ebenfalls aufgenommen. Es sollte in der Ausbildung aber ohnehin selbstverständlich sein, die Patientinnen und Patienten in ihrer jeweiligen Individualität zu sehen und zu behandeln.“
Der Stand der medizinischen Praxis, die sich von der gesellschaftlichen Debatte auffällig unterscheidet, ist in den Behandlungsleitlinien „Störungen der Geschlechtsentwicklung“ der „Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin“ nachzulesen (schon die Terminologie signalisiert, dass eine Bereitschaft, auch andere Geschlechter als männlich oder weiblich anzuerkennen nicht besteht). Dort wird zwar auf die „derzeit“ kontroverse Diskussion zu chirurgischen Behandlungen kurz hingewiesen, es wird auch zu Zurückhaltung ermahnt, die „chirurgische Therapie“ nimmt aber dennoch breiten Raum ein und selbst die verharmlosend „Klitorisreduktion“ genannte Genitalverstümmelung wird als Behandlungsoption eröffnet:
„Das AGS- Konsensusstatement empfiehlt eine frühzeitige einzeitige Operation (2. – 6. Lebensmonat), mit Vagino- und Labienplastik unter der Anwendung der schonensten neuesten Operationstechniken. Die Notwendigkeit einer Klitorisreduktionsplastik sollte genau überdacht werden. Es wird bei fehlenden medizinischen Komplikationen davon abgeraten, operative Maßnahmen nach dem 12. Lebensmonat bis zur Adoleszenz durchzuführen und insbesondere auf vaginale Dilatationen zu verzichten. Im Gegensatz zum AGS ist bei 46,XY DSD und Entscheidung für das weibliche Geschlecht bezüglich einer frühzeitigen feminisierenden Operation eher Zurückhaltung geboten. Insbesondere die Indikation zur Klitorisreduktionsplastik bei einer Feminisierungsoperation sollte zurückhaltend gestellt werden, da eine etwas vergrößerte Klitoris der weiblichen Selbstakzeptanz nicht im Wege steht [Kommentar der XY-Elterngruppe].“
Gegen diese Behandlungspraxis gibt es in derSchweiz und Deutschland regelmäßig Proteste von Betroffenengruppen,zuletzt Anfang November anläßlich der 5. Gemeinsamen Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaften für Pädiatrische Endokrinologie und Pädiatrische Diabetologie.
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Musste jedoch schmunzeln ob der ausgedrückten Verwunderung, dass „selbst ein Abgeordneter der stark rechts orientierten Schweizer Volkspartei“ die Anfrage unterzeichnete.
Ohne mich hier mit dem Parteiprogramm der SVP (oder sonst einer Partei) identifizieren zu wollen: Weder in der Schweiz noch in Deutschland oder Österreich hat soweit mir bekannt irgendeine gewählte Partei Genitalverstümmelungen an wehrlosen Kindern unter ihren Zielen oder heisst sowas nur schon entfernt gut (wäre auch auch glatter politischer Selbstmord). Und den allerallermeisten PolitikerInnen quer durch alle Parteien nehm ich sogar ab, dass sie sowas wirklich daneben finden (und nicht nur gespielt um Stimmen zu generieren).
Deshalb ist es auch so wichtig, das Problem der Genitalverstümmelungen in den Kindernderkliniken dezidiert ALS SOLCHES unverblümt politisch anzusprechen: Dann kann keinE an Wiederwahl denkendeR PolitikerIn sich für solche medizinisch nicht notwendigen Genital-OPs aussprechen – und die tagtäglichen Verstümmelungen vor unserer Haustüre könnten endlich beendet und gesetzlich verboten werden wie weibliche Genitalverstümmelung und sexualisierte Gewalt an Kindern auch!
Ganz anders sieht’s leider aus, wenn die Genitalverstümmelungen für „Schwulenanliegen“ instrumentalisiert werden wie z.B. aktuell von LSVD & Co. im deutschen Bundestag, wo seit Jahr und Tag wöchentlich über „Intersexuelle“ gelabert wird, es in der Sache dann aber ausschliesslich um „sexuelle Identität“ a.k.a. volle Renten für gleichgeschlechtliche LebenspartnerInnen geht (an sich ja eine legitime Forderung – zumindest, solange sie nicht auf Kosten Schwächerer wie z.B. wehrloser kleiner Kinder durchgesetzt werden soll).
https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2010/06/30/Zwitter-Vereinnahmung-im-Bundestag%3A-Business-as-usual-(II)
Auf diese Weise werden die Zwitter gnadenlos politisch verheizt, und wie oben im Artikel antizipiert, ist unter diesem Vorzeichen ihr Kampf gegen die Verstümmelungen in den hiesigen Kinderkliniken realpolitisch auf Jahrzehnte hinaus von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil unter diesem Etikettenschwindel alle auch nur entfernt Konservativen dann eh von Anfang an dagegen sind, noch bevor jemand ausreden kann, worum’s im vorliegenden Fall konkret überhaupt geht, nämlich um die Unversehrtheit von schutz- und wehrlosen Kindern.
Den entsprechenden selbstherrlichen LGB(T)-PolitikerInnen, die seit Jahr und Tag diesen vereinnahmenden Etikettenschwindel auf Kosten kleiner Zwitterkinder betreiben und ebensolange nach altbekannter Masche die Verstümmelungen in den hiesigen Kliniken als blossen „Nebenwiderspruch des Zweigeschlechtersystems“ abtun, und den Zwittern noch zynisch bedeuten, sie sollen gescheiter „gegen die Heteronormativität“ kämpfen statt gegen Genitalverstümmelungen und für ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit, klebt das Blut von Generationen unnötig verstümmelter Kinder an den Händen – allein in deutschen Kinderkliniken JEDEN TAG MINDESTENS EINES, und in Österreich und in der Schweiz JEDE WOCHE noch mindestens JE EINES MEHR. Wie lange noch?!