Biopolitik

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Deutschland in Straßburg verklagt – Menschenrecht auf Suizid?

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Hätte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte einer schwerbehinderten Frau ermöglichen müssen, sich 15 mg Natriumpentobarbital zu...

Hätte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte einer schwerbehinderten Frau ermöglichen müssen, sich 15 mg Natriumpentobarbital zu beschaffen, damit sie Suizid begehen kann? Und hätte ihr hinterbliebener Mann das Recht haben müssen, den Rechtsstreit seiner Frau über ihren Suizid hinaus, den sie mit Hilfe von Dignitas in der Schweiz verübte, fortzuführen? Der tragische Fall der Familie Koch hat in Deutschland schon alle Instanzgerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit und das Bundesverfassungsgericht (Nichtannahmebeschluss vom 4. November 2008, Az.: 1 BvR 1832/07) beschäftigt – mit immer dem gleichen Ergebnis: der querschittgelähmten, künstlich beatmeten Frau stand kein Anspruch auf ein tödlich wirkendes Medikament zu und der Mann war nicht befugt, den Rechtsstreit um das vermeintliche Recht seiner Frau fortzuführen. Heute (Dienstag 23. November 2010) verhandelt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nun den Rechtsstreit Koch ./. Bundesrepublik Deutschland erneut. Auch wenn der Tod die Eheleute geschieden hat sind sie so über den Suizid der Frau hinaus doch denkbar eng verbunden.

Dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Fall zur mündlichen Verhandlung angenommen hat, ist für den Witwer sicher ein Erfolg, seine Chance den Prozess zu gewinnen ist dennoch denkbar schlecht: auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dürfte Schwierigkeiten haben, hier eine Klagebefugnis des hinterbliebenen Ehemannes auszumachen, denn es geht nicht um seine Recht auf einen selbstgewählten Tod. Die Konstruktion, dass sein eigenes Recht auf Privatheit und Familienleben dadurch beeinträchtigt worden sei, dass er gezwungen war, seine Frau zum Suizid in die Schweiz zu begleiten, erscheint auch mit Blick auf Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention eher fernliegend. Selbst wenn man der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aber dem hinterbliebenen Ehemann eine Klagebefugnis zusprechen sollte, weil er vielleicht  anders als das Bundesverfassungsgericht davon ausgeht, dass es zumindest möglich sein muss, eine vermeintliche Verletzung der Menschenwürde durch eine solche Versagung der Möglichkeit Suizid zu beghene, auch postmortal feststellen zu lassen, ist nicht anzunehmen, dass die Straßburger Richter das deutsche Betäubungsmittelrecht als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention qualifizieren würden, weil es die Abgabe von Betäubungsmitteln zum Zweck des Suizids ausschließt. Die Rechtsprechung des Straßburger Gerichts im Verfahren der Engländerin Diane Pretty, die versucht hatte gegen das bestehende englische Recht ein Recht auf Hilfe beim Suizid einzuklagen, war eindeutig und wird in der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln in diesem Streitfall zutreffend so wiedergegeben:

„Der EGMR hat es bislang offen gelassen, ob der Schutzbereich des durch Artikel 8 Abs. 1 EMRK geschützten Privatlebens das Recht umfasst, das eigene, als unwürdig und qualvoll empfundene Weiterleben durch Selbsttötung zu beenden. Zugleich hat er aber betont, dass das Grundrecht des Artikel 8 Abs. 1 EMRK nicht schrankenlos gewährt wird, sondern den Einschränkungen des Absatzes 2 dieser Vorschrift unterliegt. Nach dieser Regelung ist ein Eingriff in die durch Absatz 1 geschützten Rechte etwa dann statthaft, wenn dieser gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der Gesundheit oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. So liegt der Fall hier. Das grundsätzliche Verbot des Erwerbs von Betäubungsmitteln ist gesetzlich im Betäubungsgmittelgesetz vorgesehen, dient dem Schutze der Gesundheit und des Lebens und damit auch der Rechte anderer. Es ist auch als verhältnismäßig anzusehen. Im Rahmen der Einschränkungen von Grundrechten des Artikel 8 Abs. 1 EMRK steht dem nationalen Gesetzgeber ein weiter Beurteilungsspielraum zu, etwa die Gefahr und Wahrscheinlichkeit von Missbräuchen zu beurteilen.“ (VG Köln vom 21.2.2006,Az.: 7 K 2040/05)

Demnächst mehr dazu!

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5 Lesermeinungen

  1. Lutz Barth sagt:

    Da mag man/frau wohl dem...
    Da mag man/frau wohl dem Kollegen Tolmein zustimmen können; eine „bahnbrechende Entscheidung“ wird auch vom EGMR nicht zu erwarten sein und da erscheint es sinnvoller, hierzulande eine offene Diskussion über die Suizidwünsche schwersterkrankter und sterbender Menschen zu führen, die allerdings neuerdings mit einem „Tabu“ besonderer Art belegt wird: Führende Palliativmediziner „flüchten“ in eine Charta, die von einem breiten Konsens getragen wird und so gesehen wird aus einer „Selbstverpflichtung“ ein moralischer und ethischer Konsens generiert, dem sich auf Dauer Querdenker nicht entziehen können.
    In diesem Sinne bleibt also „nur“ der Appell an den Gesetzgeber, seinen „Beurteilungsspielraum“ zu nutzen und auch seine grundrechtlichen Schutzpflichten auf die Gruppe derjenigen Patienten auszudehnen, die dem individuellen Leid entfliehen wollen, aber letztlich zur Tatausführung nicht imstande sind. Dies deshalb, weil namhafte Palliativmediziner es verstanden haben, neben der medizinischen Indikation über die ärztlichen Indikation hinaus auch die „heilige“ resp. ethische Indikation/Implikation salonfähig gemacht zu haben, mit der das Selbstbestimmungsrecht in einer bedeutsamen Frage am Lebensende auf Null reduziert wurde: Immerhin werden die Suizidwilligen nicht nur weitestgehend pathologisiert, sondern auch als egozentrische Individualisten „gebrandmarkt“ und das Selbstbestimmungsrecht wird mit moralischen Pflichten versehen, die ein selbstbestimmtes Sterben letztlich zur Farce werden lässt.
    Auch dazu werden wir sicherlich „demnächst“ mehr hören – spätestens dann, wenn die Initiatoren der Charta die Öffentlichkeit davon überzeugt hat, die „Segnungen“ der Palliativmedizin um ihrer selbst, aber auch der Gesellschaft willen anzunehmen, so dass keiner der schwersterkrankten und sterbenden Menschen auf die Idee verfallen würde, sich selbst „entleiben“ zu wollen.

  2. ThorHa sagt:

    Hmmmm, was macht der Beitrag...
    Hmmmm, was macht der Beitrag eigentlich unter „Biopolitik“? Er fällt eher in die schleichend, aber fortlaufend, grösser werdende Kategorie der „Politikablösung durch Verrechtlichung“. In der sogenannte Demokraten fehlende Mehrheiten auf dem Rechtsweg gerichtserstreiten lassen. Um so ihren kleinen Teil zur Unterspülung der Grundlagen demokratisch verfasster Staaten beizutragen.

  3. Mitleser sagt:

    Sie sind sicher ein Held, der...
    Sie sind sicher ein Held, der in einer vergleichbaren Situation wie die Frau sich gerne von Borasio oder seinen Jüngern erst einmal nur ins halbe Jenseits spritzen lassen will.
    https://www.faz.net/s/Rub594835B672714A1DB1A121534F010EE1/Doc~EF752B7F9733A4D4483E3C5E48A30D31F~ATpl~Ecommon~Scontent.html

  4. Dem Schreiber von ThorHa kann...
    Dem Schreiber von ThorHa kann ich nur zustimmen. Es beschleicht mich ein ungutes Gefühl, wenn ich an die vielen Gerichtsurteile denkt, die die Rechtslage gekippt haben. wo gesetzliche Regelungen außer Kraft gesetzt wurden, die durch ordentliche demokratische Verfahren zustande gekommen sind. Auch ein Richter urteilt nicht absolut unabhängig, sondern ist eingebunden in seine Wertvorstellungen, die der Gesetzgebung voraus liegen. In unseren Gesetzgebungsverfahren können sich aber – bei aller Unzulänglichkeit – Gegner wie Befürworter einer gesetzlichen Regelung einbringen.

  5. Lutz Barth sagt:

    @ThorHa,...
    @ThorHa, Fischer-Gottlob:
    Verehrte Herren.
    Ihrem Statement vermag ich aus prinzipiellen Gründen nicht zustimmen können, zumal allein der Hinweis auf die parlamentarisch-repäsentative Demokratie nicht stets durchgreifend ist. Auch der Gesetzgeber ist an Recht und „Gesetz“ gebunden sowie freilich auch die gewählten Volksvertreter. Individuelle Gewissensentscheidungen resp. Wertvorstellungen sind ohne Frage möglich, wenngleich diese nicht eine an den Grundsätzen unserer Auffassung orientierende „Wertentscheidung“ ersetzt. Selbstverständlich bedarf auch der „Gesetzgeber“ der regelmäßigen Rechtskontrolle und zwar gerade in den Fällen, in dem es um fundamentale Freiheitsrechte des Staatsvolkes geht. Nicht selten haben wir es engagierten Verfassungsrechtlern zu verdanken, dass auch die durch den Gesetzgeber begangenen Grundrechtsverstöße korrigiert wurden. Das demokratische Verfahren mag zwar „ordentlich“ gewesen sein, wenngleich nicht selten der Gesetzgeber die erforderliche Sensibilität für gewichtige Freiheitsrechte in unserer pluralen Wertegemeinschaft hat vermissen lassen. Freilich soll hier auch betont werden, dass so mustergültig unsere Demokratie nun auch wieder nicht ist, zumal stets plebiszitäre Elemente geleugnet werden. Nehmen wir den Souverän ernst, dann geht vom ihm alle Staatsgewalt aus und sollte sich „nur“ darauf beschränken, turnusmäßig mal zur Wahl gehen zu dürfen.
    Gleichwohl ist der demokratische Legitimationsgedanke für individuelle und damit autonome Gewissens- und damit Wertentscheidungen zumindest dann von untergeordneter Bedeutung, sofern es dem subjektiven Grundrechtsträger gestattet ist, gerade die ihm eröffneten ethischen und moralischen Entscheidungsspielräume unbeeinflusst von einem demokratischen Konsens im Sinne einer Mehrheitsentscheidung wahrzunehmen.

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